Klett-Cotta (1992) 1997 – 364 Seiten
>> „Mein Herz so weiss“ sprach Shakespears Lady Macbeth nach der Anstiftung ihres Gatten zum Mord an Duncan, König von Schottland. Sie sagte „weiss“, also nicht blutig, und meinte damit doppeldeutig, dass sie gleichzeitig unschuldig und schuldig geworden sei, weil sie den Mord nicht selbst begangen, sondern nur mit Worten angestiftet hatte. Dem lässt der englische Tragödiengott Shakespear natürlich den Selbstmord folgen. So geschehen im Jahre 1606, denn so viel Achtung vor zeitgenössischen Werten musste sein. Wir denken heute anders. Spuren der Tragödie lässt Marias jedoch in seinem vorliegenden Roman erneut aufleuchten. Worte, die wie Taten wirken. Lügen, die neue Wahrheiten generieren. Liebe, die an Verbrechen grenzt. Reue, die nicht heilt. Wissen, das zerstört.
Juan, der 35-jährige Ich-Erzähler, ist weitreisender Dolmetscher, der in vier Sprachen reflektiert und süchtig Worte aufsaugt. Zufällig im Nebenzimmer gesprochene Worte, Floskeln hochdotierter Politiker, Phrasen des Fernsehens. Jeden Vokal atmet er wie Luft. Es ist sein Lebenselixier und doch bedroht es ihn. Es ist die Angst, zu viel wissen zu können. Belastendes zu erfahren. Dass das Wissen von Wahrheit, geglaubte Wahrheiten zerstören könnte. Und so kommt es auch.
Der Roman ist zudem ein Deklinieren von Liebe. Liebe und Nähe, die Juan sucht und auch ebenso scheut. Das eigene Ohr zu dicht am Mund des anderen. In der Tat ist es genau dies und eben jenes daraus resultierende zu viel wissen, dass ihm letztlich die Macbeth Tragödie seiner eigenen Familie beschert.
Sein literarischer Gegenpol ist Luisa. Dolmetscherkollegin und spätere Gattin, die mit weiblicher Resilienz in sich ruhend die Wahrheit und das Wissen geradezu fordert, ja herausfordert und dabei besteht. In einer der stärksten Szenen des Romans hat Juan als Simultandolmetscher die Aufgabe, ein Gespräch zwischen Magret Thatcher und König Juan Carlos zu vermitteln. Als das Gespräch über banale Lautmalerei nicht hinauskommt, erlaubt der Hauptprotagonist sich, sehr private Fragen und Antworten den beiden Herrschern in den Mund zu legen. Prompt entwickelt sich durch diesen Betrug eine neue Wirklichkeit. Der offensichtlich überraschte König und die britische Regierungschefin setzen den Dialog interessiert selbst fort. Wegen der politischen Bedeutung der Begegnung begleitet eine zweite Kontrolldolmetscherin das Gespräch – Luisa. Diese erste Begegnung von Luisa und Juan wird der Grund, auf dem sie gemeinsames Vertrauen bauen werden. Sie lässt ihn gewähren und ward das Geheimnis.
Juan wird in seiner Annäherung an Luisa jedoch lange Zeit von Katastrophenahnungen begleitet, ohne zu wissen warum. Diffus meint er, eine Heirat könnte der Einstieg in die Monotonie bedeuten. Der Tod der Gegenwart. Tatsächlich ist es nicht Luisa selbst, sondern das Wissen eines schrecklichen Geheimnisses, welches sie Juans Vater entlockt. Juans Vater ist Mörder. Aber ohne Selbstvorwürfe wie Lady Macbeth. Stattdessen schuldiges Verdrängen. Er tötete seine erste Frau, eine Kubanerin, um seine zweite Frau Theresa heiraten zu können. Ihr sind zunächst die Umstände unbekannt. Als sie jedoch kurz nach der Hochzeit von seinem Verbrechen erfährt, erschießt sie sich. Das Mitwissen macht sie mitschuldig und wird zur unerträglichen Last. Shakespeares Fluch.
Zwischen Juan und seinem Vater scheint es einen virulenten Ballast zu geben. Déjà vu Verbindungen ergeben sich bei der Hochzeitsreise von Juan und Luisa, als beide im Hotel in Havanna Zeugen einer Auseinandersetzung werden. Eine aufgewühlte Kubanerin fordert ihren Geliebten auf, seine Frau zu ermorden. Würde er dies nicht tun, würde sie sich das Leben nehmen. Tod oder Liebe. Liebe nur mit Töten.
Ist das nun ein hymnisch zu preisender Roman, wie der verstorbene Meinungsrichter Reich-Ranicki verkündete? Tatsächlich stolpert man durch die Buchpassagen. Wird durch inflationär auftretende Klammern fortlaufend zu Fall gebracht. Quält sich durch den zähen Fortgang des Plots mit seinen langatmigen Detailschleifen. Dabei bleibt der Sinninhalt von „Wort“ und „Bedeutung“ im Geflecht von Macbeth, Theresa und Juan verschwommen. Die beiden Ebenen von „Sprache“ und „Beziehung“ im Spannungsfeld von Schuld und Leben können kaum überzeugen. Auch sprachlich bleibt der Roman arm an Höhepunkten. Literarisch ausgefallen erscheint jedoch, den Komplex Sprache-Wissen-Wahrheit in der Ebene des Dolmetschens zu spiegeln. Note: 3 – (ur)<<