Trügerisches Licht der Nacht – Juan Manuel de Prada

Klett-Cotta 1999 (1997) – 393 Seiten

>>Ein Kriminalroman um Kunst, Liebe und Obsession. Vor der winterlichen Kulisse Venedigs, das mit nekrotischer Lethargie im Fäulnisnebel zerfließt, versucht der junge Kunsthistoriker Ballesteros seine Arbeiten über das fünfhundertjährige Gemälde La Tempesta (Das Gewitter) zu vertiefen. Gewitter suchen prompt auch ihn heim, als ein Kunstfälscher hingerichtet wird, eine Tochter zwischen dem Toten und ihren Adoptivvater laviert, der Adoptivvater der Kunstvater des Gemäldes La Tempesta ist und das Gemälde wegen Diebstahls die Forschung des Doktoranden erschwert. Alle wissen über alles irgendetwas und schweigen doch, während der junge Mann libidogetränkt durch die Damenwelt mäandert und über das Original erfährt, dass es eine fast noch genialere Kopie hat. Damit erreicht der Plot die kunsthistorische Ebene.

Der Museumsdirektor und Herrscher über La Tempesta philosophierte: Kunst ertrinkt in Theorie, wird erdrückt vom bibliographischen Laubwerk, das über dem Erschaffenen ausgekippt wird. Das vergeistigte Laubwerk beansprucht selbst zum Wert zu werden. Er dagegen sei überzeugt, dass Kunst pure Passion, reine Emotion sei. La Tempesta sei das Ideal. Kein Gespinst der Ratio. Alles verschwindet unter dem gemeinen Mörtel des Vergessens. Nur Kunst hat bleibende Vergangenheit.

So lesen wir kenntnisreiche Diskurse des Autors zum kontroversen Kunstverständnis in einer Art, dass selbst der Handlungsort wohl gewählt erscheint. Venedig, das Gesamtkunstwerk, die sentimentale Hingebung an Farbe und Farblosigkeit. So frönt Venedig der Religion des Gefühls, nicht der des Verstandes. Und wie reagiert die Vorsehung? Alljährlich bestraft sie Venedig mit Hochwasser. La tempesta – das Unwetter. Und selbst die Darstellung dessen ist schon wieder ein Quell der Katastrophen. Der venezianische Zyklus scheint endlos.

Zentrale Bedeutung in diesem Setting kommt dem Kunstfälscher Fabio Valenzin zu. Er hatte sich eine Groteske erlaubt, als er eine große Ausstellung mit durchweg von ihm gefälschten Bildern initiierte. Die Werke zeigten die pornographischen Motive eines belgischen Künstlers. Den alternden Maler lud Valenzin zur Vernissage und bat ihn vertraulich, die Echtheit der Werke zu beurteilen. Man befürchte, dass Fälschungen dabei sein könnten. Der Künstler bewertete die Mehrzahl der Bilder als seine Originale. Die unumstößliche Wertigkeit des Originals war damit eines weiteres Mal in Frage gestellt und die Genugtuung des Fälschers zutiefst befriedigt.

Valenzin war der platonische Schwarm der Adoptivtocher Chiara des Prof. Gabetti. Prof. Gabetti wachte so eifersüchtig über Chiara wie über das unter seiner Obhut stehende Gemälde La tempesta. Gabetti und Valenzin – das war wie die Vorder- und Rückseite der Gemälde. Zwei Ansichten, die nie zusammenkommen können. Der Fälscher konnte nicht wirklich lieben. Stattdessen verehrte er Chiara als Götzengestalt, malte und studierte sie stundenlang. Sein Liebesdienst bestand darin, sie ebenfalls zur Fälscherin auszubilden. Für Valenzin war La Tempesta das Spiegelbild seiner Existenz. Fließender Übergang von Mensch und Gemälde. Die Fälschung von La tempesta trug deshalb nicht überraschend heimliche Spuren von Chiara und wurde unbemerkt an die Stelle des gestohlenen Originals gehängt. Dass Valenzin dabei eine rote Linie im prinzipientreuen Kunstverständnis von Chiara überschritten hatte, beantwortet sie mit seiner Liquidierung. Sie bleibt jedoch unentdeckt und ohne Bestrafung. Nur Ballesteros, der am Ende ein Geheimnis und einen Beischlaf mit ihr teilt, wird die verschlungenen Pfade durchdringen.

Im Trubel der Karnevalszeit wird der spanische Doktorand zwischen den widerstreitenden Parteien von Polizei, Museumsdirektor, dessen Ex-Gattin und einem urwüchsigen Grobian namens Tedeschi hin- und hergerissen. Spontan (und unverstanden) findet er in Tedeschi einen vertrauensvollen Kompagnon, der ihm einmal das junge Leben retten wird. Durch einen Zufall erfährt er von einem verschlossenen Sicherheitskoffer im Hotel seiner sympathischen Wirtin, den diese für Valenzin versteckte. Sein Inhalt wird sich später als das gestohlene Original von La Tempesta entpuppen. Ein komplexes Geflecht von Verstrickungen offenbart sich mit kriminellem Potential, peinlicher Karnevalserotik und gesellschaftskritischen Elementen mit Blick auf Behörden-Doppelmoral, aristokratische Gier und fragwürdige Kunstbegriffe.

Ein spannender Roman im Widerstreit von Gier nach einem Kunstwerk als geistiges Heiligtum und Kunst als austauschbarem Kultgegenstand. Auch wenn einige inhaltliche Brüche unübersehbar sind und sich roter Kriminalfaden, Kunsttheorie und Metapherverliebheit gelegentlich im Wege stehen, liest sich der Roman auch wegen der blumigen Intonation unterhaltsam. Wenige Stellen kippen ins Kitschig-Schmalzige.
Note: 2 (ur)<<

Diue kleine Stechardin – Gert Hofmann

Deutscher Taschenbuch Verlag 1996 – 213 Seiten

 Der für seine Zeit unorthodoxe Gelehrte G.C.Lichtenberg (1742 – 1799) lebte und lehrte in Göttingen, vermaß für Kurfürsten die steuerpflichtigen Reiche und führte mit dem englischen König geistreiche Gespräche. Er war seiner Zeit voraus. Gesundheitlich als Behinderter aber hintendran und dennoch ein legendärer Schürzenjäger. Also Stoff genug für literarische Ewigkeiten. Die historische Gestalt wurde wiederholt Gegenstand von Romanen, Filmen und Wissenschafts Features. Auch G. Hofmann griff kurz vor seinem zu frühen Tod 1993 die Materie auf. Er hinterließ einen Roman, von dem das Zeit Feuilleton urteilte, dass dem Werk eine längere Lebenszeit des Autors und damit eine Veredelung gut getan hätte. Das strengere Urteil hier und jetzt: Werk missglückt. Denn es geht auch anders wie Daniel Kehlmann später zeigte: eine ähnliche Persönlichkeit am gleichen Ort. In Die Vermessung der Welt wird der kauzige, hypochondrische aber erotisch beeindruckende Mathematiker Gauß literarisch glänzend in Szene gesetzt.

Da ist also am Ende des 18. Jahrhunderts in der verschlafenen Universitätsstadt Göttingen der Professor der Physik. Invalide, Gnom mit 143 cm Scheitelhöhe, Buckel, großer Kopf, dünne Beine, Haarausfall. Gespött und stilles Spektakel für die Nachbarschaft. Aber anerkannter, viel aufgesuchter und zitierter Wissenschaftler für die akademische Gemeinde. In seinem Heim bringt der Professor Massen von Studenten aus wohlhabenden Häusern Naturwissenschaft nahe. Sein Leben stellt sich jedoch einsam und überschaubar dar: die Wohnung, der Hörsaal, der Spazierweg.

Ohne offensichtliche Vorgeschichte zieht die 13-jährige Tochter der Familie Stechard bei ihm ein. (Auch das ist authentisch.) Das unbeholfene Mädchen soll ihm im Haushalt zur Hand gehen. Sie stammt aus bescheidenen Verhältnissen, ist engelhaft hübsch, unbedarft und anfänglich verschüchtert. Doch die Annäherung zwischen den beiden bleibt nicht aus. Lichtenbergs langsam erwachende Begierden finden begehrlichen Widerhall. Es folgen drei Jahre engster symbiotischer Vereinigung, die für beide gleichermaßen Erfüllung und Glück bedeuten, welches sie in völliger Zurückgezogenheit kultivieren. Während er multimorbid an vielerlei Krankheiten laboriert, doch dem Ableben erfolgreich Widerstand leistet, stirbt sie im Alter von nur 17 Jahren an Fleckfieber. Den Platz der jungen Stechardin wird später eine andere einnehmen, die dem Professor 8 Kinder gebären wird – auch das ist belegt.

Ein merkwürdiger Roman. Die Kommunikation zwischen den beiden Protagonisten ist von Banalitäten und Sprachlosigkeit geprägt. Sprechfragmente, Stereotypen, Leere, Fahrigkeit, naives gedankliches Vagabundieren, kein Anfang, kein Ende. Kaum ein Gedankengang wird abgeschlossen. Dasselbe gilt für Handlungsstränge, die an wenigen Stellen vielversprechend beginnen, aber den Plot nicht vorantreiben. Der Autor unternimmt keinen Versuch, an sich interessante Strukturelemente literarisch zu vertiefen. Zum Beispiel die Liebe zwei damals erotisch Illegitimierter: ein körperlich Behinderter und eine Jugendliche im Lichte moralischer Zwänge. Oder die verbotene Trauer des verkrüppelten Kindes Lichtenberg, das wegen seiner Erscheinung der Beerdigung seines Vaters nicht beiwohnen darf. Ebenso wenig überzeugend ist der orientierungslos plappernde Prof. Lichtenberg selbst. Vorder- und Rückseite eines akademischen Charakters? Das Herabsteigen des Gelehrten auf die Ebene der geliebten Analphabetin? Funktioniert der konstruierte Widerspruch?

Man könnte das Werk in diesem Sinne interpretieren, dass genau dieser Aspekt die Originalität und Intention des Romans spiegelt. Vielleicht soll von der historischen Professorenfigur ein kontroverses und provokantes Gegenbild geschaffen werden: trivialer, triebhafter Charakter, der keine bleibenden Zeitspuren hinterlässt. Für Leser verdichtet sich jedoch das Werk zu einer ermüdenden Monotonie des Bedeutungslosen – wie der Titel, bei dem das Versprechen, die kleine Stechardin in den Mittelpunkt zu stellen, nicht eingelöst wird.

Summa summarum: eine Zumutung.  Note: 4 – (ur)

Portnoys Beschwerden – Philip Roth

Philip Roth- Portnoys Beschwerdenrororo 1967/1970, 185 Seiten.

>>Alex Portney ist Sohn einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie in New Jersey der späten Nachkriegszeit. Überbesorgte, dominante Mutter; unter Verstopfung leidender Vater und übereifriger Versicherungsvertreter und blasse, ältere Schwester Hannah. Alex ist ansehnlich, weitgehend gehorsam und mit Intelligenz gesegnet. Seine äußere Anpassung lässt ihn zwei Klassen überspringen, das beste Jura Examen machen und früh Mitglied eines Senatsausschusses werden. Im Gegensatz dazu spiegelt seine Führungsrolle im New Yorker Ausschusses für soziale Ungerechtigkeit die nicht ruhende innere Opposition wider – symbolisch für den Aufruhr auf dem konfliktgeladenen, familiären Schauplatz. 

Früh entwickelt sich eine gefühlsverarmte, besessene Hypersexualität als Kompensation, innere Immigration (Onanie) und als entstellter Angriff gegen mütterliche Unterdrückung und moralische Normen. Wilde erotische Phantasien und Praktiken durchziehen die Jugend. Affären im College lassen für Alex kurz das überraschende Erleben naturbelassener Gefühle aufleuchten, ohne aber seine Seele dauerhaft zu erhellen. 

Seine erotischen Ausflüge werden vor allem durch Mary Jane Reed geprägt. Sie wird bezeichnenderweise „Äffchen“ genannt – wegen der ausgeprägten Vorliebe für „Bananen“, i.e. Penisse. Äffchen ist der Gegenpol zu Alex, Agonist und Antagonist in einem. Gemeinsam ist beiden die sexuelle Fantasie und Begierde. Verschieden sind sie in der gesunden Authentizität versus pathologischer Symptomatik. Während Äffchen Erotik als zwangloses Glück leben kann, ist es für Alex ein zwanghaftes Unglück mit Suchtcharakter. Das Äffchen ist so attraktiv wie naiv, Aufsehen erregend aber dümmlich. Auf ihrer Suche nach Geborgenheit und Anerkennung ihres eigentlichen Wesens (und nicht nur ihrer Formen), bietet sie Alex eine Plattform, seine Emotionslosigkeit und Liebesarmut zu überkommen. Er bleibt jedoch hilflos in sich gefangen und konfrontiert sie statt dessen mit Anstandsregeln, Vorhaltungen und Erbauungsliteratur (!), um sie gesellschaftsfähig zu machen. So bleibt die gemeinsame Sprache der Erotik ungenutzt, um potenziell verbindende Themen in Worte zu fassen. 

Ursprung von Alex kompensatorischer Hypersexualität ist die zwiespältige Mutterbindung, aus der er sich nicht befreien kann. Die Mutter jongliert mit ödipaler Annäherung (Pinkeln beibringen), peniblen Hygienezwang, Leistungsanerkennung einerseits und moralischer Ausgrenzung bis hin zur Drohung seiner familiären Verbannung andererseits. In diesem Netzwerk verfängt sich Alex. Bedrohlich umkreisen ihn die Bilder vom Selbstmord des Pianistenkindes aus dem Bekanntenkreis. Auch hier war die Familienkonstellation sehr ähnlich. Erschütternd dabei auch die öffentlich vorgetragene Selbstlüge, der Junge hätte seine Mutter über Maßen geliebt. Überschattet wird das familiäre Zerwürfnis von einer restriktiven jüdischen Religiosität, die Alex als versuchter „Kommunist“ im rebellischen Alter von 14 Jahren auf das heftigste angreift. Später stellt er diese Ablehnung mit einer aussichtslosen Reise nach Israel, dem Land seiner religiösen Heimat, auf den Prüfstand. Die Folgen beider Einflüsse von Mutter und Moral bleiben jedoch niederschmetternd: sexuelle Besessenheit mit/trotz Impotenz und Kastrationsängsten können nicht getilgt werden.
Mit großem Wissen von sich selbst und ehrlichen Genesungsabsichten berichtet Alex diese seine Geschichte als teils einfallsreichen Monolog auf der Couch des Psychiaters Spielvogel.

Sprachlich nicht ohne Reiz, teils vulgär, teils mit deutlichen Macho Akzenten. Dennoch lesenswert (für Männer?). Note: 2 – (ur)<<

Ach Europa! – Hans Magnus Enzensberger

Suhrkamp Taschenbuch St 1690 1987 – 501 Seiten

            Sieben Reiseberichte und ein futuristischer Epilog. Die Berichte stellen eine lockere Sammlung von Reiseeindrücken dar, die in Schweden, Norwegen, Polen, Ungarn, Portugal, Spanien und Italien in den Jahren 1982-86 entstanden. Jedes Kapitel ist geprägt von persönlichen Begegnungen mit Menschen sehr unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen, führenden Politikern, Volksmusikanten, Bauern und Studenten, Redakteuren und Namenlosen en passant. Typisch touristische Schwerpunkte fehlen. Stattdessen Momente des Alltäglichen und Ungewöhnlichen. Die Reisen sind nur bedingt dem Zufall überlassen, viele Wege sind gesuchte Ziele.

Tenor aller Zeiten und Orte: Ach, Europa! Bedauernswert, ignorant, unbekümmert, desorganisiert, überreglementiert, ungeordnet, fantasielos, übertrieben bunt.

Kein Land, kaum eine Begegnung, die Enzensbergers Kritik oder Ironie entkäme. Dabei wählt der Autor eine vordergründig sachliche Darstellung – so als ob es sich um eine objektive Reportage handeln würde. Weil dieses Format vermeintliche Sachlichkeit suggeriert, wiegt die unberechenbare Besserwisserei von Enzensberger umso peinlicher. Diesem urdeutschen Nörgler ist kaum etwas recht zu machen. Wäre seine akademisch verbrämte Kritik in ein Genre eingebunden, welches auf erkennbar subjektive Verfremdung bauen würde, wären die Berichte vermutlich unterhaltsam. Dass der Autor diese Kunst beherrscht, zeigt er im Epilog.

Hier lässt er einen amerikanischen Ex-GI zwanzig Jahre später das zukünftige Deutschland, Holland, Finnland, Rumänien und die Tschechoslowakei bereisen. (Dass die Tschechoslowakei in ihre Hälften zerbrochen sein würde, konnte Enzensberger 1986/87 nicht ahnen.) Skurrile Anekdoten, weitsichtige politische Entwicklungen wie die deutsche Wiedervereinigung, Absurditäten des Umweltschutzes, Weine als nostalgische Reliquien nach einem Reaktorunfall in der Region Bordeaux, Konsum-Entgleisungen im verarmten Sozialismus oder die introvertierte Flucht des amtsmüden europäischen Ratspräsidenten. Das liest sich amüsant. So hätten 500 Seiten gestaltet werden können. Ja: hätten.  Note: 4 (ur)

Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde – Friedrich C. Delius

Rowohlt Taschenbuch Verlag 1994 – 120 Seiten

>>Aufbauend auf autobiographische Elemente problematisiert der Autor die Gewalt der Religion in einer kindlichen Seele. Geschrieben in der 1. Person Singular schildert Delius einen einzigen Sonntag im Leben des elfjährigen Protagonisten. Es ist der 4. Juli 1954 in dem kleinen hessischen Nest Wehrda, gelegen im Abseits an der deutschen Zonengrenze. Im Bannstrahl des Radios erlebt der Bub, wie Deutschland an diesem Tag im Endspiel gegen Ungarn Fussballweltmeister wird (3:2). Die unmöglich geglaubte Befreiung wird zur leuchtenden Metapher im religiösen Dunkel des verengten Kinder-Universums. Es geht also nicht wirklich um Fussball.

Das Radioerlebnis wird für den Jungen zu einem befreienden Aufatmen in seinem protestantisch puritanischen Milieu, das ihn zu ersticken droht. Der Vater ist wortgewaltiger Dorfpfarrer. Die Mutter eine in stiller, aber bestimmender Pflichterfüllung Herrschende. Der Großvater vom U-Boot Kapitän zum Volksmissionar konvertierter Dogmatiker.

 Auch am Weltmeister-Sonntag erwacht der Bub mit ohrenbetäubendem Kirchengeläut, das unschuldige Kinderträume zerschmettert. Beim Frühstück mahnt das Brot – leicht von dünnem Gelee gerötet – an den blutenden Leib Christi. Den Sonntagmorgen nimmt wie immer der rechtweisende Kirchgang ein. Mittags wird der Braten vom Vater zerteilt wie Abraham bereit war, seinen Sohn Isaak Gott zu opfern. Nachmittags folgen bedächtige Bewegungen, aber kein Ballspiel. Verbote, Gebote, Gottes Gegenwart immer und überall. Der Elfjährige ist angefüllt von diesem dumpfen Gefühl des unverstanden Schuldigen, den Jesus, der Menschenfänger, angelt. Jesus, der ihm, dem kleinen Unbedarften, mit dem Angelhaken den Kehlkopf ausreißt, und damit Luft und Sprache raubt.

Er fühlt sich als Sünder, der unwissentlich am Turmbau zu Babel teil hatte. Nur deshalb hat er die Sprache verloren, stottert, scheitert an jedem Doppelkonsonaten wie in „Gnade“. Er, der vom Fischer Jesus Gefangene. Will nicht Schwimmen lernen, ein ewiger Nichtschwimmer. Von Schuppenflechte gequält. Unvollkommener Fisch mit mehr Schuppen als Haut.

An diesem Sonntag sichert sich der Bub jedoch leise die Zustimmung, die Radioübertragung hören zu dürfen. Ein packender, mitreißender Reporter Herbert Zimmermann zieht ihn in seinen Bann. Eine Welt der Gemeinschaft drängt in den Raum. Die kollegiale Stärke, ein aufbauender Kampf für das eine Ziel. Worte wie „Gott sei Dank“ und „ein göttlicher Schuss“ überraschen ihn mit ihrer blasphemischen Leichtfüßigkeit. Im Angesicht religiöser Requisiten im väterlichen Arbeitszimmer, hin- und hergerissen zwischen Schuld und Befreiung, erlebt er einen anderen Gott, nein, elf Götter. Eine Idee, für die sich Opfer und Leid lohnt.

Seine Zunge löst sich. Doppelkonsonaten kennen keine Barriere mehr. Kurz vor der Verlängerung beim Spielstand von zwei zu zwei ist der Bann gebrochen. Die Euphorie wächst. Wenn auch stets unterlegt von einem lauernden Schuldgefühl und der Ahnung, dass die Befreiung am Montag bereits der Beklemmung weichen könnte.

Eine eindrucksvolle Erzählung in einem poetischen Sprachduktus. Eine berührende Psychologie disruptiver Erziehung. Eine kritische Darstellung einer auf Schuld und Sühne bauenden Religiosität. Die dreieinige Besatzungsmacht Gott, Jesus und Heiliger Geist (S.95) im Zonengrenzgebiet. Und eine überraschende Befreiung, als Fussballgötter in das Amtszimmer des Gottesdieners gotteslästernd eindringen: für den elfjährigen Bub der glücklichste Moment. An diesem Sonntag wird er Weltmeister vor sich selbst. Note: 2 (ur)<<

Die geheimen Aufzeichnungen des Don Rigoberto – Mario Vargas Llosa

Suhrkamp Verlag 1997 – 470 Seiten

>>Die geheimen Aufzeichnungen folgen den bekannten erotisch-literarischen Exkursionen des peruanischen Autors. Erneut gibt er hier seiner poetischen Libido freien Raum und setzt mit dem Personal des vorangegangen Romans Lob der Stiefmutter (1988) deren Lebenskrise fort. Dort war Don Rigobertos zweite Gattin der engelhaften Verführung seines fünfzehnjährigen Sohnes Fonchito aus erster Ehe lustvoll erlegen. Im Folgewerk leben die Eheleute aus diesem Grund getrennt, auch wenn ihre gegenseitige Liebe unverwüstlich bleibt. Der Plot stützt sich also auf eine verwandtschaftliche Dreierbeziehung, mit der ohne große Handlungsanstrengungen jongliert wird. Jeder der drei Protagonisten setzt eigene Akzente im sexuellen Ausnahmezustand, wobei auf eine vertiefte Sinnebene verzichtet wird. Literarischer Eros ohne Hintergedanken könnte man meinen. Das Ehebett als sakraler Raum.

Doch damit das Setting nicht allzu flach erscheint, ist es in eine eigenwillige Architektur verbaut. Jedes Hauptkapitel wird von vier Unterkapiteln mit sich wiederholenden Schwerpunkten gebildet. Warum vier? Vielleicht entsprechend den vier Daseinselementen Feuer (Hitze), Wasser (Tiefe), Erde (Standfestigkeit) und Luft (Kommunikation). Könnte sein. Ausformuliert sind dies a) Begegnungen von Sohn und Stiefmutter, b) Don Rigobertos alltagsphilosophische Ergüsse, c) Don Rigobertos erotische Fantasien und d) Liebesbriefe samt erotisierenden Skizzen. Dieser Themen-Reigen pulst mehrmals durch die Gesamtkomposition.

Don Rigoberto leitet ein Versicherungsunternehmen. Im Gegensatz zur grauen Aktentristesse des Büroalltags blüht seine Fantasie umso lebhafter, wenn er sich allabendlich in die Enge seines Singledasein zurückzieht. In abenteuerlichen Wachträumen (wiederkehrende Unterkapitel c) arrangiert er seine verstoßene Frau in unendlichen Sexepisoden. Mal kopuliert sie mit Bediensteten, dann mit Schulkameraden, die zwingend beim Koitus singen müssen. Schließlich amüsiert sie sich mit einem kastrierten Motorradfahrer. Mit einer Botschafterin praktiziert sie exotische Exzesse im Whirlpool. Mit anderen zelebriert sie ritualisiertes Urinieren. Da viele Szenen nicht bis zum Ende ausformuliert sind, lässt Vargas Llosa noch ein gewisses Maß an Unbestimmtheit und erhält damit einen Restreiz. Mit den Ausschweifungen der anderen Protagonisten sind die sexualisierten Passagen in der Summe jedoch ermüdend.

In den sich wiederholenden Teilen (b) konfrontiert Don Rigoberto den Leser mit einem Potpourri von erotikfernen Themen: ausufernder Umweltschutz, bizarre Massensportveranstaltungen, gefährliche Islamexpansion, abstoßendes Verbandswesen und vieles mehr. Da diese Einschübe zum Fortgang des Werkes nicht wirklich betragen, wurde schon vermutet, dass der Autor, als Vorsitzender der Liberalen Partei Perus und gescheiterter Präsidentschaftskandidat seinen Ansichten zu dezidierten Politbelangen einen Platz in der literarischen Ewigkeit verschaffen wollte. Das ist nicht sehr poetisch, aber vielleicht patentwürdig.

Bemerkenswert im Plot dagegen ist die Person Fonchito. 15 Jahre alt, engelsgleicher Knabe mit ultramariner Anziehungskraft auf seine Stiefmutter. Intelligent, belesen, begabter frühreifer Maler, Identitätsverschwommenheit bis ins Psychotische. Er glaubt, die Reinkarnation des österreichischen Malers Egon Schiele zu sein. Egon Schiele, dieser egomane Päderast der frühen Jahre des vorigen Jahrhunderts, der unbekleidet mit seinen Modellen spielte, bevor er sie malte. Dabei wurde die ganze Palette von erotisch bis pornographisch bedient. Sexualität als ästhetisches Element. Auch Fonchito gelingt es spielend mit seiner Stiefmutter Lukrezia allein oder mit ihrer nackten Hausgehilfen, expressionistische Schiele-Motive nachzustellen. Lukrezia weiß um die Verdorbenheit, kann und will jedoch dem erotischen Sog nicht widerstehen.

Derweil fühlt der Bube sich völlig frei. Nicht nur, dass er kein Schuldgefühl entwickelt, weil er seine Eltern entzweite. Im Gegenteil wünscht er nichts sehnlicher, als dass sie wieder vereint sein mögen. Tatsächlich gelingt ihm das mit Hilfe gefälschter Liebesbriefe
(in den zahlreichen Unterkapiteln d mit Schiele Skizzen). Raffiniert formuliert er Tagebuchaufzeichnungen seines Vaters und Passagen einer Kitschheftserie zu anonymen Verehrungsbriefen um. Diese lässt er Vater und Stiefmutter zukommen, um beide Glauben zu machen, dass der verflossene Partner die Versöhnung sucht. Das totgeglaubte Glück wird reanimiert. Die Familie rückt wieder zusammen. Allerdings verbleibt das Damoklesschwert in Scheitelhöhe. Lukrezia gesteht, dass es ihr unmöglich sein würde, dem Reiz des Jungen zu widerstehen, sollte er im gemeinsamen Haushalt verbleiben.

Vater und Sohn teilen also in der Gattin/Stiefmutter denselben erotischen Fixpunkt. Die Art und Weise des Alten erscheint dabei eher antiquiert mit der Tendenz zur stillosen Pornographie. Die Art des Jungen dagegen wirkt ausgefallen und kultiviert. Erotik als spirituell-künstlerischer Akt. Die Jugend glänzt mit Innovation.

Für Freunde des südamerikanischen Literaturbarocks wird auch dieser Roman ein Genuss darstellen. Sprachlich glänzt der Text durch Wort-Reichtum, geniale Assoziationen und Charakterstudien. Merkmale, die den späteren Literaturnobelpreisträger (2010) Vargas Llosa auszeichnen. Letztlich bleibt das Werk jedoch ein erotisch verstaubter Zettelkasten, aus dessen Einzelnotizen in der Tat ein fulminanter Roman hätte werden können.  Note: 2/3 (ur)<<

Anleitung zum Unglücklichsein – Paul Watzlawik

dtv Sachbuch, 1983, 133 Seiten; ISBN 3-423-30367-0

 

            >>In kurzen Kapiteln zerlegt Watzlawick mit ironisch-populärwissenschaftlichem Instrumentarium der Kommunikationswissenschaften das verzwungene menschliche Gegeneinander. Die Anleitung zum Unglücklichsein ist seine Antwort auf die in den USA missionarische Festlegung auf das Glücklichsein. Zugleich ist Watzlawicks Anleitung auch ein Spiegel des programmatischen Unglücklichseins im deutschen Kulturkreis – ein Unglücklichsein, das genährt wird aus dem intellektuellen Verhaften an ganzjährigen November Depressionen, dem generalisierten Mangel an Zuversicht oder dem fehlenden Glaube an sich selbst. Entsprechend wird diese flüssige, mitunter amüsante Darstellung des österreichisch-amerikanischen Autors zu einer doppelten Reflexion für zwei Kulturhabitate mit überzogenem Selbstwertgefühl (USA) und lädierter Ich-Stärke (BRD).

Die Themenwahl wirkt zufällig und die Anordnung folgt keiner inneren Logik. Es ist die kleine Lebensschule zwischen Nachtisch und Espresso, Digestivhäppchen verschiedener Geschmacksrichtungen, die der entspannte Leser in kleinen Dosen zu sich nehmen kann.

Die Vergangenheit als Quelle des Unglücks nutzen. Watzlawick macht vier Varianten aus. 1) Durch die Konzentration auf die Vergangenheit lässt sich erfolgreich die Gegenwart verpassen. 2) Aus der Vergangenheit nicht wie üblich das Gute, sondern nur das Schlechte erinnern, treu dem Motto „die Jugend ist verronnen.“ 3) Unglücke der Vergangenheit lassen sich durchaus in der Gegenwart fortsetzen. 4) An ehemals richtige Lösungen sollte man sich klammern, auch wenn sie nicht mehr in die Zeit passen. Die Devise lautet also: mehr desselben.

Negative Projektion. Eine verfeindete Umwelt kann stets vermutet werden. Statt den Nachbarn zu fragen, ob er ein Werkzeug ausleihen würde, sollte man ihn gleich mit dem Vorwurf konfrontieren, dass er es ohnehin nicht ausleihen würde. Die Begrüßung wird ihn zwar verwundern, garantiert aber die Ablehnung. Um vermeintliche Problemlösungen ist der Autor nicht verlegen, etwa durch die Taktik der Rückwendung der unspezifischen Besonderheit. Die Ehegattin fragt: Wo hast du es hingetan? Der Gatte antwortet: Zu den anderen. Durch die inhaltlose Antwort auf eine inhaltlose Frage könnte angeblich die Konfrontation aufgehoben werden.

Im Weiteren schlägt Watzlawick praktische Übungen zur negativen Autosuggestion vor: einen Tinnitus hören, wo keiner ist, Ampeln immer rot wahrnehmen oder sich entspannt hinsetzen um endlich den Druckschmerz der bequemen Schuhe wahrzunehmen. Mit beständiger Hartnäckigkeit ist ein niederschmetternder Erfolg gewiss. Weiter sollte der Leser alle Übungen zunächst nur in sich gekehrt durchführen. Erst mit Erlangen einer negativen Grundsicherheit sollte die Übertragung auf externe Situation erfolgen. Hierbei dürfen die kausalen Zusammenhänge keinesfalls hinterfragt werden, weil sich der Proband andernfalls als hysterisch entlarvt. Ziel muss es sein, Konfliktsituationen zu erschaffen ohne noch wahrzunehmen, dass es die eigenen sind.

Probleme verewigen. Für einen anhaltenden Erfolg der Autosuggestion müssen Probleme verewigt werden. Technisch lässt sich dies einfach durch Wiederholungen oder Rituale umsetzen. Ein eindrucksvolles Beispiel ist, dass permanentes Klatschen Elefanten fernhält – deshalb seien auch nie welche da.

Ziele meiden. Ein weiterer Kunstgriff ist die Zielvermeidung. Man sollte nie ankommen – nur unterwegs sein. Übrigens ein Prinzip, das schon im anderen Kontext von Laotse und Kollegen angedacht wurde. Das Ankommen oder das Ziel könnte ohnehin eine Enttäuschung sein. Außerdem hütet man sich vor fremden Ansprüchen – etwa dass man etwas erreichen müsste. In diesem Zusammenhang sind die Auf-morgen-Vertager und Utopia-nirgendwo-Anhänger ihrer Zeit voraus.

Problemmechanismen. Probleme können natürlich auch durch beständigen Pessimismus, Vermischung von Objekt- und Beziehungsebene und die Illusion der Alternativen erreicht werden „Kannst du dies oder das für mich tun?“ „Ich tu dies.“ „Warum tust du nicht das?“ Es bleibt keine Alternative. Erfahrene werden zudem jeder Freude ein beliebiges Leid hinzufügen.

Unglückliche Kooperation. Bösartiger Pessimismus erlaubt überall negative Interpretationen: er hilft sein Gewissen zu beruhigen, nicht weil er helfen will. Die symbiotische Ko-Illusion (Kollusion) ist ebenso ein lohnendes Unglücklichkeitsziel –: einer hilft, der andere gibt sich schwach, damit der erstere helfen kann – und beide wollen nicht wirklich das, was sie tun.

Der Laing Knoten. Und dann ist da noch die Selbstverneinung mit Disqualifizierung der Mitmenschen als ein besonders wirkungsvoller Ansatz für eine dunkelschwarze Weltsicht. Schritt 1: Ich liebe mich nicht. Schritt 2: wer mich liebt, muss verkehrt sein.

Aufruf zum solidarischen Miteinander. Am Ende seiner Ausflüge wendet Watzlawick den Blickwinkel und empfiehlt einen mathematischen Ansatz für die menschliche Psychologie. Das Leben sollte als Nicht-Nullsummenspiel aufgefasst werden. Das Grundmotiv der Menschen sollte gemeinsames Gewinnen und nicht einer gewinnt nur dadurch, dass ein anderer verliert. Entsprechend endet sein Epilog mit Dostojewski: „Alles ist gut.“ Der Mensch ist gut. Das allein anzunehmen, bewirkt Vertrauen und Toleranz. Die Folge ist Glück. Eine klare Anweisung zum Glücklichsein.  Note:  2/3 (ur) <<

Mein Herz so weiß – Javier Marias

Klett-Cotta (1992) 1997 – 364 Seiten

          >>  „Mein Herz so weiss“ sprach Shakespears Lady Macbeth nach der Anstiftung ihres Gatten zum Mord an Duncan, König von Schottland. Sie sagte „weiss“, also nicht blutig, und meinte damit doppeldeutig, dass sie gleichzeitig unschuldig und schuldig geworden sei, weil sie den Mord nicht selbst begangen, sondern nur mit Worten angestiftet hatte. Dem lässt der englische Tragödiengott Shakespear natürlich den Selbstmord folgen. So geschehen im Jahre 1606, denn so viel Achtung vor zeitgenössischen Werten musste sein. Wir denken heute anders. Spuren der Tragödie lässt Marias jedoch in seinem vorliegenden Roman erneut aufleuchten. Worte, die wie Taten wirken. Lügen, die neue Wahrheiten generieren. Liebe, die an Verbrechen grenzt. Reue, die nicht heilt. Wissen, das zerstört.

Juan, der 35-jährige Ich-Erzähler, ist weitreisender Dolmetscher, der in vier Sprachen reflektiert und süchtig Worte aufsaugt. Zufällig im Nebenzimmer gesprochene Worte, Floskeln hochdotierter Politiker, Phrasen des Fernsehens. Jeden Vokal atmet er wie Luft. Es ist sein Lebenselixier und doch bedroht es ihn. Es ist die Angst, zu viel wissen zu können. Belastendes zu erfahren. Dass das Wissen von Wahrheit, geglaubte Wahrheiten zerstören könnte. Und so kommt es auch.

Der Roman ist zudem ein Deklinieren von Liebe. Liebe und Nähe, die Juan sucht und auch ebenso scheut. Das eigene Ohr zu dicht am Mund des anderen. In der Tat ist es genau dies und eben jenes daraus resultierende zu viel wissen, dass ihm letztlich die Macbeth Tragödie seiner eigenen Familie beschert.

Sein literarischer Gegenpol ist Luisa. Dolmetscherkollegin und spätere Gattin, die mit weiblicher Resilienz in sich ruhend die Wahrheit und das Wissen geradezu fordert, ja herausfordert und dabei besteht. In einer der stärksten Szenen des Romans hat Juan als Simultandolmetscher die Aufgabe, ein Gespräch zwischen Magret Thatcher und König Juan Carlos zu vermitteln. Als das Gespräch über banale Lautmalerei nicht hinauskommt, erlaubt der Hauptprotagonist sich, sehr private Fragen und Antworten den beiden Herrschern in den Mund zu legen. Prompt entwickelt sich durch diesen Betrug eine neue Wirklichkeit. Der offensichtlich überraschte König und die britische Regierungschefin setzen den Dialog interessiert selbst fort. Wegen der politischen Bedeutung der Begegnung begleitet eine zweite Kontrolldolmetscherin das Gespräch – Luisa. Diese erste Begegnung von Luisa und Juan wird der Grund, auf dem sie gemeinsames Vertrauen bauen werden. Sie lässt ihn gewähren und ward das Geheimnis.

Juan wird in seiner Annäherung an Luisa jedoch lange Zeit von Katastrophenahnungen begleitet, ohne zu wissen warum. Diffus meint er, eine Heirat könnte der Einstieg in die Monotonie bedeuten. Der Tod der Gegenwart. Tatsächlich ist es nicht Luisa selbst, sondern das Wissen eines schrecklichen Geheimnisses, welches sie Juans Vater entlockt. Juans Vater ist Mörder. Aber ohne Selbstvorwürfe wie Lady Macbeth. Stattdessen schuldiges Verdrängen. Er tötete seine erste Frau, eine Kubanerin, um seine zweite Frau Theresa heiraten zu können. Ihr sind zunächst die Umstände unbekannt. Als sie jedoch kurz nach der Hochzeit von seinem Verbrechen erfährt, erschießt sie sich. Das Mitwissen macht sie mitschuldig und wird zur unerträglichen Last. Shakespeares Fluch.

Zwischen Juan und seinem Vater scheint es einen virulenten Ballast zu geben. Déjà vu Verbindungen ergeben sich bei der Hochzeitsreise von Juan und Luisa, als beide im Hotel in Havanna Zeugen einer Auseinandersetzung werden. Eine aufgewühlte Kubanerin fordert ihren Geliebten auf, seine Frau zu ermorden. Würde er dies nicht tun, würde sie sich das Leben nehmen. Tod oder Liebe. Liebe nur mit Töten.

Ist das nun ein hymnisch zu preisender Roman, wie der verstorbene Meinungsrichter Reich-Ranicki verkündete? Tatsächlich stolpert man durch die Buchpassagen. Wird durch inflationär auftretende Klammern fortlaufend zu Fall gebracht. Quält sich durch den zähen Fortgang des Plots mit seinen langatmigen Detailschleifen. Dabei bleibt der Sinninhalt von „Wort“ und „Bedeutung“ im Geflecht von Macbeth, Theresa und Juan verschwommen. Die beiden Ebenen von „Sprache“ und „Beziehung“ im Spannungsfeld von Schuld und Leben können kaum überzeugen. Auch sprachlich bleibt der Roman arm an Höhepunkten. Literarisch ausgefallen erscheint jedoch, den Komplex Sprache-Wissen-Wahrheit in der Ebene des Dolmetschens zu spiegeln. Note: 3 – (ur)<<

Die Widmung- Botho Strauss

Die widmungdtv 1980, 114 Seiten.

>>Richard Schroubek (31), ein sich quälender Buchhändler, verlassen von seiner Freundin Hannah (25), lebt im von Großstadthitze gelähmten Berlin. Schroubek zerfrisst sich in Gedanken an Hannah und Abschweifungen über das Leben und dessen Ende, an Belanglosigkeiten des sich für ihn immer mehr einengenden Alltags, an nekrophile Fakten und morbide Fantasien. Er zieht sich in seine Mietwohnung zurück, vernachlässigt sein Erscheinen, seine Nahrungs-aufnahme und regrediert zum kindlichen Psychopathen, der in hektisch-absurde Anfälle gerät als das Klo verstopft oder Honig in den Teppich dringt. Schon im nächsten Moment philosophiert er über historische Literatur, die Bedeutung der Sprache und die Wirkungsvorzüge des geschriebenen Wortes als Grenzgegenstand zwischen Flüchtigem und ewig halb Bewahrtem. Täglich schreibt er Tagebuch –  das entsetzliche Protokoll von Hannahs Abwesenheit. Haltlos taumelnd vagabundiert er zwischen den Assoziationen hin und her, ohne das eine mit dem anderen in Verbindung setzen zu können.
Dem Leser präsentiert sich der Roman als eine wenig überzeugende Mischung aus Wechseln und Fluchten aus Erzählebenen und ein planloses Unaufgeräumtsein der Erzählinhalte. Was bleibt ist der starke Eindruck des Gelähmtseins, eine zeitlose Paralyse ohne ergründbaren Anfang und Aussicht. Richtig – da war Hannah. Aber warum ist sie nicht mehr? Ein Roman des Stillstands. Der Leser ist dankbar als endlich ein streunender Liebhaber Schroubeks Wohnung betritt und von Schroubek Stellungnahmen über Hannah verlangt. Schroubek verweigert sich und schließt sich in naiver Einfalt in sein Zimmer ein. Ende.
Ein zweites mit geringfügiger Bewegung eingeleitetes Ende ohne Ende stellt die Begegnung mit Hannah dar. Beide sind inzwischen verwahrlost, sprachlos, beziehungslos. Ein Treffen, die Übergabe des Tagebuchs, aber kein Austausch. Stimmig verliert sich schließlich die Erzählung in der peinlichen Bildschirmszene eines überalterten Sängers dem beim Playback die Worte entfallen sind.

Ein trauriges, in Form und Inhalt inkonsistentes Stück deutscher Literatur. Auch wenn die Widmung an Hannah mit einzelnen Sprachpassagen überzeugt, spiegeln die vielfältigen inhaltlichen und stilistischen Brüche nicht angemessen Schroubeks Zerrissenheit wider. Der erfreuliche Lichtblick folgt zu guter Letzt: nach 114 Seiten ist der Leser bereits erlöst.  Note: 4 (ur) <<

Der Vorleser – Bernhard Schlink

Diogenes 1995 – 207 Seiten

>>Ein ungewöhnlicher, deutscher Roman, in dem eine kognitive Schwäche eine ordnungsversessene Frau zu einer SS-Mörderin werden läßt und ein Schulbub lebenslänglich die Kraft zu lieben einbüßt, weil er eben diese Frau liebte. Der Roman thematisiert die Absurdität des menschlichen Seins, in der die Scham als Analphabetin enttarnt zu werden schmerzlicher empfunden wird als die moralische Last, Hunderte von Juden umgebracht zu haben. Und es ist das Thema dieses Werks, dass eine zutiefst enttäuschte Initialliebe zu einer lebenslangen Bindungsunfähigkeit führt und damit jede weitere Enttäuschung, die aus erneutem Verlassen werden erwachsen könnte, schon im Vorfeld unterbunden wird.

Kindheit. Der 15-jährige Michael Berg erbricht sich auf der Straße und wird von der unbekannten Hanna Schmitz (36) versorgt. Es entwickelt sich eine Bekanntschaft, die schnell in eine ungleiche Beziehung mit stets gleichem Ritual übergeht: Michael liest Geschichten vor, beide baden, sie schlafen miteinander. Das von H. verordnete obligatorische Bad wirkt wie ein Reinheitszeremoniell – vielleicht eine zwanghafte Prinzipienhandlung, vielleicht aber auch eine äußerliche Ersatzhandlung für eine innerlich nicht vollzogene Moralreinigung mit Blick auf das persönliche Kriegsverbrechen.

Die folgenden Monate sehen Auseinandersetzungen und Zurückweisung durch eine unberechenbare H. und die kindliche Unterordnung eines Michael. Die Initiationsliebe, die der völlig unbedarfte Junge erlebt, gräbt unverwüstliche Spuren in sein Seelenleben. Er wird sie ein Leben lang lieben. H´s Gefühle bewegen sich im Verborgenenen – vermutlich ist auch sie gebieterisch ihrem „Jungchen“ verfallen. Sie: Straßenbahnschaffnerin. Er: Schüler und Erfinder einer 4-tägigen Fahrradtour. Sie: Aus Verlassenheitsangst einen Ledergürtel in sein Gesicht schlagend. Er: Seiner Schwester Kaufhausklamotten klauend, damit sie ihm die Wohnung allein mit H. überläßt. Sie: Kontrollgänge ins Schwimmbad, ob Michael sich anderen Mädchen nähert. Dann H´s kommentarloses Verschwinden für immer. Er: ein Leben lang Geschädigter, der sich nie wieder auf eine Frau wird verbindlich einlassen können.

Studienzeit. Michael reift zu einem verschlossenen Jurastudenten heran, nimmt an KZ-Prozessen teil und begegnet auf diesem Wege unerwartet H. . Sie wird zu lebenslanger Haft als KZ-Aufseherin verurteilt, die 300 Frauen in eine brennende Kirche einsperrte und deren Tod veranlasste. H. pocht noch nicht einmal auf einen Befehlsnotstand, sondern zitiert in bizzar naiver Weise Ordnungsprinzipien, denen sie in jedem anderen politischen Zusammenhang vermutlich ebenso gefolgt wäre. Die Prozessatmosphäre ist gekennzeichnet durch eine metale Betäubung als gemeinsamer Zustand von Opfern, Tätern und Richtern. Auch Michael verharrt in diesem Zustand – selbst nach einem KZ Besuch vermag Michael keinen emotionalen Bezug zu den Gräueltaten herzustellen.

Ein fatales Motiv begleitet H´s Lebensentwicklung, nämlich die schambesetzte Flucht vor ihrem akribisch verborgen gehaltenen Analphabetismus. Diese Scham begründet eine Vielzahl von Fehlentscheidungen: um der Entdeckung durch den Arbeitgeber Siemens zu entgehen, kündigt sie ihre erste Anstellung und wird KZ-Aufseherin; weil sie einen Zettel von Michael nicht lesen kann; schlägt sie ihn; um der Beförderung von der Straßenbahnschaffnerin zur Büromitarbeiterin zu entgehen, verschwindet sie spurlos – auch aus Michaels Leben. Um sich beim KZ-Prozess bei einer Schreibprobe nicht entblößen zu müssen, stellt sie sich freiwillig als Verfasserin eines KZ-Dokumentes dar, was ihr eine lebenslange Haft, ihren leugnenden Mitangeklagten jedoch nur begrenzte Gefängnisstrafen einbringt. Michael entdeckt die Hintergründe und ringt mit sich, die mildernden Umstände dem Gericht mitzuteilen. Der Rat seines Vaters, selbst Professor der Philosphie, jedoch lautet, davon Abstand zu nehmen, da Würde mehr bedeute als Glück. Die Verletzung H´s Scham würde schwerer wiegen als die Freiheit, die sie durch verminderte Schuld erhalten würde.

Zweite Lebenshälfte. Michaels Gegenwart zerfällt: die Ehe, die Familie, die Feunde. Er flüchtet in die Kreisbewegung der Rechtsgeschichte: immer wieder von vorn beginnen, immer wieder suchen. Das Motiv der Odyssee, die er H. vorlas, wird zum Lebensinhalt. Innerlich kehrt er zu Hanna zurück ohne ihr jedoch direkt gegenüberzutreten. Über 10 Jahre hinweg schickt er H. von ihm besprochene Kassetten, denn das Vorlesen von Werken aller Art war es, was sie zutiefst berührte. Zum Zeitpunkt ihrer Entlassung nach 18 Jahren findet Michael ihr Wohnung und Arbeit, die sie jedoch nie nutzen wird. Man findet sie in der Zelle erhängt. Hat sie sich gewandelt? Lesen – auch als Akt der Selbstbestimmung und Erkenntnis – hatte sie sich anhand der Kassetten selbst beigebracht. Ihre nächtlichen Träume hatten sich zu von den Opfern überrannte Alpträume verdichtet. Nachdem für sie Reue Jahrzehnte eine unbekannte Größe war, scheint sie zum Ende hin Schuld-offen. Aber ist der selbst vollstreckte Tod tatsächlich ein Schuldbekenntnis den Opfern gegenüber? Michael gegenüber? Oder ist der Grund das Nicht-mehr-erreichen-können ihrer vermuteten Liebe, dem Jungchen, das vielleicht auch die unüberbrückbare Scham spürt, mit einer Massenmörderin vertraut gewesen zu sein?

Am Ende versucht Michael in New York H´ s Erspartes, das sie ihm vermachte, der einzigen KZ-Überlebenden zu überbringen. Doch das Opfer verweigert die Annahme. Weder H. noch ihm wird eine Sühnegelegenheit gegeben. Erst im Schreiben findet er seinen Frieden. Es ist die Schrift dieses Werks.

Eine feinfühlige Geschichte mit ungewöhnlicher Verknüpfung von Schuld, Geschichte, Liebe und Scham in einer glasklaren Sprache, direkt und schnörkellos. Lesenswert. Note: 2+  (ur)<<