Ellenbogenspiele – Draginja Dorpat

K640_ellenbogenspieleFischer Bücherei 1970, 138 Seiten.
Merlin 1968,  218 Seiten.

>>  Mit den 4 Kapitelüberschriften Knut, Thea, Tina, Karol sind die 4 zentralen Protagonisten vorgestellt, aus deren Perspektive im Wesentlichen die Geschichte erzählt wird und die allesamt untereinander und noch mit drei weiteren Figuren schicksalhaft verbunden sind. Wäre ein interessanter Ansatz, wenn er konsequent durchgehalten würde.  Doch zu viele stilistische und auch inhaltliche Brüche, Sprünge, Wechsel trüben das Bild. Dorpat entwickelt ansatzweise durchaus sprachschöpferische Wucht, die aber dann aber doch zu häufig an der teilweise kruden Handlung zerschellt. „Studenten in Tübingen“- das weckt Erwartungen, die nicht erfüllt werden. Der Roman könnte überall spielen und das studentische Milieu der 60er Jahre ist, bis vielleicht auf die spießigen Zimmerwirtinnen, nicht getroffen. Es ist ein desillusionierender Roman über unerfüllte Liebe und die daraus resultierenden Psychospielchen, über das was im Alter von der Liebe übrig bleibt, über Demütigungen aller Art, über große Altersunterschiede in Beziehungen, man könnte auch noch den „Warencharakter“ der Liebe anführen. Allerdings wird das doch allzu bemüht in verschiedenen Handlungssträngen wiederholt und mit bildungsbürgerlichem Quatsch angereichert.
Dass dieser Roman in den 60er Jahren einem der vielen niveaulosen „Nackedei“-Filme dieser Zeit als Vorlage diente, mag auf den ersten Blick  verwundern.  Versucht man den ganzen Roman als groteske Komödie zu lesen, wird es wieder plausibel. Note: 3+ (ün)<<

 >> „Warten. Warten. Warten.“ Auch so kann ein Buch beginnen. Ich hatte mich auf Lektüre gefreut. Wegen gewisser Freizügigkeiten war der Roman zu seiner Zeit  (1966) zum Skandalon geworden und auf die Liste jugendgefährdender Schriften gesetzt worden. Das macht neugierig. Dazu noch Tübingen-Bezüge. Was will man mehr. Dann aber werden ausschließlich unerfüllte, gescheiterte Beziehungen geschildert. Die Ellenbogenspieler/innen, einige davon Getriebene, scheitern sämtlich, teilweise bei höchster Bildung. Oft habe ich mich gefragt, ob Belesenheit demonstriert werden soll (Aufzählung wichtiger Personennamen zum Beispiel) oder ob die Autorin an eine Parodie gedacht hat? Viele der Dialoge wirken auf mich bemüht, konstruiert, artifiziell. Ein pessimistisches Buch. Früher war halt auch nicht alles besser. Befriedigt ist am Ende nur ein Hund: “Queen sah zufrieden aus“ liest man auf der vorletzten Seite. Immerhin. Mir tut der Hund eher leid. Warten. Warten. Warten. Ich habe bis Seite 218 gewartet. Vergebens. Note: 3– (ax)<<

 >> Nein, dieser Roman ist in weiten Teilen missglückt. Figuren ohne jede Empathie, flüchtige Beziehungen – vor allem horizontal. Ein Mix aus Parodie, Groteske und Zynismus, der dem studentischen  „Treiben“ der ausgehenden 60er an keiner Stelle gerecht wird. Zwischen (unveröffentlichtem) lyrischem Elaborat und vielfach vergossenem Ejakulat zu viel Bildungsgeschwafel.  Siebenrogg, Rudi Phallus Ellenbogen, Christina Edle von Carolsfeld, das Beffchen und als Sodomkrönung noch Queen – das müsste  selbst für „Für Sie“ zu viel sein. Einzig die  Juristische Fakultät der Universität Tübingen dürfte sich freuen:  Theas Liebesenttäuschung heilt die Promotion. Eine vorbildhafte Botschaft: Seminar statt Bettchen. Note: 4/5 (ai) <<

>>Thea hatte eine frühe Liason mit dem gescheiterten Pfarrer, wohingegen sie später vor allem die unbekleidete Begegnung mit Knut gerne vertieft hätte, wenn dieser sich nicht bei seiner Brötchengeberin Jertrude hätte verausgaben müssen, worauf Thea sich am hörigen Gilman respektlos auslebte, gleichzeitig Herrn Ellenbogen nicht sofort zurückwies und schließlich dann doch von Karol entjungfert wurde. Der erniedrigte Gilman widmete sich darauf Tina, die ansonsten von Herrn Ellenbogen in die Rückenlage gebracht wurde, sofern er sich nicht der Blondine mit der Bulldogge hingab, während deren Hund von Theas Pfarrer sodomistisch befriedigt wurde. Ungute, erotische Ellenbogenspiel, die in der moralisch verengten Epoche der 60er Jahre noch als befremdliches Sittengemälde aufgefasst und offiziell als jugendgefährdend eingestuft wurden. Ein halbes Jahrhundert später wirken die literarischen Tabubrüche von damals wie ein unaufgeregtes Unglück, das es unter Umständen lohnt aus ganz anderer Sicht zu durchleuchten.
Alle wollen, alle können nicht oder nur das eine und keine(r) kann es richtig. Alle suchen ohne zu wissen, was fehlt. Und weil das so ist, tun sie das Falsche. Sie enttäuschen, sie verletzen, sie stürzen und verteilen den Schmerz um. Sex steht vorne, hinten fehlt der Respekt, die Leichtigkeit, die Liebe. Das akademische Rudel und seine Rituale kreisen in einem traurigen Perpetuum mobile, das sich selbst in Bewegung hält.
Im Milieu der Tübinger Universitätsstadt schreibt Draginja Dorpat den Herum-vagabundierenden einen intellektuellen Scharfsinn zu, den sie vor allem dazu benutzen, ihre Gesprächspartner zu filetieren noch bevor jede Annäherung garen kann. Auch wenn den Roman die Suche nach Bindung und Ansprache als hartnäckiges Merkmal aller Protagonisten durchzieht, zeichnet Dorpat die Akteure als zuverlässig unbeholfene Beziehungsversager, die mit vernichtendem Ungeschick zu Werke gehen. Stimmig zu den fragmentierten Begegnungen, zerfasert die Autorin bewusst die Gedankengänge. Stimmig dazu inszeniert sie den Duktus und Szenen als ein Stakkato von bizarren Assoziationskaskaden. So zerfranst wie die Gedanken und Gestalten, so stimmig zerfranst sind mitunter ihre Darstellungen.
Knut ist nicht nur Adonis und begabter Psychologiestudent, sondern auch angewiderter Liebesdiener, der für seinen Ausbildungserfolg sexuelle Frondienste leistet. Auch die Jurastudentin Thea Siebenrogg wird ähnlich wie Knut von der Vision eines beruflichen Erfolgs getrieben, dessen Vorbereitung von sexuellen Unwettern durchnässt wird. Anders dagegen die Damen Jertrude und Tina Christina Edle von Carlsfeld, deren berufliche Werdegänge schon in der Lebensmitte ihr Ende erreichten. Die eine ist verwitwete Unternehmerin und die andere vergraute Redakteurin einer Hausfrauen-Zeitschrift. Gemeinsam ist beiden die Bitterkeit des Verfalls und die Verzweiflung im Angesicht ewig attraktiver Heerscharen knack-erotischer Studentenkonkurrentinnen. Dorpats übrige Mannsgestalten umfassen eine bunte Charakterpalette: der Redaktionschef Rudolf Ellenbogen als Machtmacho mit monumentaler Libido, der feinsinnige Musenverlierer Lambert Gilman, der hormonbewusste Redakteur Karol mit einem Restbestand an Anteilnahme und natürlich der vom evangelischen Pfarrdienst zur Sodomie konvertierte Kriegsveteran. Allen gemeinsam ist die Beziehungs-Hilflosigkeit.
Auch wenn der Roman trotz brillanter Sprachpassagen letztlich überladen und reifebedürftig wirkt, so kann die Plot-Monotonie auch im Sinne der Beziehungsmonotonie des auftretenden Personals gedeutet werden. So verstanden harmonieren Inhalt und Form. Dennoch hätten Gegenbilder das Werk lesefreundlicher gemacht. Schon ab der Mitte und erst recht am Ende des Werkes wird man in den Strudel des ewig Gleichen gezogen und sehnt sich im Mief der sexuellen Gemengelage nach frischer Luft.
Note: 3 (ur) >>

Das Gewicht des Schmetterlings-Erri De Lucca

K640_das gewicht des schmetterlingsGraf 2012,  106 Seiten.

 >> Der Vergleich drängt sich auf: Geht es in Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ um den Kampf eines alten Fischers mit einem gigantischen Schwerfisch, steht der ultimative Zweikampf eines alternden Jägers mit einem übermächtigen Gamsbock im Zentrum von Erri de Lucas  „Das Gewicht des Schmetterlings“. Doch anders als beim doch etwas angestaubten Klassiker habe ich mich bei dieser Erzählung keine Sekunde gelangweilt. Es mag an meiner weitaus größeren Affinität zur Bergwelt liegen, aber auch de Lucas Sprache entwickelte bei mir eine besondere Sogwirkung. Wer einmal Gemsen im Hochgebirge beim leichtfüßigen Klettern beobachtet hat, findet Sätze wie “ Die Hufe der Gämse sind die vier Asse eines Falschspielers. Durch sie ist die Schwerkraft kein Gesetz mehr, sondern eine Variante des Themas“ einfach wunderbar.
De Luca verleiht dem mächtigen Gamsbock eine menschliche Persönlichkeit, spricht von seinem Stolz, seiner Tapferkeit, seiner Liebe, seinem Mut, lässt den Leser an den Überlegungen der Gemse teilhaben ( „So wollte er nicht enden“). Dieser kennt seinen Widersacher, den „Mann“, den „Mörder seiner Mutter“ , der ihm schon seit Jahren auf den Fersen ist, ganz genau. Im Dorf, wo er das Fleisch und die Felle der gewilderten Gemsen verkauft, kennt und beschützt man ihn, nennt ihn den „König der Gämsen“, doch der Mann weiß genau , dass dieser Ehrentitel einem anderen König gebürt.
Kurz angedeutet wird die politisch revolutionäre Vergangenheit des Mannes, der sich nach deren Ende in die Berge zurückgezogen hatte und dort seither als einsamer Wilderer lebt und schon über 300 Gemsen erlegt hat. Nur den mächtigen König konnte er bisher nicht erlegen. Die Zeit drängt aber, denn der Gamsbock ist schon alt und würde das nächste Jahr vermutlich schon nicht mehr erleben. Ebenso ergeht es seinem Jäger, auch der sieht sein eigenes Ende nahen. Und so strebt alles unaufhaltsam dem großen showdown entgegen. Das titelgebende „Gewicht des Schmetterlings“ gibt dem Geschehen schließlich eine schicksalhafte Wendung. Ein Hinweis auf die beängstigende Macht des Zufalls, der schmetterlingsleichten Grenze zwischen Leben und Tod. Für mich ein sehr stimmiges Bild und selbst die Verschmelzung der beiden „Er“- Figuren im Tod  bleibt unterhalb der Kitschgrenze. Einem Sprachkünstler verzeiht man halt so manches.
Note: 1– (ün)<<

>> „An diesem Novembertag spürte der König, dass sein Untergang nahte“ (S.14) –  „An diesem Novembertag spürte der Mann, dass sein Ende nahte“ (S.29).  Ein letztes Duell zweier Einzelgänger in der Bergwelt der Dolomiten steht an. Hier der König der Gämsen, ein prächtiger aber in die Jahre gekommener Gamsbock,  20 Jahre unumschränkte Herrschaft über sein Rudel, die brünstigen Weibchen stets zu Diensten, dort der 60jährige Wilderer, in seiner Jugend ein politischer Revolutionär, dann aber enttäuscht  in die Berge seiner Kindheit zurückgekehrt, abweisend gegenüber allem Weiblichen . Dieser letzte Novembertag wird von einem Erzähler sprachlich virtuos aus der Perspektive des jeweiligen Protagonisten beschrieben. Seit Jahren war es dem Wilderer mit seiner 300er Magnum und einer Elf-Gramm Kugel nicht gelungen den König der Gämsen zu erlegen. Unfehlbare Witterung und Beherrschung der Szenerie verhindern, dass den König der Gämsen das Schicksal „seiner Mutter“ ereilt. Mit der Personifizierung des Tiers wird die Auseinandersetzung mit „dem Mann“ zu einem Gefecht auf Augenhöhe, ja der König der  Gämsen gewinnt gar an Souveränität gegenüber dem Wilderer. Selbst bei letzten „show-down“ verzichtet der Gamsbock auf mögliche Rache – die Tötung des Jägers wäre ein Leichtes gewesen – und ergibt sich mit Stolz dem Todesschuss. Mag auch an einigen Stellen die poetische Sprachgewalt des Guten zu viel sein, de Luca kann einfühlsam beobachten und Natur großartig beschreiben.
Schade nur, dass nicht der Wärmestrom eines weiblichen Dickichts sondern die Zweisamkeit des Eismanns das letzte Wort hat. Das Gewicht des Schmetterlings hätte auch auf dem Horn des Mannes einen würdigen Platz gefunden. Note: 1/2 (ai) <<

>> Erri de Luca als der europäische Ernest Hemingway? Nein – oder vielleicht geringfügig ja, wenn man die beiden Werke „Das Gewicht des Schmetterlings“ und Hemingways „ Der alte Mann und das Meer“ vergleicht. Beide Erzählungen zeigen Parallelen in zahlreichen Strukturelementen, die Handlungskonzepte scheinen einem ähnlichen Grundprinzip zu folgen, wenn auch einmal in den Bergen Europas und das andere Mal in den Meeren Amerikas. In Details der Plots sowie im Sprachduktus verhalten sie sich jedoch wie Fremdsprachen zueinander.
Beide Werke handeln gleichermaßen von willensstarken Mannsgestalten, die den unmittelbaren Kampf mit ebenso fordernden Kreaturen der Natur suchen. In beiden Fällen sind es Einzelgänger mit entrückten Beziehungen zu Frauen, weitgehend losgelöst, teils entfremdet von sozialen Bezügen. Ihr Dasein ist hier wie dort ein schlichtes Überleben in spartanischer Einsamkeit, reduziert auf das Ich vor der eindeutigen Kulisse der Felslandschaften bzw. dem endlosen Meereshorizont. Gemein ist beiden auch das fortgeschrittene Lebensalter und die Todesnähe, die den Drang noch einmal etwas Großes zu tun, wesentlich befördert. Sich am Ende des Lebens zu wissen, verändert die Männer in zweierlei Weise. Zum einen schwindet im Anblick des natürlichen Endes annähernd jede Furcht und erlaubt Grenzen zu ignorieren. Zum anderen ermöglicht dieser Zustand den Zielpunkt ins kaum noch Machbare zu steigern. Entsprechend schwergewichtig muss die Zielgröße sein. Für den Fischer ist es ein Schwertfisch und für den Wilderer ein Gamsbock – in beiden Fällen von noch niemals beobachteter Größe, Kraft und Gefährlichkeit, die die Männer spielend das Leben kosten könnte. Beiden Männer gelingt der Todesstoß, beide eignen sich die Beute an, beide tun dies ohne Reue aber mit Respekt vor dem ebenbürtigen Gegner, und beide verlieren am Ende die erlegte Trophäe: der eine an die Haifische, der andere an den Tod, der ihn überrascht. Soviel zu den Ähnlichkeiten.
Der alte Fischer kennt nur den Wunsch nach einem großen Fang ohne einen wesentlichen Einfluss auf die Wahl des Opfers zu haben. Ganz anders dagegen der Wilderer, der schon seit Jahren gezielt dem König der Gämsen auf der Spur ist. Während der Fischer quasi im schuldfreien Raum fischt, betreibt der Wilderer sein Tun in einer erklärten Verbotszone. Während die Tat des Fischers in erster Linie Lebenserhalt und nur bedingt Ego-Pflege ist, ist beim Wilderer die Gewichtung umgekehrt. Der Mann der Alpen ist anders als der Fischer schon immer ein Rebell gewesen, übrig geblieben und vereinsamt aus den 68er Jahren, geschult im taktischen Kampf und angepasst an ein Dasein im Untergrund.
Ähnlich verschieden sind die natürlichen Gegner. Hier der unbekannte Marlin in der lichtlosen Tiefe des Ozeans und dort der Gamsbock, an dessen Sozialisation der Leser ebenso teil hat wie an seinen ungewöhnlichen Charakterzügen. Während Hemingway den tierischen Gegner weitgehend in der Beschränktheit belässt, wie man ihn über eine Fanglehne eben nur wahrnehmen kann, humanisiert de Luca den Gamsbock und bereitet damit den Zweikampf auf Augenhöhe vor. Der Gamsbock denkt, täuscht, entwickelt Ehrgeiz und zeigt ein Kausalverständnis, wenn er sein Fell in einem Spannungsfeld wenig später einschlagender Blitze auflädt, um seine Flöhe zu verscheuchen. Dieses Tier ist ebenso wie der Wilderer ein Outlaw: unter Härten gereift, Gesetze ignorierend, brutal im Zweikampf, aber dennoch majestätisch und mit ansteckendem Stolz. Der Fischer kämpft mit einer Naturgewalt, der Wilderer gegen eine Identität.
Sehr verschieden ist beiden Werken auch der Duktus: bei Hemingway die ungeschmückte, fast unbekleidete Sprachgebung, bei de Luca das raffinierte Gewand mit überraschenden Accessoires, feinfühligen Metaphern und der belebende Verzicht auf einen ausschließlich gradlinigen Handlungsstrang. Doch leider bügelt de Luca die Wäsche zu heiß, in dem er wiederholt die Grenze zum Kitsch ignoriert. Warum muss ein weißer Schmetterling als Zeiger einer Schicksalsuhr ein halbes Dutzend Mal bemüht werden? Warum muss der Wilderer just nach dem Erlegen des Gamskönigs auch sofort aus dem Leben scheiden? Warum müssen die beiden Todesfälle sogar in einer Umarmung enden, in dem der tote Gamsbock auf dem toten Wilder fest friert, so dass man sie im nächsten Frühjahr mit der Axt trennen muss? Und warum braucht es dann noch zuguterletzt den gefrorenen Abdruck eines weißen Schmetterlings auf dem Horn der toten Gams? (Hier wäre das erotisch offene Ende eines versierten Mitlesers – siehe dort – gehaltvoller gewesen.)
Empfohlen wird dennoch die simultane und damit mehr als additive Lekture des Nobelpreis- und des Petrarca-Preis Werkes. Note:  2– (ur)<<

 >> „Der Schmetterling, der Schmetterling, war einmal auch  n u r Engerling“, heißt es in einem Gedicht des leider fast vergessen Anton Kreidebleich. Dieser Vers fiel mir während der Lektüre des kurzen Romans ein, weil ein Schmetterling eine schicksalhafte Rolle spielt. Wie im Film, wenn die Musik einen spüren lässt, dass Wichtiges passieren wird, flattert ein weißer Schmetterling durch die Schlüsselstellen, ja begleitet die beiden Protagonisten bis in den Kältetod. Beide, Tier und Mensch wissen und spüren schon früh, dass sie dem Exit nahe sind. Dabei bleibt der Wilderer in seinem selbstmarginalisierten Außenseitertum für mich der sympathischere. Der Gämsenkönig ist einfach ein zu großer Macho.
Die „Humanisierung“, die Vermenschlichung von Tieren, wie sie der Autor hier praktiziert, spricht mich nicht. Ich erlaube mir von einer „Bambisierung“ zu sprechen.
„Die Ziege des Herrn Seguin“ (Alphonse Daudet), die eine nachtlang mit einem Wolf kämpft und erst  im Morgengrauen aufgibt, gefällt mir besser. Note:  3– (ax)<<

Epilog

Der Schluss der Erzählung hat nicht alle zufrieden gestellt. Und so wurde zum ersten Mal in der Geschichte des Literarischen Quartetts eine eigene Version (ai) der Schlussszene vorgestellt.

Was würde sie ihm schon entlocken können, diese Frau, die die schamlose Intimität besessen hatte mit ihrer feuchten Hand seinen gegerbten Unterarm zu berühren. Jetzt, da der Mann abendschwer zurückkam in seine Hütte, gab es Gelegenheit nachzudenken, ob denn jenes Gefühl der Vertraulichkeit mit den Bergen ihn unempfänglich gemacht hatte für eine Begegnung ganz anderer Art. Beim Blick zurück stand der Gamsbock noch immer auf dem Felsvorsprung, stolze Kraft, talbewachend. Beim Eintritt In die Stube knisterten die Scheite aus Tannen- und Lärchenholz. Der Gewohnheit folgend lehnte er seine 300er-Magnum an die Ofenbank. Noch vor wenigen Stunden hatte sie den König der Berge gekränkt. Wie konnte ihm auch nach all den Jahren der wildernden Unfehlbarkeit jener Schuss entgleiten, nein, nicht nur fingerbreit, krachend stiebte unter den Vorderläufen der Stein. Der Ostwind schlug gegen das halbgeöffnete Fenster.  Er goss sich heißes Wasser in den vom Morgen noch abgestandenen Becher von Felsenrapunzel und fuhr sich mit der Rechten übers Gesicht.  Gewehröl und getrockneter Schweiß hatten die Triebe von Ginster und Latschenkiefer überdeckt. Der Mann blieb stehen. Was er jetzt vor sich sah, hatte sich nicht angekündigt wie jener Blitz in den Bergen, der am Boden zunächst sein elektrisches Spannungsfeld aufbaut, bevor er zuschlägt. Er hatte auch keinerlei Witterung irgendeines Parfums wahrgenommen wie vor Tagen drunten als die Journalistin ihn geradezu bedrängt hatte zu ihm hinaufzuklettern. Vor ihm lag hingestreckt auf schwarz glänzenden Lammfelldecken ein Frauenkörper, schutzlos, nackt, begierig fordernd. Der Mann wandte sich ab. Die Gattung Mensch ist mit mangelhaften Sinnesorganen ausgestattet. War er zu rasch abgestiegen, hatte der Fehlschuss die Sinnestäuschung ausgelöst. Hatte nicht oben nachdem die jungen Böcke ihre Kräfte maßen einer, ohne von den anderen bemerkt zu werden, in der ersten Hitze eine Geiß bestiegen.  Noch Stunden danach nimmt der Mensch den Mandelgeruch wahr, der ihren Geschlechtsdrüsen  hinter den Hörnern entströmt. Der Mann hatte nicht die Zeit die Wahrscheinlichkeit des Augenblicks zu überprüfen. Es zog ihn hin. Er fühlte sein schwellendes Horn eingegraben in den samtenen Unterschlupf, einem sicherlich nicht gänzlich unberührten Dickicht. Kein Rudel weit und breit. Zweisame Einsamkeit wie er sie noch nie erlebt hatte – wortlos. An diesem Novemberabend spürte der Wilderer, dass sein Ende nahte. Sein Unterarm blieb unberührt. War es das Abendgeläut einer fernen Glocke oder der Flügelschlag  eines weißen Schmetterlings, den er noch wahrnahm.

Der alte Mann und das Meer-Ernest Hemingway

K1024_der alte Mann und das Meerrororo 2012 144 Seiten.

>> Nobelpreis hin oder her: Ich habe mich gelangweilt bei der Lektüre dieses Klassikers. Die lakonische, einfache Sprache, in der parabelhaft der ewige Kampf des einsamen Fischers Santiago mit dem Meer erzählt wird, wirkt heute doch ein wenig abgehangen und wenig aufregend. Die Kernbotschaft: „Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben“ (S.117)  ist unverzichtbarer Teil des fragwürdigen Selbstbildes der amerikanischen Nation, verinnerlicht vor allem durch den von Hollywood gepflegten Mythos des Siedlers in den unendlichen Weiten des Westens. Note: 3 (ün)<<

>> 84 Tage fährt der alte Fischer Santiago hinaus aufs Meer ohne einen Fisch zu fangen.  40 Tage in Begleitung des  Jungen Manolin . Aber es ist keine „endgültige Niederlage“ des alten Mannes. Die letzte Fahrt hinaus aufs Meer bringt die Wende. Ein riesiger Marlin „niemals habe ich etwas Größeres und Schöneres oder Ruhigeres  oder Edleres gesehen“ hat angebissen und zwischen Fischer und Fisch entwickelt sich eine merkwürdige Schicksalsgemeinschaft. In Selbstgesprächen und fiktiven Gesprächen mit dem  Fisch erhält der „Show-down“ weit draußen vor der Bucht von Havanna eine philosophische Dimension.  Respekt und Würde („ungeheure Würde des Fisches“) kennzeichnen den Zweikampf zwischen Mensch und Natur. Ein Todeskampf auf Augenhöhe allerdings ist es nicht, bedeutete doch das Kappen der Leine für den Fischer nur den Verlust der Ware, nicht aber den Verlust des Lebens. So gesehen sind verbale Tötungshemmungen „Der Fisch, mein Freund“, „Bruder  Fisch“, „Es tut  mir Leid, Fisch“ auch angesichts des Berufsethos eines Fischers obsolet. Solche Wertschätzung des Opfers genießen übrigens Markrele, Thunfisch und andere nicht, ganz zu schweigen vom Killerimage bestimmter Haie, denen Santiago mit Harpune, Messer, Keule wenig zimperlich zu Leibe rückt. Was zunächst nach zweitägigem und nächtigem –  auch für den Fischer – blutigem Kampf mit der Harpunierung des Fisches als Sieg erscheint, verliert mit dem Auftritt der Haie im wahrsten Sinne jede Größe . Der Kreislauf der Natur verhindert den großen Fang. Statt reicher Beute, statt auskömmlicher Lebensgrundlage bleibt vom großen Fisch ein Kopf und ein stattliches Gerippe, das am  Strand vor der „Terrace“ von unwissenden Touristen für einen Hai gehalten wird .  Was aber für Santiago und den Hemingwayschen Leser bleibt, ist das sattsam bekannte immer wiederkehrende uramerikanische Credo: „Aber der Mensch darf nicht aufgeben…Man kann vernichtet werden, aber man darf nicht aufgeben“. Santiago – ein sehr gebrochener Heldenmythos- in einfacher Sprache, mit noch einfacherer Botschaft.
Die Faszination und die Aura, die diese Erzählung seit ihrem Erscheinen umgibt, wollte sich bei mir nicht einstellen. Ernest verzeih! Note : 3/4 (ai) <<

>> Hervorgegangen aus einem kürzeren Zeitschriftenbeitrag 1936 formte E.H. die 1951 vorliegende Form der Santiago Geschichte zu einer Parabel über die schicksalhafte Verknüpfung von Lebensbestimmung an der Sollbruchstelle von kargem Leben, sinnstiftender Aufopferung, ihrer Vergeblichkeit und tödlicher Begegnung zwischen den Kreaturen. Schon 3 Jahre später erhielt Hemingway auch dafür den Literaturnobelpreis. In schlichter Prosa zeichnet er das Wertesystem eines einfachen Lebensentwurfs. In diesem dient das gefahrvolle Hochseefischen eines alten Mannes nicht nur dem Lebenserhalt sondern ist auch die Bühne für das Selbstwertgefühl. Die Ich-Steigerung und das damit einhergehende Töten entpuppt sich als respektvolles Kräftemessen, in dem der eigene Tod nicht gescheut, sondern als verdienter Erfolg der sich wehrenden Natur nicht ausgeschlossen wird. Ein Mann kämpft, hart gegen sich selbst, unbeirrt, aufrichtig und prinzipienfest. In diesem Sinne auch Sinnbild amerikanischer Ideale. Und dennoch steckt in der Parabel auch ein antiidealistischer, fatalistischer Zug, denn dieser Kampf entpuppt sich als vergebens und die Frage steht im Raum, ob er besser nicht hätte gekämpft werden sollen.
Der alte Fischer Santiago träumte schon lange nicht mehr von den großen Kämpfen und den Frauen, wenn er in seiner dürftigen Hütte auf dem zusammengerollten Hemd seinen Kopf für die Nachtruhe bettete. Der 85ste Tag würde morgen anbrechen, ohne dass er einen einzigen Fisch gefangen hatte. Der kleine Junge brachte ihm in aller Frühe einen Kaffee, wie er überhaupt wie ein Alter für den Alten sorgte. Wieder stieg der Fischer in sein schon lange leidendes Boot, wie immer ohne Proviant und ruderte weiter ins Meer hinaus als sonst. Das Meer war für ihn nicht der Feind el mar, für ihn war die weibliche See eine schenkende Frau, wenn auch von launischer Natur. Drei lange Leinen mit kleinen Sardinen gespickt, ließ er in unterschiedliche Tiefen hinab, während er weiter in den Horizont trieb. Eins mit dem Dialekt des Meeres verstand er die Sprache der Makrelen, ließ sich von den Fregattvögeln lenken, schätzte die Meeresschildkröten, die mit Genuss die gallerte Agua mala mit ihren feuerschmerzenden Tentakeln fraß und liebte die Gutmütigkeit der Tümmler.
Endlich biss ein weißer Thunfisch an, der einen prächtigen Köder abgeben sollte. Wie er viel später feststellte, hatte tatsächlich in einhundert Faden Tiefe ein unglaublich schwerer Marlin den Thunfisch verschlungen. Der Marlin war so gewaltig, dass er das Boot auf das offene Meer hinauszog. Immer die gleiche Richtung, immer die gleiche Geschwindigkeit, nie auf- und nie abtauchend. Dennoch mit sich nicht im Geringsten erschöpfender Kraft. Damit das Seil durch einen plötzlichen Zug des Fisches nicht riss, hatte es der alte Mann um seinen Rücken gewunden. Es war ihm unmöglich gegen die Kraft des Fisches das Seil einzuziehen. Unbändig war der Zug. Lange war schon kein Land mehr in Sicht. Die Nacht war hereingebrochen, der schmerzende Rücken wurde fast unerträglich. Doch der Alte gab nicht nach, selbst nachdem er durch eine abrupte Bewegung des Fisches blutig zu Boden gerissen wurde. Der Morgen brach an und die sengende Sonne begann die Luft erneut zu fressen. Der quälende Krampf seiner um das Seil gepressten Hand war nicht mehr zu lösen. Dann stieg der Fisch an die Oberfläche. Es war ein riesiger Marlin, größer als man je zuvor einen gesehen hatte, noch größer als das Boot. Unmöglich ihn ins Trockene zu holen.
Trotz des Respekts für die Kreatur war der Wille des Alten unbändig. Ebenso der Glaube an sich, nachdem er vor vielen Jahren einen eine ganze Nacht dauernden Kampf im Armdrücken gewonnen hatte. Es blieb das unerschütterliche Gefühl mit festen Willen jedes Ziel erreichen zu können. Er wusste, dass er den Fisch niederkämpfen würde, selbst wenn dieser ihn töten sollte. Dies war ihr gemeinsames Schicksal. Der riesige Fisch wurde langsamer und gab dem Alten die Möglichkeit kleine, gefangene Fische roh zu verschlingen um bei Kräften zu bleiben. Es würde aber keinen Menschen geben, der es wert gewesen wäre, sich so einen stolzen Marlin einzuverleiben. Die zweite Nacht brach herein. Plötzlich explodierte der Fisch aus dem Ozean, sprang wieder und wieder in die Höhe, um krachend ins Meer zurückzustürzen, während das rasend schnell nachgebende Seil dem Alten Hand und Rücken versengte. Bis zum Morgen sollte der Fisch zunehmend an Kraft verlieren, immer engere Kreise um das Boot ziehen, um schließlich entlang des Bootes hin- und her zu schwimmen, was der Alten nutzte, um die Leine immer weiter zu verkürzen. Als der Fisch an der Oberfläche dicht am Boot vorbeizog, rammte er ihm die Harpune so tief in den Rücken, dass das Herz durchstoßen wurde. Er hatte noch nie einen so edlen Bruder gesehen. Jetzt füllte er sich schlecht – nicht weil er überlebt hatte, sondern weil sein Sieg die Niederlage dieser würdevollen Natur war. Dennoch war dieses seine Bestimmung.
Der Alte vertäute den Marlin am Boot und setzte das kleine Segel. Schon nach einer Stunde brach der erste Hai ein riesiges Stück aus dem Marlin. Auch wenn der Alte mit der Harpune den Hai erlegen konnte, war seine Würde und die seines angefressenen Bruders schmerzlich entweiht. Bald folgten weitere Haie, gegen die der alte Mann mit sinkendem Erfolg erbitterten Widerstand leistete. Bei jedem Angriff der Jäger wurde der große Fisch in kleinere Stücke gerissen. Bei jedem Angriff büßte der Fischer weitere Waffen ein, bis er schließlich sogar die Pinne vom Ruder riss, um hilflos auf die fressgierige Horde einzuknüppeln. Während die Nacht noch geduckt auf dem Ozean lag, zerfiel der stolze Marlin zu einem fleischlosen Gerippe. Der Alte hatte den Kampf verloren. Er war ebenso getötet worden. Jetzt fraß die Reue ihn, denn sein Töten war den Tod nicht wert gewesen.
Gegen Morgen erreichte er irgendwie den kleinen Hafen. Leer verkroch er sich in seine Hütte, wo ihn später der Junge fand, während die Dorfbewohner ungläubig vor dem gewaltigen Skelett standen, das immer noch an der Bordwand hing. Ja, er würde mit dem Jungen wie früher wieder hinausfahren. Der Kleine wollte noch so viel lernen.
Note: 
2– (ur)<<

 >> Der Inhalt des Romans ist Ihnen, geneigter Leser, geneigte Leserin, sicherlich nicht unbekannt. In einem Projekt der lokalen Gender-Mainstreamforschung (gefördert mit Dritt- und Viertmitteln sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG) wird derzeit untersucht, wie der Roman ausgesehen haben könnte, so der alte Mann eine alte Frau gewesen wäre. Erste Zwischenergebnisse zeigen, dass sich sowohl der Schwertfisch als auch die Haie nicht wesentlich anders verhalten hätten. Sie folgen ihrer naturgemäßen Bestimmung, basta. Die Kommunikation Fischerin- Schwertfisch wäre hingegen sicherlich noch etwas empathischer ausgefallen. Und Hemingway hätte sich die langweiligen Einschübe zum Thema  Baseball locker sparen können. Ebenso Santiagos Träume über Löwen. Welche Frau träumt von Löwen? In der Forschung konnten bislang nur Hauskatzen als Traumthemen nachgewiesen werden. Manche Reflexionen würden, von einer Frau gedacht, an Tiefgang gewinnen. Mit vier Sätzen (Seite 84) kann dies leicht belegt werden: „Stell dir mal vor, wenn eine Frau jeden Tag versuchen müsste, den Mond zu töten, dachte sie. Der Mond läuft davon. Aber stell dir mal vor, wenn eine Frau jeden Tag versuchen sollte, die Sonne zu töten. Wir sind noch glücklich dran, dachte sie.“ Das dachte ich auch. Bis heute.
Und Santiago? Ich glaube, wir müssen uns Sisyphos Santiago als glücklichen Menschen vorstellen. Note:  3 (ax)<<

Selbst denken- Harald Welzer

K1024_selbst_denkenS. Fischer 2013 , 329 Seiten.

>> In seiner umfassenden und klugen Analyse trifft Welzer den Nerv des Kapitalismus und seines Grundgesetzes, dass moderne Gesellschaften ohne Wirtschaftswachstum nicht funktionieren. Da dieses Wachstum aber mit einen exzessivem Verbrauch von endlichen Ressourcen einhergeht, liegt es auf der Hand, dass dieses Modell nicht ewig weiter funktionieren kann. Ökologie und Wachstum schließen sich aus. So weit, so schlecht. Die in der politischen Landschaft vorzufindenden Kritiken am System, von Greenpeace, über die Grünen und occupy bis hin zu Yunnus mit seinen Mikrokrediten taugen aber leider nach Welzers Ansicht auch nichts. „Es geht nicht um Korrekturen, sondern um Umkehr“. Die von grünen Vordenkern immer ins Feld geführten Effizienzsteigerungen („Faktor 5“) hätten bisher immer in Mehrproduktion gemündet. Der Protest sei zur bloßen Geste entlleert worden. Auch alle Klimakonferenzen bringen seiner Meinung nach nichts, da das Wissen keine hinreichende Voraussetzung dafür ist, die Verhältnisse zu ändern. (Ganz zu schweigen von dem Ressourcenverbrauch, der mit den gigantischen Konferenzen verbunden ist). Auch der von linker Seite vielfach propagierte „kritische Konsum“ oder „grünes Wachstum“ sind immer noch Konsum oder Wachstum und damit Teil des Systems, das die Welt unweigerlich an die Wand fährt. Was tun? fragte schon Lenin. Gibt es also doch kein richtiges Leben im falschen, wie Adorno postulierte? Und jetzt kommt’s: Adorno lag falsch, es gibt ein richtiges Leben im falschen. Was uns Welzer allerdings hier als vorbildhafte Handlungsmuster für „Selbst denken“ an einigen ausgewählten Beispielen präsentiert, wirkt doch zur vorher (wohl zurecht) geschwungenen Keule, seltsam niedlich und wenig überzeugend. Keine Appelle und Belehrungen mehr, sondern handeln, auch oder gerade im kleinen und vor allem: darüber reden und weitererzählen. Handlungsspielräume nutzen. Das klingt gut. In ihnen die versprochene „Anleitung zum Widerstand“ zu sehen, mag mir jedoch nicht gelingen. Note: 2/3 (ün)<<

>>  Welzer liefert eine schonungslose Analyse – und ich befürchte eine im wesentlichen richtige – Analyse des Zivilisierungsmodells der Moderne. Da sich seiner Meinung nach Ökologie und Wachstum ausschließen, sieht er die „Rückgewinnung von Zukunftsfähigkeit“  nur in einer „Gemeinwohlökonomie“, die auch bereit ist, Wohlstandsverluste in Kauf zu nehmen. Das Konzept einer Abkehr von der „expansiven Moderne“ hin zur einer „reduktiven, nachhaltigen Moderne“  setzt Einsicht in die Notwendigkeit voraus . Ist diese vorhanden, ist der Schritt zum „Selbst handeln“ noch schwieriger, erscheint doch  das richtige Leben im Falschen möglich. Wo die Einsicht in die Notwendigkeit fehlt   und sie muss vor allem bei  denjenigen fehlen, die weit weit außerhalb der „Komfortzone“ leben, ist  Welzers  „Utopie der Zivilisierung durch Weniger“ keine Perspektive.  Welzers Beispiele gelungener wenn auch sehr bescheidener  Gegenentwürfe am Ende seines  Buches zeigen die Richtung. Sein Appell, es gebe kein plausibles Argument nichts zu tun, ist auch bei mir angekommen – Konsequenzen?  Ein Arbeitsauftrag für unser LQ. Note: 2/3 (ai) (nachgebessert)<<

>> Als politökologischer Kritiker der Gegenwartskultur des „Alles immer“ geißelt Welzer in einer essayistischen Sammlung die letztlich vernichtende Praxis der globalen Produzenten und dankbar-gierigen Konsumenten, deren Ressourcenverbrauch zum Zusammenbruch der Wirtschaftssysteme führen müsse. Der Hochgeschwindigkeitskonsum des Kapitalismus habe eine Konsum Insuffizienz bei Endverbrauchern erzeugt, die noch effizienter als die des weitgehend überwundenen Kommunismus sei. Dabei sei der Eingriff in das komplexe Planetensystem Erde so einschneidend, dass die Gegenwart bereits als erdgeschichtliches Zeitalter des Anthropozän aufgefasst werden könnte, da kein anderer Einfluss den Globus so stark verändere wie der Mensch. Die Lebensgrundlagen schwinden, weil der Konsum qualitativ und quantitativ immer schneller auf einen Höhepunkt zugespitzt werde, wonach es nur einen umso rapideren Absturz geben könne. Entsprechend charakterisiert Welzer die Jetzt-Zeit als reduktive Moderne und klassifiziert den Ist-Zustand als Diktatur der Gegenwart auf Kosten der Zukunft. Der Kapitalismus sei dank seiner Produktivität das erfolgreichste Wirtschaftssystem, das letztlich sehr effizient flächendeckend Lebensstandards hebe und dies über die Globalisierung geradezu infektiös exportiere. Dies bleibe auch gültig, obwohl es viele Verlierer gäbe. Gleichzeitig müsse objektiv eine gewisse Humanisierung zugegeben werden, da zum Beispiel die Zahl der kriegsbedingten Toten im Laufe der Jahrhunderte relativ gesehen deutlich abgenommen hätte. Während in vormodernen Gesellschaften noch 13% aller Toten Kriegsopfer gewesen wären, würden auf Grund der explodierenden Bevölkerung die 180 Millionen Kriegstoten des 20. Jahrhunderts „nur noch“ 3% ausmachen. Der Absturz aus der Komfortzone sei jedoch zwingend, wenn nicht die Etablierung einer Gemeinwohlökologie gelänge.
Ansätze der ökologischen Bewusstseinswerdung seien evident. Hierzu zähle die Gründung der Grünen und das ubiquitäre Ergrünen etablierter Parteien, die Kampagnenaktionen von Greenpeace oder strategischer Konsum, bei dem Produkte öffentlich-angeprangerter Unternehmen zeitweise boykottiert werden. Mikrokredite auf dem subindischen Kontinent an Kleinunternehmer seien jedoch nur vordergründig hilfreich, da die Verschuldung der Einzelnen kontraproduktiv sei. Letztlich werde der ökonomische Totalitarismus nur bisher noch nicht erreichte Komsumentenpopulationen erschließen wollen. Interessanterweise sei auch Wissen kein Schlüssel zur Lösung der Probleme, da lediglich eine Wissenskonsumgesllschaft etabliert werde, die zwar von jedem iPhone das Weltwissen aufrufen könne, dies aber nicht zu weiseren Handlungen führen werde. „Wissen ist Macht“ hat an Bedeutung eingebüßt.
Stattdessen plädiert Welzer für eine innere und äußere Verlangsamung in einer Ökonomie mit mehr moralischer Intelligenz und Selbstwirksamkeit der Einzelnen. Zahlreiche Beispiele werden zitiert, die unter der Überschrift „Selbst denken“ konkrete Ideen liefern sollen: das Schweizer Eisenbahnsystem, die alternative Trinklimonade Bionade, die dörfliche Energiegenossenschaft, die Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken GLS, die Wiedereinführung ursprünglicher Hawaii Katamarane für den Warentransport, die Spenden bestückte Givebox und anderes. Gemeinsames Merkmal dieser Ansätze sei Bescheidenheit, erhöhte Belastbarkeit und Widerstandsfähigkeit (Resilienz), Ressourcenschonung, Gemeinwohl statt Egoismus und drastisch verminderte Umweltbelastung. Eine Annäherung an Gemeinwohl-orientierte Gedanken sei der Ansatz, Dinge vorausschauend im Futur-2 zu betrachten. Am Ende überrascht Welzer mit 12 Widerstandregeln, die u.a. hervorheben, dass es auf jeden Einzelnen ankommt und jeder in der Tat die Möglichkeit habe, etwas zu verändern. Bedauerlicherweise folgt das Buch keiner stringenten Abfolge. Stattdessen erscheinen die 67 Kurzkapitel wie eine kollektive Verwertung verstreuter Präsentationen, die darüber hinaus unterschiedliche Stilformate aufweisen. Eine ordnende Zusammenstellung der Kapitelthemen wäre didaktisch wertvoll gewesen und hätte der politischen Vermittlung geholfen. Oder untergräbt die neue Lehre sich selbst: „Wie überhaupt die Zeit der Belehrungen (auch durch dieses Buch?) vorbei ist; es gibt ja keine gelernten Experten für Transformation.“ (S. 198)? Note: 2/3 (ur)<<

 >>Der Honorarprofessor für Transformationsdesign (Uni Flensburg) und Sozialpsychologie (Sankt Gallen) versucht den großen Rundumschlag:
Der Kapitalismus ist an seine Grenzen gestoßen. Durch Übernutzung des Planeten  und  Ressourcenverschwendung zerstört er das Positive (Wohlstand, Gesundheitssystem, Bildungswesen usw., das er geschaffen habe, weil die Funktionsvoraussetzungen wegfallen. Welzer benennt und kritisiert eine Fülle von Fehlentwicklungen (u.a. die Verschrottungsprämie 2009, Formel 1 in Bahrein, Konsumismus, Emissionshandel, Konferenzmarathone zum Klimawandel und anderen Mißstände und allgemein die Lebensweise des „ALLES IMMER“). Die Grünen hält er für technikgläubig, Mikrokredite (Grameen-Bank, Bangladesch) lehnt er wegen des Zinssatzes von 20% ab. Welch astronomische Zinssätze die Kredithaie in den Dörfern Bangladeschs fordern scheint er zu ignorieren. Welzer fordert andere Modelle des Verteilens. Abgeben, Verzicht  und Teilen sind angesagt. Vernünftige Forderungen, die auch schon in der 2011 veröffentlichten Broschüre „Umwelt-Tipps“ des BUND Baden-Württemberg auf Seite15 finden sind: „Ressourcen sparen durch Leihen, Teilen und Secondhand“. Aber Richtiges wird durch Wiederholen nicht falsch. Im letzten Drittel des Buches zählt er Beispiele mit Zukunft und Vorbildcharakter auf. Er beginnt mit den Schönauer Stromrebellen, erwähnt Plus Energiehäuser, die GLS-Bank, Bionade (?), Carsharing,  die Zeitarbeitfirma Paulmann und auch die Theatergruppe Rimini Protokoll. Insgesamt gilt: mehr reparieren, mehr tauschen, weniger konsumieren. Überraschend das Kapitel „Tod“ (S.208). Die entzauberte Moderne ohne Jenseitsvorstellung hat keinen Platz für ihn. Mit dem Tod konfrontiert verliert alles bisher Wichtige an Bedeutung, es bleiben „die berühmten letzten Dinge“. Welzer würdigt die verdienstvolle Arbeit der Hospize. Bei allem Wohlwollen hinterlässt das Buch doch immer wieder den Eindruck eines Sammelsuriums. Einige Graphiken, Zeichnungen oder Karikaturen rufen nach der ordnenden Hand eines Lektorats. Am banalsten wirken auf mich die „12 Regeln für einen erfolgreichen Widerstand“ auf der Innenseite des Einbands: „Rechnen Sie mit Rückschlägen, vor allem solchen, die von Ihnen selber ausgehen“. (auch auf Seite 293). Oder fast genau so schön: „Wie Ihr Widerstand aussieht, hängt von Ihren Möglichkeiten ab“. Wunderbar. Nachdem ich mich durch das häppchenförmig geschriebene Buch durchgeackert habe, bin ich kurzfristig zu erschöpft um Widerstand zu leisten.  Note: 3 (ax)<<

Klack-Klaus Modick

K1024_klackKiepenheuer&Witsch 2013 , 221 Seiten .

>> Fotos als Botenstoff der Erinnerung. Der Sound der 50iger und 60iger Jahre klingt auf. Nicht nur musikalisch. Ob die als „Panzerplatten“  bezeichneten Bundeswehrvollkornbrote oder der  „Wumba-Tumba-Schokoladen-Eisverkäufer“ – längst vergessen geglaubte Wegbegleiter durch diese Nachkriegsjahre kramt Klaus Modick hervor und sorgt beim 60+ Leser für eine kaskadenhafte Erinnerungsflut. Die Geschichte des 14- jährigen Markus, der sich in die gleichaltrige italienische Nachbarstochter Clarissa verliebt, trägt den Roman allerdings nicht ganz. Obwohl die Nöte des ersten Verliebtseins, die Enttäuschungen feinfühlig erzählt werden und auch durchaus für ein gutes Jugendbuch taugen, wirken die permanent eingestreuten Requisiten der Nachkriegsjahre doch auf Dauer wie Staffage und daraus gebastelten Geschichtchen manchmal etwas künstlich. Note: 2/3 (ün)<<

>>  Bilder speichern Erinnerung. Mit der Agfa-Klack des Erzählers taucht man nochmals ein in die eigene Kindheits- und Nachkriegsgeschichte.  Markus Geschichte ist eigentlich die Geschichte einer enttäuschten Liebe eines pubertierenden 14 Jährigen (großartig die Kinoszene) hinter der sich aber ein Kaleidoskop bundesrepublikanischer Mentalität zwischen unbewältigter Vergangenheit, Kalter-Kriegs-Paranoia und bürgerlicher Miefigkeit entfaltet. Das ist mit vielen zeittypischen Details (Schlager, Fernsehen, Kino, Werbung, Liebfrauenmilch etc.) zuweilen witzig und anschaulich beschrieben, bleibt aber vor allem einem „deja-vu“ Lesepublikum vorbehalten. Weniger Iwan-Trauma des Vaters, weniger Schlesiertreffen, weniger Markus handbetriebene „Lendenleistung“  und mehr auch sprachlich anspruchsvolle Metareflexion zur Fotografie hätte dem Roman gut getan.
Note:
2/3 (ai) <<

>>  Klack. Fünfzehn Mal macht es Klack, wenn die Agfa zuschlägt.  Das ergibt fünfzehn Kapitel beziehungsweise Fotos. Sie werden inhaltlich und formal gedeutet, teilweise sehr ansprechend und anspruchsvoll. Danach wird jeweils die fortlaufende Geschichte fortgesetzt. Die Geschichte eines pubertierenden Jungen in Zeiten des kalten Krieges, der Cuba-Krise, der Angst vor einem Atomkrieg. Eine breit dargestellte Familiengeschichte. Unterfüttert mit Schlagertexten, Werbung („Salamander lebe hoch“), Jugendsprache. Manchmal auch ein bisschen zuviel davon. Immer wieder erregt Markus, der Protagonist des Romans, mein Mitleid. Das Leben ist wirklich  oft sehr hart für ihn. Die Pubertät schenkt ihm nichts, im Gegenteil. Dabei gibt er doch alles. Ich sage nur Clarissa. Und seine Großmutter, au wei. Wie muss ich Dir, lieber Gott, dankbar sein, für meine Oma Kreszentia, mit der ich bis zu ihrem Tode 1963 unbeschwert unter einem Dach leben durfte. Leser/innen, die die Klack-Jahre bei Bewusstsein erlebt haben, werden sich an vieles erinnern und nicht selten schmunzeln. „Ramona, zum Abschied…..“, was werden da für Gefühle geweckt, aber eben nur für den, der Ramona kennt. Note:  2/3 (ax)<<

>> „Klack“ ist das Arbeitsgeräusch der Agfa Clack. „Klack“ entspringt einer auf dem Jahrmark gewonnenen Kamera in den Händen eines 15-jährigen, dessen verunglückte Motive das kleine Leben eines Pubertierenden einfangen. „Klack“ ist der fixierte Moment, ist die Erinnerung Jahrzehnte später – eine Erinnerung, die von der ergaunerten Weinflasche auf dem Mülleimer über die familiären Befindlichkeiten der Nachkriegsfamilie zur deutschen Wirtschaftswundernation bis hin zur globalen Atomkriegsfurcht leichtfüßig wandelt. Es sind die russischen Puppen von Bedeutungsebenen, die mühelos ineinander verschachtelt, eine literarisch gekonnte Architektur ergeben, mit deren Hilfe Modick in 15 Einzelbildern ein Stück subjektiver Zeitgeschichte inszeniert. Ernst und amüsant zugleich ist das Bühnenbild, so wahr und originell, weil schon fast vergessen, sind die Requisiten, bedenklich authentisch und liebenswert die Charaktere.
Markus hasst seine große Schwester Hanna, weil sie ihre Jugendzeitschrift Bravo nur unter gemeinen Auflagen mit ihm teilt. Sein Vater ist erträglich, wenn er sich nicht wieder in Russland-Feldzug-Episoden verfängt. Seine Mutter verblasst in häuslicher Rechtschaffenheit. Wie durch ein Wunder gelingt es ihr punktgenau in Momenten sich anbahnender Familien-Sturmtiefs die Schweigen-stiftende Tagesschau des Herrn Köpcke herbeizuzaubern. Mit tyrannischer Beharrlichkeit predigt dagegen seine Oma alt- und neu-rassistische Weltbilder. Ihre Ausfälle überschlagen sich schließlich als in das verfallende Nachbarhaus, das keinem Deutschen mehr zuzumuten ist, ein italienischer Vater mit seinen zwei Kindern einzieht. Seine Absicht, im Winter eine Eisdiele zu renovieren, entfacht größtes Misstrauen. Die im Freien aufgehängte Unterwäsche belegt die Italo-Unmoral und die fehlende Frau und Mutter – wenn auch verstorben – beweisen der Großmutter die vermeintliche Kulturlosigkeit des Spaghettivolkes. Entsprechend versucht die alte Dame mit einem Stacheldrahtzaun zwischen den Grundstücken das Gröbste abzuwehren. Als die Ausländer bei einem Hochwasserschaden ungebeten ihre Hilfe anbieten, lässt sie den Stacheldraht- durch eine noch weniger überwindbare Mauer ergänzen. Der großen Grenzziehung im Deutsch-Deutschen Verhältnis folgt Maßstabs-angepasst der kleine Nachbarschaftsgrenzwall. „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu bauen!“
Doch Omas Kreuzfeuer vermag das Herzensgefecht, das Markus zur Eroberung der italienischen Nachbarstochter mit allen Waffengattungen entfacht, nicht zu beeinflussen. Clarissa ist klasse, lässt sich aber nicht küssen. Trotz Gitarrenunterricht beim Vater und Malermühen in der renovierungsbedürftigen Eisdiele kann Markus keine ernstzunehmenden Landgewinne in ihrem Herzen melden. Das Leben kann so grausam sein, wenn nichts als die eigenhändige Fantasie unter verschwitzen Bettdecken Trost zu spenden vermag.
Währenddessen verklärt sich J.F. Kennedy als Berliner, droht mit Atomkrieg beim Anblick russischer Frachter vor Kuba, erschrecken Dachsirenen periodisch mit Alarmlärm, hält das Fernsehen und die ersten Pizzen Einzug in Privathaushalte. Der Untermieter wird nicht als ehemaliger KZ-Aufseher verhaftet, sondern weil er ganz neuzeitlich Rechnungen prellte. Die deutsch-französische Erbfeindschaft wird mit französischem Sprachunterricht in deutschen Schulen begraben und Hanna leistet mit erotischer Annäherung an einen französischen Dezernenten ihren Beitrag zur Völkerverständigung. Weniger Verständnis bringen dagegen die elterlichen Geschwister füreinander auf. So liegen die einen – verschlagen in die Ostzone und konvertiert zu braven Parteigängern – im Dauergefecht mit den anderen auf gleicher Verwandtschaftslinie, die ins schwule Bohememilieu Mallorcas auswanderten, um dort hemmungslos dem Kapitalismus zu frönen.
Dazwischen verströmt Markus. Unter dem jugendlichen Überdruck wiegt eine nicht erfüllte Liebe grenzenlos. All dies ist so gut nachzuvollziehen, als wäre es am Küchentisch des Lesers aufgeschrieben worden. Dutzende Requisiten erglimmen aus der Vergessenheit, nichts wird ausgespart. Die Schlager erklingen neu, der Melittafilterkaffeesatz- und Niveageruch steigen auf, das HB-Männchen hebt ab, während der Borgward Isabella einparkt. Gerade hier liegt auch eine entzaubernde Schwäche des Buches, das vor einem inflationären Gebrauch der Vergangenheitssymbole nicht zurückschreckt. Ebenso imponiert der Sprachduktus nicht in dem Maß wie das Konzeptgerüst des Buches. Dennoch ein vitalisierendes Werk mit jugendlicher Leichtigkeit, das darüber hinaus mit tiefgründigen Metabetrachtungen zur Fotographie überrascht. Note: 2– (ur)<<

Frühling der Barbaren-Jonas Lüscher

K640_fruehling_der_barbarenC.H. Beck 2013 , 125 Seiten.

 >> „Eine Novelle ist eine Erzählung von kürzerer bis mittlerer Länge. Oft wird darin ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben, was zu einem Normenbruch und Einmaligkeit führt.“  [Wikipedia] Jonas Lüschers  125 Seiten umfassende Novelle „ Frühling der Barbaren“  könnte für diese Definition Pate gestanden haben. Auch Goethes  Charakterisierung der „unerhörten Begebenheit“ lässt sich als nichts Geringeres als der Staatsbankrott Englands ausmachen. Lüscher konstruiert auf drei  Erzählebenen: Einmal erzählt der Schweizer Fabrikant Preising seine Geschichte auf seinen Spaziergängen in einer psychiatrischen Klinik, in der er wegen einer Krankheit namens „Besonnenheit“  eingeliefert wurde. Gesprächspartner von Preising ist der Ich-Erzähler, der dort wegen einer Depression ist und der die von Preising erzählte Geschichte aus seiner Wahrnehmung wiedergibt. Letztlich kommt dann noch ein Allwissender Erzähler dazu. Zu erkennen, wer gerade erzählt ist eine kleine, gut zu bewältigende Herausforderung, die der Novelle Raffinesse verleihen und die ihre Wirkung  besonders dann entfaltet, wenn die Zeitachse kurz verschoben und subjektive und objektive Betrachtung  auseinanderfallen.

Preising, Seniorchef einer soliden, schweizerischen Telekommunikationsfirma verbringt einen Urlaub in einem tunesischen Edelresort in der Wüste, mit dessen Leitung seine Firma  geschäftliche Beziehungen pflegt. Dort trifft er auf eine große Gesellschaft  junger, britischer Geschäftsleute aus der Londoner City, alle um die 30, die dort die Hochzeit  von Kelly und Marc luxuriös feiern wollen. Mit der Mutter von Marc, die dem exaltierten Lebensstil der „cityboys“ und „citygirls“ auch skeptisch gegenüber steht, freundet sich Preising an und betrachtet interessiert de Hochzeitsvorbereitungen  der jungen Leute, die als Investmentbanker Millionen verdienen und  die es gewohnt sind, dass sich das Leben gefälligst nach ihnen zu richten hat.

Die Ordnung bricht zusammen, als  England den Staatsbankrott anmeldet und  E-Mails der Banken  rausgehen, in den sie ihren Mitarbeiter „vorschlugen,  doch heute zur Arbeit einen Pappkarton mitzubringen.“ Kreditkarten werden nicht mehr akzeptiert,  Roaming –Telefonieren wird eingestellt, Fluggesellschaften „gegroundet“.

Wie das junge Finanzgesindel auf die neue Situation reagiert, soll nicht verraten werden.
Lüscher zeigt klug, prägnant  und witzig auf die Mechanismen einer globalisierten Welt und ihrer Akteure. Meisterlich. Note: 1 (ün)<<

 

>> Was uns auf drei Erzählebenen von Preising, einem Schweizer Unternehmer mit erheblicher Entscheidungsschwäche, von seinem Mitpatienten und Ich-Erzähler in einer psychiatrischen Anstalt und vom auktorialen Erzähler berichtet wird, ist furios. Ein Preising von seinem Geschäftspartner Prodanovic verordneter  Entspannungsurlaub in Tunesien endet mit der teilnehmenden Beobachtung eines Infernos in einem Luxus Oasenresort namens „Thousend and One Night“. Während einer 250.00 Pfund teuren Hochzeitsfeier aus dem   Banker- und Finanzjongleur-Milieu meldet England den Staatsbankrott und Preising wird Zeuge, wie rasch die Fassade der Zivilisation bröckelt, wenn Kreditkärtchen und I-Phones verstummen. Aus vermeintlichen Leistungsträgern werden über Nacht nach dem Bankencrash in London armselige Kistenträger  (der englische Fernsehsender „No comment“ sendet, eines der vielen großartigen Bilder Lüschers, das, was dem Leser aus „Lehmann-Zeiten“ in Erinnerung geblieben ist). Aus hippen Partygästen, denen es in folkloristischer Berberidylle Tschub an nichts fehlt, werden Vandalen unterschiedlicher Dimension. Vor allem die Figur Quikys, der sich mit seinem „quick trigger finger“ in der Finanzmetropole London ebenso wie im Irakkrieg durchzusetzen weiß, wird in der Stunde der Ernüchterung (süffisant spricht Lüscher von „veränderten Umständen“!) zum Akteur eines Exzesses, der in einem grotesken Inferno, der Zerstörung des Ressorts endet. Glänzend, wie „zielstrebig“ andere die Krise als Chance zu nutzen verstehen. Die 30jährige Wertpapierhändlerin Jenny, Trauzeugin der Braut,  Zuffenhausen und Deutschlands Autobahnen lassen grüßen, erkennt in der Stunde der Not die Vorzüge eines geregelten Lehrstuhlgehalts und legt zügig Hand an an den alternden Soziologieprofessors Sandford, den Vater des Bräutigams Marc . Jennys „Geschmeidigkeit“ besiegt die ob des Altersunterschieds unvermeidliche „Lächerlichkeit“ und so bleiben von Sandford langjähriger Ehe mit Pippa nur Überreste, von Sandford allerdings weniger bewundert  als die Überreste der Berberkultur in Gestalt der Vielkammerbauten. Einen menschlichen Zusammenbruch ganz anderer Art erleidet jene Pippa bereits während der Hochzeitfeier. Ihr poetischer Beitrag, die Rezitation eines amerikanischen Beatpoeten, der die Weitergabe kultureller Werte besingt, endet, das Inferno im Kleinen symbolisch vorwegnehmend, mit ihrer Demontage, einer Demontage, die uns Preising in seiner Version der Erzählung mitfühlend vorenthält. Großartig auch hier wie Lüscher die Wechselwirkung von Rezitator und Publikum beschreibt. Nicht der poetische Gehalt, die Verpackung, der selbstsichere Auftritt Pippas, die Show verschafft ihr zunächst noch die Aufmerksamkeit, die die dumpfbackene junge Finanzbagage gewöhnt ist auch Personaltrainern, Unternehmensberatern oder Investmentgurus entgegenzubringen. Das erste Straucheln, ein kurzer Moment des Kontrollverlusts beim Blick auf den Vortragszettel und die „Abwärtsspirale“ beginnt –  in dieser Gesellschaft nicht nur der Zusammenbruch Pippas, sondern das Ende der Poesie. Der Crash des englischen Finanzsystems erfasst auch das tunesische Besitzbürgertum in Gestalt der Familie Malouch, auf deren Einladung sich Preising im Ressort befindet. Doch die Skrupellosigkeit mit der der Geschäftspartner Preisings, Slim Malouch seine Geschäfte mit Hilfe südsudanesischer Kinderarbeit treibt, wird durch die zweite „Arabellion“ nur durch neue Geschäftemacher ersetzt. Preising wird Augenzeuge wie die „Dinkas mit blutverkrusteten Fingernägeln“ Produkte seines Unternehmens mit dem Slogan „Genius of Swiss Engineering“ assemblieren – ohne zu handeln.

Eine Novelle mit einer temporeichen Sammlung „unerhörter Begebenheiten“, Realitätsdiagnose mit den Elementen der Groteske brillant verbindend. Was wird bewiesen? Es gäbe was zu tun! Die Anstalt ist dafür allerdings der falsche Ort.
Note: 1 (ai) <<

>> Eine spannende Novelle, in der zuerst Geld keine Rolle zu spielen scheint. Am Ende aber um so mehr. Jonas Lüscher zeigt in der fein konstruierten Geschichte die Frivolität der meist jungen Menschen, die an den Finanzplätzen die Fäden ziehen. In diesem Fall London. Als es zum Staatsbankrott kommt und alle Kreditkarten gesperrt werden, ist die zivilisatorische Tünche schnell abgeschminkt. Eine Hochzeit endet im Inferno.  Apokalypse real. Auf der letzten Seite wird die Novelle als Geschichte bezeichnet, „aus der sich nichts lernen ließ“. Das ist sicher nicht ganz richtig. Andererseits plagen mich doch gelinde Zweifel, ob meine drei Lesefreunde dieses Opus nicht etwas überschätzt haben. Note: 1/2 (ax)<<

>> Im Psychiatriegarten offenbart der Schweizer Unternehmer Preising seinem Gesprächspartner die unglaubliche Beschreibung einer Tunesienreise. Vielleicht seine letzte, deren reale Absurdität Preising die Wirklichkeit entzogen haben mag. Vielleicht auch eine Form Buße für seine unmoralische Besonnenheit, deren ungehemmtes Relativieren jede wirtschaftlich nützliche Schweinerei begründen hilft. Vielleicht auch der Rückzug hinter eine schützende Sanatoriumsmauer, vor welcher die Welt in ständiger Wiederholung ihre Werte verrät. Alle gebärden sich barbarisch – unabhängig von dem Kulturhintergrund: ob in der arabischen Eheanbahnung, ob im britischen Finanzmarkt oder in der eidgenössischen Weltbetrachtung. Da ist jener tunesische Paschavater, der Preising als zu überzeugenden Geschäftspartner nicht nur seine schon vergebenen Töchter aufdrängt – ein zufälliger Verkehrsunfall der Verlobten könnte auf Wunsch arrangiert werden. Da ist die britische Hochzeitsgesellschaft, die nach dem plötzlichen Vermögensverlust Hunde schändet und Kamele schlachtet. Da ist der Schweizer Firmeninhaber, der vor der Verurteilung blutender Kinderhände, die sein teuer konzipiertes Firmenlogo auf Elektronikprodukte kleben, erst differenzierende Überlegungen anstellen möchte.
Jonas Lüscher läßt gleich drei Ich-Erzähler auftreten. Unter diesen ist der leicht verhuschte Preising die zentrale Figur: Inhaber eines Schweizer Familienunternehmens, das dem wirtschaftlichen Untergang nur deshalb entging, weil ein begnadeter Mitarbeiter  den Übergang von veralteten Dachantennen zu Handybauteilen ermöglichte. Von diesem wohlwollenden und inzwischen zum Prokuristen aufgestiegenen Mitarbeiter  läßt Preising sich wie jedes Jahr in den Urlaub schicken. Diesmal zu einem tunesischen Unterauftragnehmer, der zusammen mit seiner emanzipierten Tochter Saida zudem Besitzer zahlreicher Hotels im gehobenen Preissegment ist. Zunächst versperrt ein Leichenfeld überfahrender Kamele den Weg zum 1001-Nacht Resort. Die mortalen Verflechtungen im Wüstensand sind ähnlich kausal verflochten wie die finanzwirtschaftlichen Zusammenbrüche, die Preising gerade in der Zeitung liest. Der Kameltreiber hat das Straßenverbot missachtet, der Tod-bringende Busfahrer hatte es eilig, der Kameltreiber verliert mit 13 Kamelleichen seine Existenz, der demolierte Bus gehört Preisings Subunternehmer, die Busgäste kommen aus Saidas Hotel, verpassen jetzt Ihren Flug und am schlimmsten wiegt der Umstand, dass Saidas neue Gäste am folgenden Tag keinen Wüstenausritt werden machen können. Ähnlich die Situation in Großbritannien, wo die abstürzende Royal Bank of Scotland die Lloyds Banking Group in den Abgrund reißt und  damit auch die britische Regierung als Großaktionär, worauf die Schar der kleinen Sparer ihr Vermögen verliert. Und dies alles nur, weil beide Banken gemeinsam zweifelhafte Geschäfte in Bangalore tätigten. Immer ist noch jemand und etwas da, um einen noch höheren Zins zu verlangen, sich zu bereichern oder tragisch zu scheitern.
Im edlen Resortkomplex tobt eine britische Hochzeitsgesellschaft, deren Banker-Gesellen im Schatten der Berber Architektur für sechsstellige Summen ein angemessenes Fest mit 70 Gästen zelebrieren. Jung, Yuppie, jovial – je gedeckter die Bikinifarbe desto gedeckter der Scheck – soviel kann Preising sofort ausmachen, als er von den Bräutigamseltern unter die Fittiche genommen wird. Sprachlich amüsante Fantasien folgen als Preising mit Vater Sandford zu einer verbotenen Ruinenstadttour aufbricht. Von Lüscher markant herausgearbeitet auch die entblößende Oberflächlichkeit der Bankergesellschaft, die der Mutter Pippa für einen absurden Gedichtvortrag in tiefenökologischem Ductus solange Begeisterung zollt, wie sie die schillernde Gewinnermentalität auszustrahlen vermag. Schon mit den ersten Anzeichen von Unsicherheit wendet sich das Unkulturpublikum ab. Mit einer entblößten, ergrauten Rest-Schambehaarung könnte Pippa nicht nackter dastehen. Mit ansteigendem Alkoholpegel werden schließlich die letzen kulturellen Trockenflächen überspült.
In der folgenden Nacht kollabiert das britische Finanzsystem und überrascht die verkaterte Hochzeitgesellschaft. Die geschäftstüchtige Saida ist alarmiert und verweigert den zahlungsunfähigen Briten prompt das Frühstück. In herrlichen Überspitzungen läßt Lüscher darauf der Groteske freien Lauf. Der stilvolle Professor Sandford wendet sich unter spontaner Kündigung seiner Ehe der Geschmeidigkeit einer Jüngeren zu, Ehefrau Pippa setzt im Gegenzug mit einer kraftvollen Schenkelklemme Preising fest. Die hungrige Yuppiemeute erinnert sich an Preisings frei erfundenes Beduinenrezept und schlachtet Kamel und Hundewelpen. Der um Ordnung bemühte Bademeister muss natürlich sein Leben im Swimmingpool ausatmen, das Grillfeuer zum Garen des gelynchten Kamels entzündet nicht nur Palmen sondern auch das Resort als Ganzes: Sodom und Gomorra wird wiederbelebt. Dass Preising mit der Hoteldame Saida zu einem Unterauftragnehmer fliehen kann, inzwischen die Revolution in Tunesien ausgebrochen ist, das Volk von den Herrschenden das Geld zurückverlangt und Saida von den Revolutionsgarden durch den Verrat des Unterauftragnehmers verhaftet wird, folgt den natürlichen Gesetzen androgener Egoismen. Für den überaus turbulenten Schlussakt wird dem Leser nochmals alles abverlangt und man tut gut daran, das metapherhafte im Anblick des realen Chaos nicht aus den Augen zu verlieren. Sonst geht es einem wie dem ersten Ich-Erzähler: „Du stellst schon wieder die falsche Frage.“
Dass in den zunächst katastrophal anmutenden Niederungen der Barabarei auch Erneuerungschancen liegen, zitiert Lüscher im Vorwort als schöpferischen Prozess. Man mag sogar hinzufügen: schöpferische Prozesse als niemals endene Wiederholungen, die stete Hoffnungen nähren. Auch hierin liegt die eindrucksvolle Hintergründigkeit dieser Novelle: sie taucht das Absurdbizarre in eine dezent humoristische Nährlösung, so dass aus Kopfschütteln Erwartung wird. Ein abenteuerlich unterhaltendes Werk mit vielen gekonnten Querverflechtungen, trockenem und nasstriefendem Humor in einer unaufdringlichen, ziselierten Sprachgebung. Ganz und gar überzeugend, wenn man den Humor verträgt. Note: 1 (ur)<<

Tschick-Wolfgang Herrndorf –

K640_tschickRowohlt 2010 , 254 Seiten.

>> Ein wunderbarer Roman, der die vermeintlichen Grenzen des Jugendbuchterrains locker überschreitet und zu Recht für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Selten wurde die Welt eines 15-jährigen Jungen so witzig, kurzweilig und doch tiefgründig und berührend zwischen zwei Buchdeckeln abgebildet. Besondere Herausforderung für den Autor, dass der Junge auch noch als Ich-Erzähler auftritt. Auch diese schwierige Gratwanderung gelingt Herrndorf letztlich doch meisterhaft, da er der Gedankenwelt des 15 jährigen Maik eine authentische Sprache verleiht, die so luftig und komisch daherkommt, dass jegliche Mitleidsnummer mit dem Schicksal  der beiden Protagonisten Maik und Tschick gar nicht erst aufkommt. Note: 1– (ün)<<

>> „Maik Klingenberg, der Held“. Sitzt bei der Polizei, „vollgeschifft und blutig“. Aber noch ist dieser höchst ereignisreiche Abenteuer-Sommer mit seinem Kumpanen Tschick nicht zu Ende.  Nachspielzeit vor dem Jugendgericht. Der Sommer, in dem sie erwachsen werden. Tschick und Maike, so ungleich wie Sancho Panza und Quijote? Moderne Varianten des spanischen Traumpaares? Mit einem geklauten Lada als Rocinante fahren sie durch die deutsche Provinz in Richtung Walachei. Natürlich ohne Karte und Kompass. Der wohlstandsverwahrloste Maike und der alkoholaffine Andrej Tschichatschow aus der Hochhaussiedlung begegnen auf einer Müllkippe dem Mädchen Isa. Die neue Romantik, roh und doch auch zärtlich.
Ein spannendes Jugendbuch für Erwachsene, pointensicher, aber nicht anbiedernd, oft lakonisch  und gleichzeitig unterhaltsam. Note: 1/2 (ax)<<

>>Wenn ein Jugendroman Erwachsene begeistert, ist etwas Grundsätzliches berührt, etwas das nicht nur jugendlich bewegt, sondern wieder verjüngt. So geschehen bei tschick – ts chick: Achtung! Trudelnde Hühner im Tiefflug: amüsant, rührend, bizarr und erfrischend tiefgründig. Alle vermuten im Süden die andere Welt, die bunte Seelenvielfalt. Literarisch angelehnt irgendwo zwischen Huckleberry Finns Abenteuer- und Goethes Italien Reise lässt Herrndorf die beiden Vierzehnjährigen Mike Klingenberg und Tschick ebenso gen Süden aufbrechen, weil dort ein Ziel sei. Doch es geht nicht um das Reiseziel, sondern die Reise selbst, die zum Ziel wird. Eingeklemmt im pubertären Seelengrau, niedergehalten von Platz greifenden Minderwertigkeitskomplexen, übersehen von der Klassengemeinschaft und dann noch Sommerferien, die so leer sind, dass sogar die Schule ausfällt. Das ist das dunkelste Loch, in das Mike fallen kann. Dass die platonisch angebetete Tatjana wieder nicht aus dem Fenster schaut, ist sonnenklar und der Wunsch, sich am Indianerturm den Strick um den Hals zu legen, drängt sich wieder auf. Dass sich in diesem Moment auch die zerstrittenen Eltern in die Entziehungskur (Mutter) und mit der knackfrischen Assistentin in die Sommerglut (Vater) verabschieden, haut der Einsamkeit schließlich den Korken raus. Und dass Mike wieder Mike heißt, sagt eigentlich alles. Wenigsten war Mike eine Zeitlang mit dem Namen Psycho aufgewertet worden, nachdem er ernste Anekdoten aus der „Beautyfarm“, wo seine Mutter regelmäßig den Ent- und erneuten Einzug in den Suff zelebriert, einem Klassenaufsatz anvertraut hatte. Mittlerweile fand der Klassenkapitän jedoch, dass einer so verpennten Schlaftablette dieser aufregende Spitzname nicht gebührt. Was kann schlimmer sein als wieder zu einem Mike deklassiert zu werden?
In diesem dumpfen Sommerloch drängt sich ein ebenso ignorierter Außenseiter mit einem unaussprechbaren russischen Namen auf, kurz Tschick genannt – neu in der Klasse, meist im Vollrausch, aber mit beneidenswertem Selbstwertgefühl. Mike ist nicht begeistert. Als Tschick jedoch erkennt, wie tiefgreifend Mike die Nichtbeachtung von Tatjana zermürbt, drängt er Mike, seine Zuneigung offen zu zeigen. Gemeinsam fahren sie im von Tschick geklauten Lada zu Tatjanas Geburtstagsparty, zu der sie beide als einzige nicht eingeladen wurden. Nach der Übergabe der Handzeichnung von Tatjanas Lieblingsmusikerin Beyoncé, die Mike in wochenlanger Begeisterung malte, tauchen die Jungs in einem spektakulären Schlussauftritt wieder ab. Die Komplizenschaft der Buben ist besiegelt. Es bedarf danach nur noch wenig Überzeugungsarbeit, um Mike zu einer Tour in die Walachei zu überzeugen.
Was nun folgt, ist die Reise nach außen in das Innere, die beginnende Selbstwertfindung eines durchsichtigen Mike, der mit jedem weiteren Abenteuer unter der Katalyse seines neuen Freundes an Konturen gewinnt. Die Suche nach der im Süden vermuteten Walachei scheitert natürlich an der fehlenden Orientierung. Wiederholt endet die Spurensuche im Weizenfeld mit der großen Sehnsucht, von der Welt einmal wahrgenommen zu werden, wenn ihre mit dem Lada in das Weizenfeld gefahrenen Namen vielleicht via Google Earth global bestaunt werden. Dass sie schon nach dem ersten Buchstaben in den meterhohen Ähren den Anschluss verlieren, betrübt sie nicht wirklich. Die Abgrenzung als „Automobilisten“ gegen die muntere Jugendgruppe „Adel auf dem Radel“ im Walderholungsgebiet, die Einladung in die spießige Bioenergetik Familie mit der pfiffigen Kinderschar und dem besten Pudding der Weltgeschichte, die vergeblichen Versuche, durch Aufkleben eines Hitlerbartes aus einem Vierzehnjähren einen Erwachsenen am Steuerrad zu machen, um unauffällig zu bleiben, die Entdeckung durch die Polizei und die Flucht mit dem Polizistenfahrrad befördern Mikes Seelenentwicklung. Als sich jedoch der Tank leert, droht ein unlösbares Problem, denn an der Tanke dürfen sie nicht auftreten. Es bleibt nur der Benzinklau, wozu ein Schlauch her muss, der auf einer Mülldeponie vermutet wird, die allerdings zwei Stunden Wegmarsch entfernt liegt. Als dort die verwahrloste Isa auftaucht, wird nicht nur das Benzinabsaugproblem gelöst, sondern es versiegt auch Mikes Tatjana Traurigkeit. Denn erstens verflüchtigt sich nach einer erzwungenen Naturwäsche im Stausee Isa´s Pestgeruch und zweitens vermittelt das frühreife Mädchen dem schüchternen Mike, wie begehrenswert er ist. Währenddessen outet sich Tschick als einer vom anderen Ufer und dass er eher von seinem Onkel beeindruckt sei, der mit Hinter-freien Lederhosen durch die Lande zieht. Die Gefühle toben durcheinander als Mike Tschick zuliebe schwul werden möchte, aber keine Vorstellung hat, wie. Nach der denkwürdigen Begegnung mit dem wahrlich allerletzten Mohikaner einer verlassenen Bergbausiedlung, in der ihnen der Greis die Autoscheibe zerschießt um daraufhin Limonade anzubieten, überschlägt sich der Lada am Steilhang der Abraumhalde. Trotz aller Bedrohungen ist Mike glücklich überrascht, denn am Ende sind alle Menschen nett zu ihm. So auch hier, als eine übergewichtige Sprachtherapeutin die Jungs ins Krankenhaus begleitet, aus dem Mike und Tschick mit Gipsbein unter falschem Namen flüchten, um sich wieder zum Lada aufzumachen. Die folgende Fahrt währt jedoch nicht lange, denn schon auf dem nächsten Autobahnabschnitt stürzt ein Schweinelaster um, in den die Jungs hineinrasen: Mike´s Wade und zahlreiche Säue nehmen ernsten Schaden.

Was bleibt, ist der große Sprung nach vorne. Mike ist ein Neuer. Einer, der mit Stolz die Polizisten empfängt als sie ihn bei Schuljahresbeginn aus dem Unterricht holen. Einer, der von Tatjana und Isa gegrüßt wird, einer, der seinen Freund vor Gericht nicht verrät, obwohl sein Vater dies in ihn reinprügeln will. Einer, der mit seiner Mutter samt Couchgarnitur in den Swimmingpool springt, weil die Schwerelosigkeit des Wassers auch seine innere ist.

Es war noch nie ein so schöner Sommer. Note: 1 (ur)<<

>> Aus der Perspektive des 14jährigen Maik verfolgen wir den Ausbruch dreier Jugendlicher aus der normierten Erwachsenenwelt. Ein Sommerferien -Lada-Trip zweier Jungs  mit Ziel Walachei, komisch und orientierungslos zugleich, wird zur Geschichte einer großen Freundschaft, die die Demütigungen und Ausgrenzungen, die Maik und Tschik im pubertierenden Umfeld vor allem der Mitschüler erleben, vergessen machen. Der Auftritt Isas unterwegs nach Prag, die nicht nur in Sachen „kommunale Röhren“ den Jungs weit voraus ist, erweitert das Duo zu einer kurzen Schicksalsgemeinschaft (der Anselm Weil Brief vom Hohen Berg verspricht mehr). Highlight in der Beschreibung der Hoffnungen und Enttäuschungen einer jugendlichen Seele sind die Hochsprungepisode und die damit verbundene Tatjana Cosic Handlung. Die Welt der Erwachsenen, ob in Gestalt der Lehrerfiguren, ob in der Gestalt der wohlstandsverwahrlosten Klingenberg-Vaters, ob in der traumatisierten Fricke Figur, ob in der Sprachtherapeuten-Karikatur (herrlich allerdings die „Flußpferd“ Assoziation), ob im Ärzte-Bild (Ausnahme Pflegeschwester Hanna!), ob als leicht schräge Großfamilienmutti oder in Gestalt der deprimierenden Rentner in „beige“  – sie ist  die Gegenwelt zum  Roadmovie. Als Leser jedenfalls wünscht man sich für Maik und seine Mutter nach der Versenkung der Bürgerlichkeit im heimischen Pool wieder trockene Tücher.

Es gab übrigens in dem Buch auch einen, der „schien ziemlich vernünftig … Und der hieß Burgsmüller, falls das jemand interessiert“. Note: 2 (ai) (nachgebessert)<<

Sündenpfuhl- Dieter de Lazzer

K640_SündenpfuhlKönigshausen & Neumann 2012,   273 Seiten.

>> De Lazzer lässt nichts aus. Sündenpfuhl, das ist Sodom und Gomorrha, das volle Programm. Es dauert allerdings eine Weile, bis auch die bizarrsten Erscheinungsformen menschlicher Sexualität ausgeleuchtet werden. Bis es soweit ist, entwickelt sich der durchaus  spannende Plot um den bigotten evangelikalen Prediger Seitz und seine nicht minder heuchlerische Gemeinde im Remstal und über muslimische Stuttgarter und deren Verführbarkeit für radikale Islamisten. Ein Gebiet, auf dem sich de Lazzer als Theologe und Jurist auskennt. Wie beim klassischen Tatortformat werden viele Fäden aufgenommen, als Prediger Seitz plötzlich mit durchschnittener Kehle tot aufgefunden wird. Diverse Verdächtige werden vom sympathischen Kommissar Schiller und seinem munteren Team vernommen. Man merkt deutlich, dass de Lazzer viel Erfahrung als Drehbuchschreiber hat und kann den Roman tatsächlich als Fernsehfilm Marke Tatort lesen. Literarisch auf akzeptablen Niveau, aber häufig doch ohne wirklichen Tiefgang. Die Dialoge wirken manchmal auch ein wenig künstlich, wenn etwas untergebracht wird, was da nicht hingehört, das aber die Handlung voranbringen soll. Mitteilungsprosa eben. Im Ermittlerteam herrscht ein erstaunlich sexuell freizügiger, lässiger Umgangston. Vor allem bei den Frauen. Man kann dies im Hinblick auf die aktuelle Sexismusdebatte höchstens wohlwollend als Wunschtraum des Autors nach Emanzipation der anderen Art interpretieren. Mit der Realität hat es eher weniger zu tun. Die Lösung der Täterfrage gestaltet sich durchaus spannend, obwohl schnell klar wird, dass eine ganze Reihe von Verdächtigen vorhersehbar ausscheiden. Dies ist kein Widerspruch, da das Motiv doch überraschend daherkommt und in Grenzgebiete des Gewohnten führt. Hier muss man de Lazzer Respekt für seinen Mut zollen, diese heikle Thematik überhaupt anzufassen und dazu hin noch diskussionswürdige, grundsätzliche Fragen von Moral und  Anstand zu stellen. Note: 2/3 (ün)<<

>> Im Stuttgarter Umland gewinnt die pietistische Erweckungs-Gemeinde dank ihres medienversessenen Evangelistenpredigers Seitz enorm an Zulauf. US-amerikanische Eventformen Effekt-orientierter Missionstaktiken begeistern Jugendliche. Karaoke-Predigten, Marathon-Bibellesen und Gospel-Pop-Rallyes füllen die riesige zum Jesus Workshop umgebaute Industriehalle. Eine eigene Bibel- und Kampfschriftdruckerei sowie der kircheneigene Fernsehsender runden das strategische Konzept ab, um nicht nur Jesus in Reinstform sondern auch die neue Staatsbürgerschaft im Reich Gottes zu predigen. Für Andersdenkende wird der verbleibende Platz bedrohlich knapp. Nicht minder intolerant geben sich einige Anhänger der Islam-Gemeinde in der Nachbarschaft, deren saudiarabischen Wahhabiten Hardliner die Trennung von Religion und Staat zurückweisen. Das Gemeinwesen Umma und die religiösen Gesetzte, der Scharia, lassen auch hier keine zweite Staatsbürgerschaft zu, warum sich die Welt in das Haus des Islam und das des Krieges, das Haus des Jihad, teile. Als Seitzs Hetzschriften in der Moschee auftauchen, werden Seitz und sein Hund mit durchgeschnittenen Kehlen in einer Jauchegrube aufgefunden.
Wie Kommissar Schiller viel später klären wird, hat beides nichts miteinander zu tun. Ebenso entpuppt sich der von Seitz in der Großdruckerei hintergangene Geschäftspartner Peters als unschuldig wie auch eine Reihe von Gemeindemitgliedern, denen Seitzs ausufernde Dominanz und Spendenhinterziehungen zuwiderliefen. Auch gehörnte Ehemänner, deren Partnerinnen sich begierig der monumentalen Libido von Seitz anvertrauten, sind nicht unter den Tätern. Der Täter ist der Vater einer Tochter, die nach einer perversen Sodomiebeziehung zu Seitz Selbstmord beging.
Mit der Figur des von eigenen Schicksalsschlägen gereiften Kommissars Schiller, den sachkenntnisreichen und denkschnellen Kollegen Fahnauer und Assistentin Katrin, sowie dem toleranzgeprägten Pfarrer Haegele schafft de Lazzer einen Kreis reflektierender Gesprächspartner, die Nachdenklichkeit nicht nur zur Klärung kriminalistischer Details nutzen. Ihre Überlegungen zu religionsgesellschaftlichen und psychologischen Zusammenhängen geben dem im Bereich von Sexualität mitunter überzogen inszenierten Roman eine gewisse Hintergründigkeit.
Die eigentliche über das zentrale Verbrechen hinausgehende Essenz des Romans gruppiert sich um zwei Mädchengestalten, die beide ihr Dasein einbüßen. Beiden gemeinsam ist das kompromisslose Elternhaus mit Vätern, die Ihren Töchtern mit Verweis auf religiöse Gesetzmäßigkeiten die Selbstverwirklichung gewaltsam untersagen. Die von beiden Vätern bemühten Religionen sind so verschieden wie die Stuttgarter Nachbarschaft mit Moschee und Jesus Workshop, ihre Auswirkungen sind jedoch ähnlich katastrophal. In dem einen Falle lässt ein türkischer, zum extremen Islamismus neigender Vater seine pubertierende Tochter AIsi strafvergewaltigen, weil er sie mit einem Freund beobachtete. Ihre opponierende Reaktion der Befreiung ist der Schritt in die Berufsprostitution – eben in jenen Tatbereich, für den ihr Vater sie vermeintlich bestraft hatte. In dem anderen Falle hält Vater Berwanger seine Tochter in einem pietistischen Zwangskorsett, aus dem das Mädel schließlich unter der Führung / Verführung von Seitz ausbricht. Sie verfällt seinen Begierden vollständig und sucht eine Lebensgemeinschaft mit ihm, die er ihr mit einem bigotten Verweis auf seine vierköpfige Familie natürlich verweigert. Es kommt zu Überschusshandlungen, bei denen sie gemeinsam auf einem Schweizer Gehöft von Sado-Maso bis Sodomie keine sexuelle Spielart auslassen. Den Höhepunkt bildet jene gespenstische Zeremonie, in der sie an Stelle von Seitz einen erregten Rüden heiratet. Als Vater Berwanger die mitgeschnittenen Videos in die Hände fallen, und er von der unendlichen Glücklichkeit im Gesicht seiner Tochter im Laufe des animalischen Koitus schockiert wird, wird ihm klar, dass er sein Kind schon unwiderruflich verloren hatte bevor sie Selbstmord beging. Die Erniedrigung und den Verlust der Tochter versucht er durch die Morde an Seitz und seinem sodomistischen Hund zu rächen. Als Kommissar Schiller auf seine ursächliche Mitverantwortung am entarteten Leben und Tod seiner Tochter pocht, erschießt sich der alte Mann. Auch der türkische Vater wird tot aufgefunden – vermutlich gerächt von AIsis Freund, so dass de Lazzer es sich nicht nehmen lässt, Seelenmord mit selbst- oder fremdbestimmter Tötung zu ahnden.
Ein diskussionswürdiger Kriminalroman mit nachgewiesenen theologischen und sexualtechnischen Sachkenntnissen, Sympathieträgern, Widerwärtigkeiten und provozierenden Gedanken. Manche Dialoge wirken allerdings wie plattitüden-verpflichtete Filmbeschleuniger, was sicher dem Fernsehserienautor de Lazzer („Bienzle“ et al.) geschuldet ist. Dass das kriminalistische Menu mitunter zu stark gewürzt ist, wird vor allem im Bereich der Körperlichkeit deutlich. Note: 2– (ur)<<

>> Tübingen wird mehrmals erwähnt, aber natürlich nicht als „Sündenpfuhl“. Das ist schon mal positiv und stimmt auch völlig mit der eigenen lokalpatriotischen Wahrnehmung überein. Dieter de Lazzer hat viel in seinen „Roman eines Verbrechens“ gepackt: Eine pietistisch gefärbte Erweckungsbewegung mit Fernsehprediger im Remstal, Salafisten, die Welt der Ermittler und fast den gesamten reichen Kosmos der Triebmanifestationen, von denen manche als pervers angesehen werden dürfen, je nachdem. Die Welt der Triebe und das Reden darüber bilden eine Art Subthema in allen der geschilderten Milieus. Manchmal wird es bei aller Freude daran etwas zuviel, obwohl man noch nicht von notgeiler Schreibe reden kann. Ist es witzig, wenn der Autor einen Ermittler mehrmals sagen lässt: “Moos oder Möse. Wo ist das Motiv?“  Möse oder Moos, ging das in die Hos?
In vielen kurzen, oft kalauernden Dialogen erkennt man den erfahrenen und erfolgreichen Drehbuchautor. Der Leser erweitert seinen Horizont, Namen wie Lacan und Freud oder Begriffe wie Polyamorie tauchen auf und verlangen Vertiefung. In Krimimanier werden falsche Fährten gelegt. Man ahnt trotzdem früh, dass der Mörder nicht aus der Moschee kommen kann. Das wäre einfach zu schlicht. Immerhin kommt der salafistische Frauenmißhandler auch zu Tode. Das Gerechtigkeitsgefühl dankt. Wir lernen, dass eine zu strenge pietistische Erziehung dazu führen kann, dass das Unterdrückte später exzessiv und pervers (Sodomie) ausgelebt wird. So ist das. Insgesamt ein unterhaltsames Buch und oft auch spannend. Etwas Konzentration im Mittelteil (Bibelversand Triest?) hätte nicht geschadet. Note: 3+ (ax)<<

 >>Sündenpfuhl-Ende statt einer Rezension : Mamoud war angekommen. Befreit vom bleischweren Gürtel ging die Fahrt schneller als er sie sich vorgestellt hatte. Rashid, der Imam aus der Hinterhof-Moschee in Feuerbach hatte Wort gehalten. Da lagen sie die mandeläugigen Hurimädchen, räkelten sich zu Ghaselen und Sufi-Musik während rhythmisch tanzende Derwische den Neuankömmling empfingen.  Nein, nicht mehr der Diwan im Zimmer der Zwillinge Aisha und Berit, nicht mehr der bäuerische Lattengriff unter der Decke, Mamoud tauchte ein in ein liebkosendendes Tausendundeinenacht der absoluten Glückserfüllung, von jüdischen Psychoanalytikern als aus der Melancholie geboren diffamiert, während sehr sehr weit unten Kommissär Bärlach vor den rauchenden Überresten eines abgelegenen Gehöfts im Kanton Appenzell zwischen Gäbris und Ruppenpass stand und angesichts des süßlichen Brandgeruchs mit dem Würgreiz kämpfte.
Im Zimmer 201 B4 vorn im Marienhospitel liefen die letzten Tropfen Fluoruracil in Marcus Schillers Zugang am rechten Unterarm. Die vierte Chemo. Als er erwachte, kühlte Schwester Verena von der Ordensgemeinschaft der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul seine Stirn.
Note: 3/4 (ai) <<

Tauben im Gras-Wolfgang Koeppen

K640_Tauben_im_Gras Bibliothek Suhrkamp 1974 , 238 Seiten .

 

Er saß vor dem Baum. LED Lämpchen streiften seinen Blick. Der kleine Hund war der Jungfrau ganz nahe, wäre da nicht das silbrige Nordmanntannengezweig. FISKALKLIPPE VERHIN- DERT; JAPANS AKWS WIEDER ANS NETZ. Er legte das Tagblatt beiseite und beobachtete die lila Rillen des Tretford, Auslegeware der Firma AR0. Wieder einmal liefen ihm seine Figuren davon, flatterhaft, beziehungslos, sie verblassten, lösten sich auf, Worte nur, sein Manuskript auch an diesem Tag eine einzige Melancholie des Scheiterns. Und dann dieser Abend. Wenigstens das Tiramisu war ihm gelungen, aber was bedeutete das schon angesichts der drohenden Niederlage im Kampf um die Deutungshoheit des Begrifflichen. Drohte erneut Versagen? „Es ist meine Schuld, dass ich nicht eingegriffen habe“. Warum habe ich Günter nicht unterstützt als es darum ging den Mohren zu retten?“ Max wäre der richtige gewesen ans Glas zu klopfen und „Halt“ zu rufen. Zurück zu den Wurzeln, der Kolonialismus ist der Nekrolog auf die Diskursivität. Schon Theodor W. hatte das ausgesprochen, aber wer von denen, die hier aus den riegelepigonalen Gläsern schlürften, hatte den im Augenblick noch auf dem Schirm. Am wenigsten Max, dessen Zunge sich im wohlgeordneten Mundraum schon aufs Ellwanger Stamperle vorbereitete um dann den Applaus abzuholen, der an diesem Abend eigentlich Marianne zugekommen wäre.“ Die Vorspeisen im Arbeitszimmer, Hauptspeise bitte in der Küche.“ Charly griff zum wievielten Male zum Fachinger, die 13,6 % aus Günters Beständen verlangten auch Pausen. Er musste den Eindruck erwecken, als wäre ihm das alles nicht entgangen, was ging es ihn an, wenn dem der Rote schmeckte, hatten doch alle am Tisch das zimtig-johannisbeerhafte Bouquet gerühmt – Burkhard verstieg sich gar zur Bemerkung er spüre auf der Zunge einen Hauch Fuerteventura-Wind. Er dachte an den  schwäbischen Konditormeister, der den Zartbitterschmelz über den steifen Eischnee goss, in der Hoffnung seine Creation suebe werde kulinarische Meilensteine setzen, ja, es gab da noch Unschuld. Das aber war Vergangenheit. Jetzt, da Jutta mit verhalten triumphierender Geste zum argumentativen Finale ansetzte und Günter, der es in mehr als 40 Dienstjahren gerade einmal zu zwei bis drei dunkelhäutigen 5ern oder 6ern gebracht hatte ins schwarze Migrationsabseits geschickt zu werden drohte, wäre eigentlich Rainers Stunde gekommen. Aber er wankte, jetzt die Trumpfkarte Belesenheit ausspielen, flankiert durch die glorreichen Zwei des LQ – oder waren die durch Stewardess Anekdötchen oder postlyrische Insuffizienz schon zu sehr in Beschlag genommen – das brächte den nötigen Auftrieb, der dem schon etwas abflauenden Wortgefecht neuen Schwung verliehen hätte. „Der Neger und amerikanische Bürger Washington Price“ etwa, war er hier eine Hilfe? Edwin, der sich noch in der Stunde bevor Benes, Schorschis, Kares und Sepps Fäuste flogen zugleich als Sokrates und Alkibiades wähnte, nachgoetheanischer Brückenbauer zwischen den Kulturen – ein Hoffnungsschimmer? Susanne, die Odysseus, jetzt nachdem Bahama-Joe im Köfferchen verstummt war, nach dem “ Besuch im Negerclub“  gefickt hatte – er hatte sich nochmals vergewissert nicht er sie – war es erotische Verzweiflung oder dem  erzherzoglichen Bettstümper geschuldet. „Carlas Negerkind“ oder „die schwarze Hand des Negers und die gelblich schmutzigen Hände der Griechen beim Würfelspiel“, nein, die „Tauben im Gras“ waren brüchiges Terrain beim Abbau von Ressentiments zumal gerade jetzt, wo ganz in der Nähe dem Sirenengeheul eines Polizeiwagens, wahrscheinlich ein kleiner Auffahrunfall, nur uniformierte Beamte des mittleren Dienstes mit Landeswappen und keine forschen schwarzen Militärpolizisten –„Die Militärpolizisten waren besonders große, besonders schöngewachsene Neger…Sie sahen wie nubische Legionäre des Cäsar aus“ entstiegen. Rainers von Koeppen alleingelassener hohler Blick fiel auf Meese. Günters schwarz Aluminiumumrahmter, vielleicht könnte der das Blatt wenden, dem Mohren, wenn nicht zum Siegen zu  verhelfen, so ihn doch wenigstens nicht ganz ins Nirwana der Sprachlosigkeit zu verbannen. Meese, nein, er rührte sich nicht, er hing einfach da, als ginge ihn das ganze nichts an.  Er litt nicht am  Mohren, der mit dem eisernen Kreuz  litt an der Kunst, wieder andere an ihm. Kein Badenweiler Marsch forderte jetzt zum Hauptgang auf, aber auch Dr. Behude hätte eine kleine Atempause verordnet, jetzt da sich das Schlachtfeld  aufs Kulinarische verlagert hatte. Die Teller und nicht Obermusikmeister Behrend gaben fortan den Ton an.
Die LED-Lämpchen malten ins Nordmanntannenfirmament noch immer die Begegnung von kleinem Hund und Jungfrau, jetzt aber unbemerkt von einem weggesackt sanft schnarchenden Körper: eine Szenerie friedlich und unbeeindruckt vom Mohren und ganz frei von Schuld, wenn da nicht nur Rainers Manuskript gewesen wäre.  R.S. 30.12.12

>> Zwei Dutzend Bürger irren wie Tauben im Gras durch diesen einen Tag im Nachkriegs München, gefangen zwischen den Trümmern der Geschichte und ihres Ichs. Auf der Suche nach Geborgenheit und den Anschluss an den zivilisatorischen Fortschritt anderswo verpfänden sie ihre kleinen Seelen und glänzenden Habseligkeiten. Eingeklemmt in die zeitlosen Verstrickungen schaler Liebe, nackter Habgier und ewiger Eitelkeit rebellieren sie und finden nur Nervenärzte, ausgegrenzte Weggefährten und eine leicht entzündliche Volksseele. Der Augenblick ist voller Scherben. Die Hoffnung ist, dass die Zeit irgendwann mit intaktem Porzellan überraschen wird.
Koeppen malt in seinem Roman ein atemloses Stillleben, das er mit einem Staccato einander hetzender Attribute für einzelne Begriffe literarisch inszeniert. Entsprechend ist dieses Unruheleben umherirrender Menschen in der Darstellungsform gespiegelt. Oft ohne erkennbare Übergänge und nie in Kapitel gruppiert werden die Erzählabschnitte verbunden. Reich, aber auch kräftezehrend zögern Sätze ihr eigenes Ende hinaus und fordern vom Leser eben jene Geduld, die ansonsten dem Inhalieren von Lyrik vorbehalten ist. Anfangs irrt der Leser wie die Protagonisten zwischen den ungeordneten Versatzstücken umher: ein vom Papagei gehasster Phillip, ein sein Hemd schließender Dr. Behude, eine in die Tür tretende Emilia, ein unter zu kühlem Badewasser leidender Edwin … Nach den einleitenden Irrungen in Koeppens Roman nimmt man dann umso dankbarer sich allmählich schließende Kreise wahr.
Phillip entpuppt sich als eigenbrötlerischer Redakteur mit zum Reflex verkommenden Besuchen beim Psychiater Behude. Dr.Behude versucht vergeblich Phillip in einen mentalen Ruhestand und sich selbst mit infantil-erotischen Fantasien über Phillips Frau Emilia in Erregung zu versetzen. Emilia leidet nicht nur darunter, dass die totale Inbesitznahme von Phillip scheitert, sondern auch, dass ihr die kriegsbedingte Mittellosigkeit ein pompöses Leben verwehrt. Gerade dafür müssten die Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen werden. Mit dem Erlös verpfändeter Wertstücke ertränkt sie ihre Entbehrungen im Suff. Ein kleines erotisches Glück gewährt ihr lediglich die amerikanische Junglehrerin Kay, die aus ihrer biederen Reisegesellschaft ausgebrochen ist. Gemeinsam erleben sie den öffentlichen Auftritt des amerikanischen Schriftstellers Edwin. Da Kay dem berühmten Denker Edwin nicht nahe kommen kann, wendet sie sich an den anwesenden Phillip, den sie fälschlicherweise für einen deutschen Dichter oder zumindest den Freund von Edwin hält. Edwin entpuppt sich wider Erwarten nicht als Vordenker des Freiheit-stiftenden Amerika. Sein nebulöser Vortrag mit Betonung der abendländischen Kultur ist gänzlich unverständlich. Infektiöse Müdigkeit breitet sich bei den Zuhörern aus, der vor allem Schnakenbach zum Opfer fällt. Schnakenbach hatte sich zu Kriegsbeginn mit Pervitin wochenlang schlaflos gehalten, um durch den körperlichen Verfall der Rekrutierung zu entgehen. Nachdem er seinen Schlaf dem Krieg opferte, fordert jetzt der Frieden den Schlaf zurück und versetzt Schnakenbach in einen chronischen Dämmerzustand, in dem auch ein abendländischer Goethe keine Erweckung mehr vollbringt – symptomatisch für eine Epoche.
Unbemerkt von den Ermüdeten im Inneren vollzieht sich draußen das Hässliche. Dem schwarzen amerikanischen Soldaten Odysseus stiehlt die deutsche Nutte Susanne das Geld. Im folgenden Aufruhr fällt die deutsche Meute über Odysseus her– nicht anders als es in seiner freiheitlichen Heimat Baton Rouge geschehen wäre. Als auf der Flucht der kleine deutsche Nazimitläufer Josef erschlagen wird – von Odysseus oder einem Stein der Meute ? –  ist der Volksseele klar, dass das alliierte Negerpack auch den deutschen Buben Heinz ermordet hat. Tatsächlich versucht Heinz, dem amerikanischen Jungen Eszra Dollarnoten zu entreißen, wobei beide von einer Ruinenmauer stürzen, aber unverletzt bleiben. Als vermeintlichen Mörder macht die entbrannte Masse den schwarzen Baseballspieler Washington aus. Zufällig ist er mit der weißhäutigen Clara im gleichen Club, wo Odysseus bestohlen wird. Hier zerbricht für Washington zweimal ein Versöhnungstraum: der zwischen den Rassen und jener zwischen ihm und Clara. Sehnsüchtig wünscht er das noch ungeborene Kind mit ihr, doch Clara will nur seinen Schokolade-spendenden Wohlstand, nicht aber seine „Brut“. Doch auch diese Wünsche zerrinnen blutig unter der Steinigung des aufgebrachten Pöbels, der Mutter mit Kind zum Opfer fallen.
Als Spiegel des Nachkriegs-Deutschland malt der Roman ein abgedunkeltes Bild mit verfinsterten Charakteren. Selbst die Jugend ist verroht oder wird zu Wesensverformungen gezwungen wie die kleine Hillegondo, die hilflos nach Schuld in sich sucht, nachdem ihre puristische Kinderfrau Emmi ihr den allmächtigen, strafenden Gott vorhält. Andere laden Schuld auf sich oder sind schicksalsverhaftet so gezeichnet, dass man ihnen die ausbleibende Läuterung nachsieht. In diesem Licht wird auch der Literaturbetrieb beleuchtet: gescheiterter Autor Phillip, nichtssagender Schriftsteller Edwin, der von vier Schlägern liquidiert wird, Affekt-haschende, Dichter-suchende Lehrerkolleginnen, oder der symbolträchtige Papagei, der sogar das stupide Nachäffen von Edwins Texten aufgibt. Ein nicht uninteressanter Roman, jedoch in gewöhnungsbedürftigem Duktus, der nicht jedermanns Begeisterung erntet.
Note: 3 (ur)<<

>> Zugegeben, es ist nicht einfach den Überblick über alle handelnden Personen zu behalten. Abrupte, übergangslose Wechsel der Szenarien machen das Lesen wirklich mühsam. Wie die Trümmer, die im Nachkriegsdeutschland des Jahres 1950  noch allerorten herumliegen, wirft uns Koeppen die Splitter menschlicher Existenzen vor die Füße, die sich allerdings nach und nach zu einem großartigen Kaleidoskop dieses einen Tages zusammenfügen, in dem sich alle grundlegenden Fragen des Lebens fokussieren. Note: 2+ (ün)<<

 >>  MRR, der sogenannte Literaturpabst, nennt  Koeppens Roman „herrlich“. Das macht dann schon mal neugierig. Ein Tag in der Nachkriegszeit mit vielen vielen Personen, von denen sich viele in der wahren Bedeutung des Wortes irgendwann über den Weg laufen. Über hundert Sequenzen, die von Zeitungsüberschriften unterbrochen werden. Trotz des vielen Personals  kann man nicht sagen, dass Koeppen ein Panorama der Nachkriegsgesellschaft beschrieben hätte. Er beschränkt sich auf ein, zwei Milieus. Insgesamt viel viel Bewegung. Oft scheint sie ziellos. Leben und Tod verwischen, wenn todbringende Steine durch die Luft fliegen. Es bleibt offen, wer sie geworfen hat. Hat der Autor einen Augenblick lang auch an die Leserin, den Leser gedacht? Sicher, man könnte sagen, ohne Anstrengung kein Genuss, aber dieses Buch fand ich im wesentlichen nur anstrengend. Als auch am Ende immer noch  kein Genuss aufkommen wollte, war ich enttäuscht. Hätte der Verlag nicht eingegriffen, hätte Koeppen den Roman ohne Punkt und Komma geschrieben, im Endlosfluss. Hätten sie ihn doch machen lassen.
Was ich über sein Leben gelesen habe, macht ihn mir sympathisch. Seine Tauben weniger. Dann doch lieber einen bescheidenen Lese-Spatzen in der Hand. Note: 3 (ax)<<

Die Erfindung des Lebens-Hanns-Josef Ortheil

K640_Erfindung des LebensLuchterhand 2009,  591 Seiten.

>>   Hanns, man schreibt ihn mit zwei n
Lehrer nannten ihn blemblem.

Oh, war diese Kindheit schwer
Mutter dominiert ihn sehr
Mutter-Sohn, als Symbiose
eine komplizierte Chose.

Später dann im alten Rom
vor dem schönen Petersdom
wurd es besser, Stück für Stück
‚Freundin Clara plus Klavier,
sorgen konsequent dafür.

Dieses Buch zeigt wie Musik
beiträgt zu der Menschen Glück.
Doch Hand wird krank, ja so ein Mist
plötzlich Schluß mit Pianist.

Hanns-Josef kämpft, gewinnt im Spurt
Happy End in Klagenfurt.
Und der Leser glaubt es kaum,
alles endet wie im Traum.

Note: 3+ (ax) <<

 

>>  Einen Einblick in seine bedrückende Kindheit und Jugend, die der Autor aus dem Abstand von über 50 Jahren und aus der räumlichen Distanz Rom freigibt . Johannes als Fünftgeborener erfährt erstmals als 7jähriger am Tag  fast seiner Einschulung von seinem Vater die Ursache für die Stummheit seiner Mutter. Nach dem  Tod ihrer vier ersten Kinder verliert sie die Sprache, ein Trauma, das auch Johannes nach seinem 3. Lebensjahr einholt. Stummes Kind und stumme Mutter bilden von da an eine symbiotische Schicksalsgemeinschaft. Der „skurrile Autismus“ führt zum Leben eines „Geheimbundes“, das sich „nach festen Regeln und in einer großen Stille“ vollzieht, all dies unter der Obhut eines liebevollen Vaters, dem allein der kleine Schriftverkehr der Mutter (sorgfältig beschriebene Zettlchen) die Alltagswelt von Ehefrau und Kind offenbaren. Dass sich unter diesen Umständen bei Johannes auch ein Vaterbild  als „Frohnatur“ einstellt, irritiert. Die scheinbare Geborgenheit nach innen bedingt den Rückzug aus der Außenwelt. Mitleid aber auch Spott verspürt Johannes und so ist wenig verwunderlich, dass ihm der Glaube „ein Fundament“  der Sicherheit gibt. Ein Klavier des Pfarronkels aus Essen bringt die Wende, nicht behutsam, sondern fortissimo. Die stumme Mutter erweist sich plötzlich als virtuose Pianistin („Ich starrte Vater an und sah, wie entgeistert er war…als habe ihn die Musik geschockt“) und die ersten Berührungen der schwarz-weißen Tasten durch den 6jährigen Johannes markieren „die eine Sekunde, die über mein ganzes, weiteres Lebens entschied“. Das Klavierspiel als „Befreiung und Ende der demütigenden Tage“ und als „Ausweg aus dem Idiotendasein“, wird zum zentralen Thema des Romans. Wir verfolgen einerseits den Aufstieg des stummen Kindes zum musikalischen Genie (Passagen des Romans geraten zum Musiktelekolleg) und dessen tragisches Scheitern, andererseits die „Vereinsamung“ des Kindes und dessen Unfähigkeit zu sozialen Bindungen als Jugendlicher. Letzteres zeigt der vom Vater gewünschte Besuch der Grundschule ebenso wie der  spätere mit Hilfe des Kölner Musikgurus Fornemanns vermittelte Internatsaufenthalt des 12jährigen Johannes. Dagegen gelingt die „Geschichte der Sprachwerdung“ mit Hilfe des Vaters in der  ländlichen Rückzugsidylle der Großeltern(der Vater verordnet Muttertrennung!) jenseits staatlicher Institutionen  . Die Passagen des bildhaften Spracherwerbs von Johannes, eingebettet in die intensive  Naturerfahrungen von Vater und Sohn zählen zu den Stärken des Romans, wenn auch die Geschichte  des „ersten Satzes“ mit einem Pathos zelebriert wird, das angesichts des Ergebnisses „Gebt mal her“ verpufft.  Die Szenerie des Landaufenthalts erfährt mit dem unerwarteten Erscheinen der nackten Mutter an jenem einsamen Waldseechen, das für Johannes im wörtlichen Sinne „frei schwimmen“ bedeutete, eine ödipale Dimension.  Die Verwandlung der stummen Mutter zur singenden Nymphe – ihr Bad trägt Züge einer rituellen Reinigung – angesichts des zwischen „Entbehrung“ und „Begehren“ überwältigten kindlichen Beobachters missglückt allerdings zum Psychokitsch.  Ob autobiographisch verbürgt oder wie so manches im Roman wiederum eher der literarischen Dramaturgie geschuldet, ist die 2. Mutter-Sohn Begegnung am Fluss.  Der Mutsprung Johannes vom Felsplateau   bedeutet nicht nur die lebenslange Überwindung von Angst, sondern angesichts der wie aus dem Nichts auftauchenden Mutter den endgültigen Schritt aus mütterlicher Bevormundung. Sein gegen die Hilfeschreie der Mutter „Spring nicht“ vollzogener Akt der Befreiung befreit die Mutter aus ihrer Stummheit. Das „absolute Schweigegebot“ innerhalb der Familie über das Trauma der Mutter wird erst während der Gymnasialjahre von Johannes während der sog. „Essener Tage“ von Onkel Hubert durchbrochen, jener Pfarronkel, der das Schicksal von Johannes ohne es zu ahnen im wesentlich bestimmt. Leitet dessen Klavier der Marke Sailer die Karriere eines musikalischen Genies ein, so weisen seine Erzählungen über das Theologiestudium in Rom den weiteren Weg, einen Weg, den Johannes bei seiner 1. Ankunft 1972 in Rom als „eine einzige große Befreiung empfindet“. Und in der Tat offenbaren die römischen Notizen hinter dem bildungsbeflissenen Conservatorio-Schüler eine  Johannesfigur, die vor allem in der Clara-Episode eine erotische Dimension erhält, die zeigt, dass   im Kölner Einzelgänger erfreulicherweise mehr als Schumann und Bach lodert . Überhaupt öffnet Rom in vielfältiger Weise das Fenster nach außen: die Musik wird öffentlicher, die Kleidung leichter für den begehrlichen  Sprung ins Abseits, man trifft sich mit Freunden, Hinterhofparlando, neben Kirchenkult und Petersdomfaszination treten Schauplätze wie Bars und Cafes. „Das schöne Lebens zu zweit“, das Johannes „an die Stelle des früheren, innigen Lebens mit seinen Eltern“  setzt  und die Pianistenlaufbahn werden durch die Diagnose „Sehnenscheidenentzündung“ plötzlich beendet. War Rom auch als Abschied von den Eltern gedacht, so führt das Scheitern gerade dorthin zurück und mit demselben Pathos mit dem die Ewige Stadt als Heimat glorifiziert wird, erklärt der 20jährige, kaum dass er das einsam gelegene Elternhaus betritt: „Ich werde mein Elternhaus nie mehr verlassen…ich werde von nun an zusammen mit meinen Eltern leben und mich nie mehr von ihnen entfernen…ich werde studieren noch einen Beruf anstreben, ich werde überhaupt nichts anstreben“. Diese Regression durchbrochen zu haben, verdankt Johannes neben seinem schriftstellerischen Talent vor allem seinem musikalischen Förderer Fornemann, der sich auch als gewiefter Strippenzieher in Sachen literarischer Markt erweist. Und wir verdanken Fornemann und den Klagenfurter Kritikern die Förderung eines Autors, der seiner stummen Kindheit Jahrzehnte später eine eigene Sprache verleihen kann. Dass diese Aufarbeitung der Vergangenheit am Schauplatz Rom geschieht, ist nicht zufällig. Mit der Antonia-Marietta-Handlung, die den Schreibprozess immer wieder unterbricht, erleben wir den inzwischen erfolgreichen Autor als Romenthusiasten. Doch wer glaubt  Antonia erwecke Clara- Stürme sieht sich bitter enttäuscht. Vielmehr scheint der Autor mit der musikalischen Domestikation der 12jährigen Marietta nochmals seine eigenen Pianistenträume verwirklichen zu wollen. Ob imaginiert oder real – selbst der vom Autor inszenierte erste öffentliche Auftritt Mariettas  wird letztendlich zur Apotheose auf den wahren „pianisti“: Liebe Freundinnen und Freunde, sagt das Kind, Giovanni wird jetzt zum Schluss noch selbst etwas spielen. Bitte, Giovanni, nun kommt Dein Auftritt.“   Etwas weniger Eitelkeit, etwas weniger Geniekult, etwas weniger Schumann, etwas mehr wirkliches Leben und weniger Kladden  – „Die Erfindung des Lebens“  hätte mehr berührt. Note: 3 (ai)<<

>> Was für eingroßartiger Stoff! Obwohl Handwerklich sicher gekonnt, führt aber doch manch großspurig angelegter Spannungsbogen enttäuschend ins Leere und die Geschichte zieht sich zunehmend mit ermüdenden Wiederholungen. Das Getue um die Klavierkünste des Protagonisten ist schlicht nervig, am Ende gar peinlich. Note: 3 (ün)<<

>>Wer seine Sprache zweimal verliert, wird zum Schriftsteller. Sprache, Mitteilung, dem inneren Druck von Kommunikation, die gelebt werden muss, nachgehen und nachgeben, das ist eine Lehre, die das Leben von Ortheil prägt. Sprache drängt aus dem Menschen heraus, gibt ihm Gleichgewicht und wiegt so schwer im Miteinander. Sprache – das ist für Ortheil nicht nur das Wort sondern auch Klang, der sich in seinem Leben zu gelebter Musik verdichtet. Der Anlass, ein herausragender Pianist zu werden, war bezeichnender Weise der Verlust des Sprechens. Klavierspiel war fortan in seinem Leben das Therapeutikum, um die isolierende Stummheit zu überwinden. Als tragischer Weise schließlich das Klavierspielen unmöglich wurde, und der Pianist in ihm starb, wurde der Schriftsteller geboren, den wir heute kennen. Der autobiographische Roman ist ein eindrucksvolles Manifest einer schicksalhaften Ich-Werdung mit, gegen und durch die Sprache.
Der kleine Johannes (Ortheil) wächst in der stillen Kölner Mietwohnung seiner Eltern ohne Geschwister auf, nachdem seine Mutter durch Kriegsangriffe und Fehlgeburten ihre ersten vier Söhne und bedingt durch die traumatischen Erfahrungen auch die Sprache verloren hatte. Nach zunächst normaler Sprachentwicklung versinkt der dreijährige Johannes in symbiotischem Schweigen. Er teilt die Stille mit der Mutter, die ihn auf Engste an sich bindet. Die Mutter-Kind-Einheit wird vom als Landvermesser arbeitenden Vater geduldig umsorgt mit einer Verständigung mittels Zetteln, die täglich in großer Zahl von der Ehefrau geschrieben werden. Die umschwiegenen Ohren des Jungen machen seinen Augen Platz, die umso aufmerksamer die Welt aufsaugen. Als das Schulalter über die Kleinfamilie hereinbricht, sind weder Mutter noch Johannes den Veränderungen gewachsen: die Symbiose droht zu zerbrechen, der ewig schweigende Junge wird als geistig behindert in der Schule ausgegrenzt und das anfängliche Bemühen des Lehrers verkehrt sich ins Gegenteil. Trost spendet nur ein Klavier, auf dem Johannes ungewöhnlich ausdauernd übt. Die ungezählten täglichen Stunden machen es zu seinem musikalischen Freund, den einzigen, den er lange Zeit haben wird.
Als der Schulalltag eskaliert, vollführt der besorgte Vater einen radikalen Schnitt, löst sich von seiner Arbeit, trennt Mutter und Sohn und wechselt mit Johannes für viele Monate in sein Heimatdorf im Westerwald. Hier werden sie wie selbstverständlich in den großen Gastwirtschaftsbetrieb seines Bruders aufgenommen und in das emsige Schaffen eingebunden. Vater und Sohn machen täglich lange Wanderungen. Im angestammten Terrain des Landvermessers lehrt der Vater das Betrachten und malerische Wiedergeben der Natur. Der Sohn folgt beeindruckt bis eines Tages das angestrebte Wunder vollbracht wird. Durch die Verbindung von zeichnerischem Erfassen und Schreiben dazugehöriger Worte („Das ist eine Eiche“) öffnet Johannes ein kognitives Tor, das ihm annährend grenzenlos eine einfache Syntax ermöglicht. Intuitiv gelingt dem Vater eine didaktische Methode zu finden, die dem Sohn den Zugang zur Sprache ebnet.
Die Mutter ringt während dessen mit ihrem eigenen Schicksal und vertieft sich ihrerseits in das Klavier spielen bis der Vater ihrem Besuch auf dem Lande zustimmt, der einen weiteren Damm brechen lässt. Als sie ihren Sohn zusammen mit anderen Kindern von einem Felsen in den Fluss springen sieht, schreit sie ihre Todesangst dem Sohn entgegen. Der Verlust der Söhne raubte ihr die Sprache, die Angst den letzten Verbliebenen zu verlieren, gibt ihr die Sprache zurück. Fortan wird sie wie in früheren Jahren als eine eloquente, feinsinnige Erzählerin in angeregten Unterhaltungen beeindrucken. Für Johannes wird die Begegnung am Fluss zu einem willensstarken Akt der Emanzipation: er will sich nicht mehr dem Diktat der Angst unterwerfen und behauptet bis heute, daraufhin nie wieder im Leben – egal in welchem Kontext – Angst gehabt zu haben. Entsprechend darf vermutet werden, dass aus der schicksalhaften Enge seines Kinderlebens kompensatorisch ein unbändiger Durchhaltewille gepaart mit einem enormen Ehrgeiz entsprungen ist. An einem der Folgeabende treten Mutter und Sohn konkurrierend gegeneinander auf. Die Mutter fasziniert die versammelte Belegschaft mit ausuferndem Klavierspiel bis Johannes sich erhebt um zum ersten Mal in der Öffentlichkeit zu sprechen. Als die völlig überraschten Gäste verstummen, holt Johannes zu einer langen Litanei kurzer Hauptsätze aus wie er sie in Verbindung mit seinen Zeichnungen gelernt hat: „ Das ist eine Eiche …“.
Nach längerer Zeit kehren sie nach Köln zurück, wo Johannes eine andere Schule besuchen und vor allem durch talentiertes Klavierspielen auffallen wird. Um seine musikalische Begabung zu fördern, wird er fortan von einem berühmten Pianisten unterrichtet und schließlich in ein bayrisches Elite–Musik-Internat überwechseln. Die ständige, ungewohnte Nähe zu Schulkameraden lassen diesen Ausbildungsschritt jedoch scheitern.
Nach dem späteren Schulabschluss erleben wir Johannes in einer neuen Welt. Angeregt durch viele Wanderungen und Reisen mit dem Vater bricht er nach Rom auf, das ihn augenblicklich verzaubern wird. Das Licht, das Blau, die Menschen, der Gesang der Sprache, das völlige Eintauchen in die Musik und vor allem die erste Liebe werden die folgenden zwei Jahre zu den schönsten seines Lebens machen. Mit Clara wird er völlig verschmelzen, die Liebe der Seelen und der Körper wird sie fesseln – unterbrochen nur von den zügigen Piano Fortschritten am Konservatorium. Freunde scharen sich um die beiden. Eine Berühmtheit entwickelt sich um den reifenden Pianisten. Das Leben ist unumwunden herrlich. Der rapide Abbruch kommt mit einer nicht therapierbaren Sehnenschädigung der Pianistenhände. Die Schmerzen machen das Musizieren unmöglich. Der monotone Blick auf das eigene Schicksal mit dem Verlust einer sicher geglaubten Karriere lastet auch unverhältnismäßig auf der Beziehung, die wenig später zerbricht. Hier holt Johannes die ausladende Ich-Bezogenheit, die ihm in früheren Jahren zu überleben half, ein und zerstört seine Aufmerksamkeit für Clara.
Nach Hause zurückgekehrt, wird er fortan ein zurückgezogenes, von den Eltern jedoch verständnisvoll unterstütztes Leben in der idyllischen Enklave im Westerwald führen. Zu diesem Zeitpunkt begleiten ihn vor allem tausende von Tage- und Notizbüchern, die er das ganze Leben lang verfasste. Eine schicksalhafte Begegnung mit seinem ehemaligen Klaviermeister weist ihm den Weg: er möge das aufgreifen, was ihm immer begleitete: seine geschriebenen Worte. Der Meister überzeugt ihn, die Tagebücher mit der so ungewöhnlichen Lebensgeschichte zusammenzufassen und zu veröffentlichen. Tatsächlich gelingt das Experiment. Auf Anhieb findet sich ein Wettbewerb, wird ein Sieg errungen und ein Verlag überzeugt: der Schriftsteller, der er eigentlich schon immer war, ist nun auch realiter geboren. In Verbindung mit dieser Entwicklung beschreiben eingestreute Kapitel eine zweite Romreise, die Johannes als längst Erwachsener unternimmt, um seine Lebensgeschichte zu überarbeiten. Der römische Alltag spiegelt frühe Ereignisse: der Tochter seiner Nachbarin wird eine Klavierkarriere vorbereitet, Johannes schlüpft in die Rolle des Klavierlehrers, er selbst gibt nach Jahrzehnten wieder ein öffentliches Konzert, welches begeistert aufgenommen wird. Erotische Schwingungen verbinden ihn mit der Mutter seiner Klavierschülerin. Das Leben kann so schön sein.
Eine beeindruckende Lebensgeschichte, die nicht nur auf Grund ihrer vermutlich weitgehenden Authentizität berührt. Dies vor allem in der Beschreibung der Kinderjahre, in denen der kleine schutzbedürftige Junge seiner vom Schicksal zutiefst verfolgten Mutter selbst Schutz gewährt und damit seine eigene Entwicklung blockiert. Beeindruckend der Vater, dem man als Zahlen-gebärenden Beamten nicht die pädagogische Intuition zutraut, ein tragisches Familienschicksal aufzufangen. Er macht eine schon fast verlorene Seele nicht nur alltagstauglich, sondern verhilft ihr zu Stationen des Glücks. Und darüber hinaus verwöhnt uns das Werk mit poetischen Szenen römischer Erotik. Leider überrascht die Romanlandschaft stellenweise aber auch mit sprachlichen Flachgebieten, begleitet von einer mitunter ermüdenden Selbstverklärung, wenn es um die Genialität des Pianisten geht. Entsprechend hätte der Roman von einer deutlichen Kürzung des Umfangs profitieren können. Eine Geschichte, die als Kinofilm noch gewinnen könnte.
Note: 2– (ur)<<