Frühling der Barbaren-Jonas Lüscher

K640_fruehling_der_barbarenC.H. Beck 2013 , 125 Seiten.

 >> „Eine Novelle ist eine Erzählung von kürzerer bis mittlerer Länge. Oft wird darin ein Konflikt zwischen Ordnung und Chaos beschrieben, was zu einem Normenbruch und Einmaligkeit führt.“  [Wikipedia] Jonas Lüschers  125 Seiten umfassende Novelle „ Frühling der Barbaren“  könnte für diese Definition Pate gestanden haben. Auch Goethes  Charakterisierung der „unerhörten Begebenheit“ lässt sich als nichts Geringeres als der Staatsbankrott Englands ausmachen. Lüscher konstruiert auf drei  Erzählebenen: Einmal erzählt der Schweizer Fabrikant Preising seine Geschichte auf seinen Spaziergängen in einer psychiatrischen Klinik, in der er wegen einer Krankheit namens „Besonnenheit“  eingeliefert wurde. Gesprächspartner von Preising ist der Ich-Erzähler, der dort wegen einer Depression ist und der die von Preising erzählte Geschichte aus seiner Wahrnehmung wiedergibt. Letztlich kommt dann noch ein Allwissender Erzähler dazu. Zu erkennen, wer gerade erzählt ist eine kleine, gut zu bewältigende Herausforderung, die der Novelle Raffinesse verleihen und die ihre Wirkung  besonders dann entfaltet, wenn die Zeitachse kurz verschoben und subjektive und objektive Betrachtung  auseinanderfallen.

Preising, Seniorchef einer soliden, schweizerischen Telekommunikationsfirma verbringt einen Urlaub in einem tunesischen Edelresort in der Wüste, mit dessen Leitung seine Firma  geschäftliche Beziehungen pflegt. Dort trifft er auf eine große Gesellschaft  junger, britischer Geschäftsleute aus der Londoner City, alle um die 30, die dort die Hochzeit  von Kelly und Marc luxuriös feiern wollen. Mit der Mutter von Marc, die dem exaltierten Lebensstil der „cityboys“ und „citygirls“ auch skeptisch gegenüber steht, freundet sich Preising an und betrachtet interessiert de Hochzeitsvorbereitungen  der jungen Leute, die als Investmentbanker Millionen verdienen und  die es gewohnt sind, dass sich das Leben gefälligst nach ihnen zu richten hat.

Die Ordnung bricht zusammen, als  England den Staatsbankrott anmeldet und  E-Mails der Banken  rausgehen, in den sie ihren Mitarbeiter „vorschlugen,  doch heute zur Arbeit einen Pappkarton mitzubringen.“ Kreditkarten werden nicht mehr akzeptiert,  Roaming –Telefonieren wird eingestellt, Fluggesellschaften „gegroundet“.

Wie das junge Finanzgesindel auf die neue Situation reagiert, soll nicht verraten werden.
Lüscher zeigt klug, prägnant  und witzig auf die Mechanismen einer globalisierten Welt und ihrer Akteure. Meisterlich. Note: 1 (ün)<<

 

>> Was uns auf drei Erzählebenen von Preising, einem Schweizer Unternehmer mit erheblicher Entscheidungsschwäche, von seinem Mitpatienten und Ich-Erzähler in einer psychiatrischen Anstalt und vom auktorialen Erzähler berichtet wird, ist furios. Ein Preising von seinem Geschäftspartner Prodanovic verordneter  Entspannungsurlaub in Tunesien endet mit der teilnehmenden Beobachtung eines Infernos in einem Luxus Oasenresort namens „Thousend and One Night“. Während einer 250.00 Pfund teuren Hochzeitsfeier aus dem   Banker- und Finanzjongleur-Milieu meldet England den Staatsbankrott und Preising wird Zeuge, wie rasch die Fassade der Zivilisation bröckelt, wenn Kreditkärtchen und I-Phones verstummen. Aus vermeintlichen Leistungsträgern werden über Nacht nach dem Bankencrash in London armselige Kistenträger  (der englische Fernsehsender „No comment“ sendet, eines der vielen großartigen Bilder Lüschers, das, was dem Leser aus „Lehmann-Zeiten“ in Erinnerung geblieben ist). Aus hippen Partygästen, denen es in folkloristischer Berberidylle Tschub an nichts fehlt, werden Vandalen unterschiedlicher Dimension. Vor allem die Figur Quikys, der sich mit seinem „quick trigger finger“ in der Finanzmetropole London ebenso wie im Irakkrieg durchzusetzen weiß, wird in der Stunde der Ernüchterung (süffisant spricht Lüscher von „veränderten Umständen“!) zum Akteur eines Exzesses, der in einem grotesken Inferno, der Zerstörung des Ressorts endet. Glänzend, wie „zielstrebig“ andere die Krise als Chance zu nutzen verstehen. Die 30jährige Wertpapierhändlerin Jenny, Trauzeugin der Braut,  Zuffenhausen und Deutschlands Autobahnen lassen grüßen, erkennt in der Stunde der Not die Vorzüge eines geregelten Lehrstuhlgehalts und legt zügig Hand an an den alternden Soziologieprofessors Sandford, den Vater des Bräutigams Marc . Jennys „Geschmeidigkeit“ besiegt die ob des Altersunterschieds unvermeidliche „Lächerlichkeit“ und so bleiben von Sandford langjähriger Ehe mit Pippa nur Überreste, von Sandford allerdings weniger bewundert  als die Überreste der Berberkultur in Gestalt der Vielkammerbauten. Einen menschlichen Zusammenbruch ganz anderer Art erleidet jene Pippa bereits während der Hochzeitfeier. Ihr poetischer Beitrag, die Rezitation eines amerikanischen Beatpoeten, der die Weitergabe kultureller Werte besingt, endet, das Inferno im Kleinen symbolisch vorwegnehmend, mit ihrer Demontage, einer Demontage, die uns Preising in seiner Version der Erzählung mitfühlend vorenthält. Großartig auch hier wie Lüscher die Wechselwirkung von Rezitator und Publikum beschreibt. Nicht der poetische Gehalt, die Verpackung, der selbstsichere Auftritt Pippas, die Show verschafft ihr zunächst noch die Aufmerksamkeit, die die dumpfbackene junge Finanzbagage gewöhnt ist auch Personaltrainern, Unternehmensberatern oder Investmentgurus entgegenzubringen. Das erste Straucheln, ein kurzer Moment des Kontrollverlusts beim Blick auf den Vortragszettel und die „Abwärtsspirale“ beginnt –  in dieser Gesellschaft nicht nur der Zusammenbruch Pippas, sondern das Ende der Poesie. Der Crash des englischen Finanzsystems erfasst auch das tunesische Besitzbürgertum in Gestalt der Familie Malouch, auf deren Einladung sich Preising im Ressort befindet. Doch die Skrupellosigkeit mit der der Geschäftspartner Preisings, Slim Malouch seine Geschäfte mit Hilfe südsudanesischer Kinderarbeit treibt, wird durch die zweite „Arabellion“ nur durch neue Geschäftemacher ersetzt. Preising wird Augenzeuge wie die „Dinkas mit blutverkrusteten Fingernägeln“ Produkte seines Unternehmens mit dem Slogan „Genius of Swiss Engineering“ assemblieren – ohne zu handeln.

Eine Novelle mit einer temporeichen Sammlung „unerhörter Begebenheiten“, Realitätsdiagnose mit den Elementen der Groteske brillant verbindend. Was wird bewiesen? Es gäbe was zu tun! Die Anstalt ist dafür allerdings der falsche Ort.
Note: 1 (ai) <<

>> Eine spannende Novelle, in der zuerst Geld keine Rolle zu spielen scheint. Am Ende aber um so mehr. Jonas Lüscher zeigt in der fein konstruierten Geschichte die Frivolität der meist jungen Menschen, die an den Finanzplätzen die Fäden ziehen. In diesem Fall London. Als es zum Staatsbankrott kommt und alle Kreditkarten gesperrt werden, ist die zivilisatorische Tünche schnell abgeschminkt. Eine Hochzeit endet im Inferno.  Apokalypse real. Auf der letzten Seite wird die Novelle als Geschichte bezeichnet, „aus der sich nichts lernen ließ“. Das ist sicher nicht ganz richtig. Andererseits plagen mich doch gelinde Zweifel, ob meine drei Lesefreunde dieses Opus nicht etwas überschätzt haben. Note: 1/2 (ax)<<

>> Im Psychiatriegarten offenbart der Schweizer Unternehmer Preising seinem Gesprächspartner die unglaubliche Beschreibung einer Tunesienreise. Vielleicht seine letzte, deren reale Absurdität Preising die Wirklichkeit entzogen haben mag. Vielleicht auch eine Form Buße für seine unmoralische Besonnenheit, deren ungehemmtes Relativieren jede wirtschaftlich nützliche Schweinerei begründen hilft. Vielleicht auch der Rückzug hinter eine schützende Sanatoriumsmauer, vor welcher die Welt in ständiger Wiederholung ihre Werte verrät. Alle gebärden sich barbarisch – unabhängig von dem Kulturhintergrund: ob in der arabischen Eheanbahnung, ob im britischen Finanzmarkt oder in der eidgenössischen Weltbetrachtung. Da ist jener tunesische Paschavater, der Preising als zu überzeugenden Geschäftspartner nicht nur seine schon vergebenen Töchter aufdrängt – ein zufälliger Verkehrsunfall der Verlobten könnte auf Wunsch arrangiert werden. Da ist die britische Hochzeitsgesellschaft, die nach dem plötzlichen Vermögensverlust Hunde schändet und Kamele schlachtet. Da ist der Schweizer Firmeninhaber, der vor der Verurteilung blutender Kinderhände, die sein teuer konzipiertes Firmenlogo auf Elektronikprodukte kleben, erst differenzierende Überlegungen anstellen möchte.
Jonas Lüscher läßt gleich drei Ich-Erzähler auftreten. Unter diesen ist der leicht verhuschte Preising die zentrale Figur: Inhaber eines Schweizer Familienunternehmens, das dem wirtschaftlichen Untergang nur deshalb entging, weil ein begnadeter Mitarbeiter  den Übergang von veralteten Dachantennen zu Handybauteilen ermöglichte. Von diesem wohlwollenden und inzwischen zum Prokuristen aufgestiegenen Mitarbeiter  läßt Preising sich wie jedes Jahr in den Urlaub schicken. Diesmal zu einem tunesischen Unterauftragnehmer, der zusammen mit seiner emanzipierten Tochter Saida zudem Besitzer zahlreicher Hotels im gehobenen Preissegment ist. Zunächst versperrt ein Leichenfeld überfahrender Kamele den Weg zum 1001-Nacht Resort. Die mortalen Verflechtungen im Wüstensand sind ähnlich kausal verflochten wie die finanzwirtschaftlichen Zusammenbrüche, die Preising gerade in der Zeitung liest. Der Kameltreiber hat das Straßenverbot missachtet, der Tod-bringende Busfahrer hatte es eilig, der Kameltreiber verliert mit 13 Kamelleichen seine Existenz, der demolierte Bus gehört Preisings Subunternehmer, die Busgäste kommen aus Saidas Hotel, verpassen jetzt Ihren Flug und am schlimmsten wiegt der Umstand, dass Saidas neue Gäste am folgenden Tag keinen Wüstenausritt werden machen können. Ähnlich die Situation in Großbritannien, wo die abstürzende Royal Bank of Scotland die Lloyds Banking Group in den Abgrund reißt und  damit auch die britische Regierung als Großaktionär, worauf die Schar der kleinen Sparer ihr Vermögen verliert. Und dies alles nur, weil beide Banken gemeinsam zweifelhafte Geschäfte in Bangalore tätigten. Immer ist noch jemand und etwas da, um einen noch höheren Zins zu verlangen, sich zu bereichern oder tragisch zu scheitern.
Im edlen Resortkomplex tobt eine britische Hochzeitsgesellschaft, deren Banker-Gesellen im Schatten der Berber Architektur für sechsstellige Summen ein angemessenes Fest mit 70 Gästen zelebrieren. Jung, Yuppie, jovial – je gedeckter die Bikinifarbe desto gedeckter der Scheck – soviel kann Preising sofort ausmachen, als er von den Bräutigamseltern unter die Fittiche genommen wird. Sprachlich amüsante Fantasien folgen als Preising mit Vater Sandford zu einer verbotenen Ruinenstadttour aufbricht. Von Lüscher markant herausgearbeitet auch die entblößende Oberflächlichkeit der Bankergesellschaft, die der Mutter Pippa für einen absurden Gedichtvortrag in tiefenökologischem Ductus solange Begeisterung zollt, wie sie die schillernde Gewinnermentalität auszustrahlen vermag. Schon mit den ersten Anzeichen von Unsicherheit wendet sich das Unkulturpublikum ab. Mit einer entblößten, ergrauten Rest-Schambehaarung könnte Pippa nicht nackter dastehen. Mit ansteigendem Alkoholpegel werden schließlich die letzen kulturellen Trockenflächen überspült.
In der folgenden Nacht kollabiert das britische Finanzsystem und überrascht die verkaterte Hochzeitgesellschaft. Die geschäftstüchtige Saida ist alarmiert und verweigert den zahlungsunfähigen Briten prompt das Frühstück. In herrlichen Überspitzungen läßt Lüscher darauf der Groteske freien Lauf. Der stilvolle Professor Sandford wendet sich unter spontaner Kündigung seiner Ehe der Geschmeidigkeit einer Jüngeren zu, Ehefrau Pippa setzt im Gegenzug mit einer kraftvollen Schenkelklemme Preising fest. Die hungrige Yuppiemeute erinnert sich an Preisings frei erfundenes Beduinenrezept und schlachtet Kamel und Hundewelpen. Der um Ordnung bemühte Bademeister muss natürlich sein Leben im Swimmingpool ausatmen, das Grillfeuer zum Garen des gelynchten Kamels entzündet nicht nur Palmen sondern auch das Resort als Ganzes: Sodom und Gomorra wird wiederbelebt. Dass Preising mit der Hoteldame Saida zu einem Unterauftragnehmer fliehen kann, inzwischen die Revolution in Tunesien ausgebrochen ist, das Volk von den Herrschenden das Geld zurückverlangt und Saida von den Revolutionsgarden durch den Verrat des Unterauftragnehmers verhaftet wird, folgt den natürlichen Gesetzen androgener Egoismen. Für den überaus turbulenten Schlussakt wird dem Leser nochmals alles abverlangt und man tut gut daran, das metapherhafte im Anblick des realen Chaos nicht aus den Augen zu verlieren. Sonst geht es einem wie dem ersten Ich-Erzähler: „Du stellst schon wieder die falsche Frage.“
Dass in den zunächst katastrophal anmutenden Niederungen der Barabarei auch Erneuerungschancen liegen, zitiert Lüscher im Vorwort als schöpferischen Prozess. Man mag sogar hinzufügen: schöpferische Prozesse als niemals endene Wiederholungen, die stete Hoffnungen nähren. Auch hierin liegt die eindrucksvolle Hintergründigkeit dieser Novelle: sie taucht das Absurdbizarre in eine dezent humoristische Nährlösung, so dass aus Kopfschütteln Erwartung wird. Ein abenteuerlich unterhaltendes Werk mit vielen gekonnten Querverflechtungen, trockenem und nasstriefendem Humor in einer unaufdringlichen, ziselierten Sprachgebung. Ganz und gar überzeugend, wenn man den Humor verträgt. Note: 1 (ur)<<