Brandung – Martin Walser

Suhrkamp Verlag 1985 – 319 Seiten

            „Brandung“ ist der sich fortsetzende Zyklus des Alterns, der sich reihende Niedergang der Figur Helmut Halm, dem schon im Roman „Ein fliehendes Pferd“ (1978) die Lebenskräfte davonzutraben schienen. Dort wie auch in „Brandung“ blies dem Schwaben ein steter Wind von Niedergang entgegen, der auch mit Todesandeutungen nicht geizte. Halm, der mit dem Vorsatz kokettiert, chronisch verkannt zu werden, saß auf dem Bodensee 1978 noch im selben Boot mit einem demonstrativ vitalen Freund und Konkurrenten, bis dieser über Bord ging. 1985 ruft ihn ein ebenso lauter Studienfreund nach Kalifornien. Und so wie die literarische Figur Halm gealtert ist, nimmt auch die Morbidität seines Umfeldes schicksalhaft zu. Für Halm bleibt am Ende nur – und das ist schon viel wert – sich an seinen eigenen schwankenden Halm im Wind zu binden. Unterschätzt zu sein als Genugtuung. Vielleicht eine Deutung, die der Autor Walser dem Leser vorhalten möchte, damit das Leise lauter und seine schriftstellerische Landmarke dauerhaft auf den literarischen Seekarten eingetragen wird? Verdient hätte er es, denn das Werk ist eindrucksvoll.

            Da ist also wieder dieser schwäbische Oberlehrer – in kleinen Karos gestrickt, aber mit einem durchaus beflügelten Geist. Eingeengt in der Talsohle des Stuttgarter Stadtkessels, bedrängt vom missverstandenen Kollegium, tönt plötzlich der Ruf des alten Studienfreundes Mersjohann, der ihm eine Gastdozentur an der San Francisco Bay anbietet. Befreit vom Schulbeamtenmilieu ziehen er und Ehefrau Sabine samt erwachsener Tochter im Rahmen eines viermonatigen Sabbaticals in die amerikanische Fremde. Der Ab- und Aufbruch, das kalifornische Licht und die betörende Frische der Campusjugend wirken ungemein anregend auf den 55-Jährigen, dessen Ausflüge sonst auf die Magerwiesen der Schwäbischen Alb begrenzt sind.

            Ernüchternd jedoch schon bald die Begegnung mit Mersjohann, der nicht mehr der Alte ist. Zum sarkastischen Alkoholiker mutiert, reserviert er die verbleibende Kreativität für zermürbende Rituale innerhalb seiner korrodierten Ehe. Während und gerade weil Halm einen durchaus bleibenden Eindruck allseits hinterlässt, schlägt ihm schon bald Mersjohanns laut vorgetragene Ironie entgegen bis hin zum späteren Vorwurf, Halm wolle ihm die Stelle streitig machen. Auch seine scharfzüngige Sekretärin fühlt sich in ihrer Zuneigung zu Halm nicht ausreichend berücksichtigt. Fortan bilden der Chef und seine engste Mitarbeiterin ein verlässliches Team, das ausdauernd Halms Alltag untergräbt. Nicht verborgen bleibt ihnen natürlich eine attraktive Studentin, die um Halms Aufmerksamkeit buhlt. Halm ist betört von ihrer Vitalität und der sonnensamtenen Glätte der ewig in Shorts ausgeführten schlanken Beine, die fast täglich auf seinem Beratungsstuhl Platz nehmen. Er droht sich platonisch, fast präpubertär hilflos in diese Studentin zu verlieben. Literatur wird fortan als Brückenschlag von beiden Seiten bemüht. Mit theatralischer Heftigkeit proben sie laut Heine und andere Beziehungsautoren. Vor allem aber ein Shakespeare Sonett, in dem ein Paar die Zuneigung unbeholfen in Beschimpfungen kleidet. So wird auch Halm zum verliebten Gockel Malvolio, mit dem er inzwischen die grellbunte Kleiderwahl teilt. Halm ist berauscht, auch wenn der Selbstzweifel sein zuverlässiger Begleiter bleibt. Eine Liaison wird es nicht werden, wohl aber ein in der Katastrophe endender Reigen, als Halm so ausgelassen mit der jungen Dame tanzt, dass sie beide krankenhausreif stürzen. Halms genähte Platzwunde wird verheilen, doch ihre Gehkrücken werden dem Mädel das Leben kosten, als sie Wochen später in ein Auto eingeklemmt sich nicht rechtzeitig aus dem in die kalifornische Brandung gestürzten Wagen befreien kann.

Halms Initialvision vom mental nach oben offenen Lebensraum jenseits des Atlantiks verengt sich zunehmend durch ernüchternde, durch groteske, durch fatale Einschnitte, die die kraftvolle Brandung kalifornischen Lebens zu einer einengenden, lebensbedrohenden Gewalt werden lassen. Zusammenbrüche, Psychoterror, Todesfälle. Seiner äußeren Emigration und inneren Öffnung folgt der erschöpfte Rückzug. Der alternde Mann war stets vor dem unvermeidbaren Niedergang auf der stillen Flucht. Schließlich wird Halm nach seiner Rückkehr vom überschaubaren schwäbischen Alltag mit Gattin Sabine geerdet, während die vermeintlichen Leuchtfeuer erloschen sind: die Studentin ist tödlich verunglückt, die Ehe des Studienfreundes gescheitert – nicht wie prophezeit seine – Mersjohann mit Suizid aus dem Leben geschieden, Sabines Vater an Krebs verendet, Halms Schulleiter überraschend vom Herzinfarkt hingestreckt, der Cocker Spaniel Otto überfahren. Am Ende des Romans heißt es: „Alles tat sich zusammen und forderte ihn auf zu gestehen, daß er sich jetzt daheim fühlte.“ Halm ist bei sich angekommen.

Für Walser hätte vieles nur ein deja vu sein können. Tatsächlich war es mehr, denn zahlreiche Amerikaaufenthalte und eigene Dozentenerfahrungen dort erlaubten ihm authentisch und mit überraschender Detailtiefe Campusszenen, Smalltalk-Tristesse, genauso wie Lebenslust und geistige Freiräume zu durchstreifen. Selbst der fatale Tanz mit einer Studentin samt Sturz gehört zu seiner Lebensgeschichte.

Ein Lesegenuss. Dicht, stilistisch überraschend, unaufdringlich, gut. Ein Werk, das man gerne wieder in die Hand nimmt.  Note : 2+ (ur)>>