Small World – Martin Suter

Diogenes, 1997 – 324 Seiten

>>            Bemerkenswerter Roman für eine gerontologisch voranschreitende Gesellschaft. Die Alzheimer Erkrankung wird ernst und zugleich unterhaltend beleuchtet. Dabei ist das Plotgerüst aus kriminologischen Stangen aufgestellt. Einfache Sprache kontrastiert mit einer ausgeklügelten inhaltlichen Schachtelung. Am Ende steht die unorthodoxe Auf– und Erlösung. Dem Protagonisten Konrad Lang wird durch Verwerflichkeit anderer das wahre Leben geraubt. Mit progressivem Gedächtnisverlust büßt er es ein zweites Mal ein. Und gerade das schenkt ihm ein neues Dasein und erhellt das vorangegangene.

Konrad Lang (63) ist Verwalter und Hausmeister des Kochschen Feriensitzes auf Ibiza. Seine ersten Anzeichen von Alzheimer werden deutlich, als er fälschlicherweise die repräsentative Villa in Brand setzt. Er hatte einen Holzstapel neben statt im Kamin entzündet. Die Kochs – unter strenger Führung der alten Unternehmergattin Elvira – internieren den hilflosen Mann in einer Mietwohnung unweit ihres Wohnsitzes in der Schweiz. Aus einem unverstandenem Grund fühlen sie sich verantwortlich.

Konrad versucht sich zwischen bescheidenen Ritualen von Mittagessen in der Sozialstation, Alkoholsucht und wenigen Sozialkontakten einzurichten. Bis Rosemarie Haug in sein Leben tritt und eine rührige Seniorenliebe entfacht. Rosemarie bestärkt ihn in seiner Selbstfindung, gibt ihm ein neues Wertgefühl und die Kraft, dem Alkohol zu entsagen. Am schwersten wiegt die Loslösung von der dominierenden Familie Koch. Ein Leben lang war er als Sohn einer angeblichen Freundin des Hauses integriertes Mitglied der Familie. Als solches war seine ihm zugeschriebene Rolle die des Spielgefährten und Adjutanten des Chefsohnes Thomas Koch. Nun, parallel zur voranschreitenden Loslösung von der Familie, hat er das Gefühl, zum ersten Mal in seinem Leben einen ihn erfüllenden und selbstständigen Platz einzunehmen.

Tragischerweise schreitet die Demenz so weit voran, das sie letztlich die erhoffte Ehe mit Rosemarie unmöglich macht. Er findet nicht mehr aus dem Supermarkt heraus, vergisst den eigenen Namen, trocknet vollgenässte Wäsche im Backofen. Eines nachts verläuft er sich im verschneiten Forst. Man findet ihn, doch sind drei Zehen abgefroren. Er wird stationär eingewiesen. Er entgleitet sich selbst.

Eine zweite Frau, die er als solche jedoch kaum noch wahrnimmt, tritt in sein Leben. Simone Koch (23). Als frustrierte und betrogene Gattin des designierten Familienoberhaupts Urs Koch (28) bietet ihr der samariterhafte Einsatz für Konrad die Möglichkeit, sich in der Familie zum ersten Mal zu behaupten. Sie holt Konrad aus der geschlossenen Klinik und richtet ihm auf dem eigenen Anwesen eine perfekt eingerichtete Sozialstation mit ausgebildetem Personal ein. Videokameras helfen, Konrad vor gefährlichen Dummheiten zu bewahren. Gerne würde sie Konrads Erinnerungsvermögen mit Bildern aus der Kindheit stabilisieren, doch verweigert die Hausherrin und Schwiegermutter die Alben. Simone kopiert kurzerhand die Erinnerungsstücke und beginnt mit Konrad eine geduldige Gedächtnistherapie. Konrad formuliert erstaunliche, wenn auch rätselhafte Zusammenhänge, die vermuten lassen, dass die öffentlich bekannte Familiensaga verfälscht wurde. Auch der Hausherrin bleibt dieser Erkenntnisprozess nicht verborgen. Ihre hochgradige Verunsicherung treibt sie schließlich zu einem Mordanschlag. Sie infundiert Konrad eine Überdosis Insulin. Konrad kann knapp dem Tod entgehen, während die Hausherrin prompt durch Videoaufzeichnungen belastet wird.

Der Schuld überführt, suggeriert Elvira den zukünftigen Kocherben, dass sie ihr Erbe verlieren werden, sollte der Mordversuch publik werden. Nachforschungen würden dann ergeben, dass Thomas Koch in Wirklichkeit der Sohn von Elviras Schwester sei und Konrad ein leiblicher Sohn aus erster Ehe von Elviras verstorbenem Gatten. Elvira gesteht, dass sie und ihre Schwester den alten Koch durch eine Überdosis Insulin ermordet hätten. Durch ein Stilllegen des Haussitzes samt Personal verbunden mit einer langen Abwesenheit, wäre es den Schwestern gelungen, die Spuren zu verwischen. Den beiden kleinen Buben wäre durch einen bewusst verwirrenden, gemeinsamen Mutter-Mutter-Sohn-Sohn Alltag ein verändertes Familienbewusstsein eingetrichtert worden. Elvira wäre zur Mutter von Thomas, die Schwester zu Konrads Mutter geworden. Das Vertauschen der Kinder hätte Elvira ermöglicht, Thomas, den Sohn ihrer Schwester, zum Alleinerben des Koch Imperiums zu machen. Tatsächlich lassen sich Konrads diffuse Erinnerungsäußerungen so deuten. Wenn der Leser durch diese Verschachtelung in der Verschachtelung nicht nachhaltig verwirrt wurde, wird er ahnen, dass diese Darstellung erlogen ist.

Weil sie mit den zwei Insulinanschlägen hochgradig belastet bleibt, sieht die Hausherrin nur den Ausweg, aus dem Leben zu scheiden. Der folgende Suizid bleibt jedoch als solcher unerkannt, geht er doch in einem tödlichen Autounfall unter.

Am Ende durchschlägt der auktoriale Erzähler den gordischen Knoten der Familiensaga. Elvira war zunächst Hausmädchen bis sich eine Liaison zwischen ihr und dem verwitweten Koch entwickelte. Koch war Vater des kleinen Thomas. Die verschlagene Elvira (19) erwirkte die Ehe mit dem alkoholsüchtigen Witwer (57). Elvira hatte inzwischen ihre Schwester mit deren vermeintlichen Sohn Konrad ins Haus geholt. Tatsächlich war Konrad der aus einer Vergewaltigung hervorgegangene Sohn von Elvira selbst. Nachdem die damals 14-jährige schwangere Elvira aus ihrem Heimatdorf verwiesen worden war, war der älteren Schwester der neugeborene Konrad angehängt worden. Im neuen Domizil der Kochs angekommen, eigneten sich die beiden Schwestern die schönreiche Unternehmerwelt kaltblütig an, indem sie schon ein Jahr nach Elviras Hochzeit dem alten Koch eine Überdosis Insulin verabreichten.

Wie allen anderen bleiben auch Konrad diese Hintergründe verborgen. Literarisch folgt der Lichtung der Familientragik eine Aufhellung des Krankheitsverlaufs. Als schließlich ein forschender Neurologe Konrad eine noch nicht zugelassene anti-plaque Therapie ermöglicht, kann das Fortschreiten der Degeneration gestoppt werden. Sogar regenerative Besserungen deuten sich an (seien wir großherzig – ein wenig Kitsch muss erlaubt sein).

Ein Roman, der dem Vergessenen die Kraft des Erinnerns verleiht. Note: 1 – ( ur)<<

Ins Offene – Karl-Heinz Ott

K640_Ins_offene_geschnittenResidenz Verlag 1999, 139 Seiten.

>> Ott fokussiert in seinem Werk auf eine parasitäre familiäre Symbiose, in der eine Mutter dem Sohn die Zuwendung förmlich aussagt. Wir folgen den Aufzeichnungen des Sohnes, dessen Seele durch die Gefühlsgewalten zerfurcht wurde und vielleicht doch die Kraft bewahrt, sich ins Offene zu öffnen.

Mutter Hilde lebt in einem oberschwäbischen Dorf, geprägt von Kleingeist, religiöser Kompromisslosigkeit und familiärer Enge. Als 40-Jährige noch immer ledig, beginnt sie eine lebensfrohe Liaison mit einem Familienvater, wird schwanger, treibt mit Stricknadeln ab und wird öffentlich geächtet. Mit einer zweiten Schwangerschaft versucht sie den Textilhändler zu binden. Dieser verlässt und stürzt sie in einen seelischen Abgrund, aus dem sie nie wieder entkommt. Wegen des unehelichen Kindes (der Ich-Erzähler) wird sie vom größten Teil der Familie verstoßen. Fortan wächst der Junge isoliert mit Mutter und Großmutter auf.

So wie die Großmutter noch als 80-Jährige ihre Tochter Hilde anzuketten und schmerzhaft zu erniedrigen vermochte, so setzt Hilde mit ihrem Sohn die emotionale Kasernierung fort. Während die Großmutter das Ende ihres gequälten und quälenden Daseins jedoch in einer geschlossenen Anstalt verbrachte, bleibt der epileptischen Seele ihrer Tochter die Freiheit, das Gemüt ihres Sohnes im dörflichen Habitat geistiger Verseuchung zu vergiften. Nach dem Tod der Großmutter renoviert Hilde in einem vergeblichen Emanzipationsausbruch ihr gemeinsames Haus, um darauf von Schuldgefühlen verschüttet zu werden. Hilde definiert ihr Seelenheil allein durch ihren Sohn, den sie wie ein eigenes Organ inkorporiert. Seine Versuche, als Heranwachsender dem Nest zu entfliehen, empfindet sie als Lebensbedrohung. Schon dem Kind gegenüber arbeitet sie mit vorauseilenden Schuldzuweisungen, die keine seelischen Grenzen kennen. Die Formen der negativen Bindungen spiegeln die örtlichen und ihre religiösen Überzeugungen wider, die von einem rächenden, egoistischen Gott dominiert werden.

Selbst als die krebskranke Hilde im Angesicht ihres Todes im Hospital ihren Sohn empfängt, verfängt sie sich in den hergebrachten, quälenden Ritualen des Vorwurfs und strafenden Schweigens. Erst im letzten Moment äußert die Mutter die lapidare Selbstkritik „ich, … ein … Lästermaul“. Die Empfindungen des Sohnes lassen vermuten, dass dieses Wort die maso-sadistischen Ketten dieser Zweierbeziehung, in der der Junge nicht nur Sohn war, sondern auch als ausdauernder Ersatz-Gatte diente, sprengen könnten.

Zwischenzeitlich besucht er die bedeutungsarmen Stätten seiner ihm fremd gewordenen Heimat. Auch wenn sie zunächst abweisend wirken, entdeckt er überraschend Requisiten, die Licht-erfüllt sind. Vielleicht wird die triste Vergangenheit sich erhellen. Als Schüler hatte er hier Albert Camus´ Verfilmung „Der Fremde“ gesehen und sich vorgenommen, sich Gelassenheit zu verordnen, auch wenn er wie der Fremde in der nordafrikanischen Wüste zum Tode verurteilt werden sollte, weil er am Grab seiner Mutter keine Anteilnahme zeigte.

Der Plot ist ausgesprochen handlungsarm angelegt. Die beklemmende Beziehungsenge wirkt beängstigend dicht und erschütternd, wenn das Leben zur am Tod gemessenen Schlaflosigkeit verkümmert. Trotz der Kürze bleibt das Werk nicht frei von ermüdenden Wiederholungen. Sprachlich brilliert der Autor, und bei mehr inhaltlicher Bewegung könnten daraus glänzende Werke werden.

Für Eltern-Beziehungsgeschädigte ein interessantes Werk. Note: 2– (ur)<<

Gefährliche Geliebte – Haruki Murakami

Dumont-Buchverlag, 1992/2000 – 230 Seiten

ISBN 3 7701 4781 2

>>Wie in zahlreichen seiner Werke, webt der Autor auch in diesen Roman autobiographische Fasern ein. Das selbstgerechte Einzelkind, Entwicklungsphasen der Lustlosigkeit, sexuelle Fantasien und Obsessionen, westliche Popmusikideale als lebenslanger Versatz in wiederkehrenden Lebenssituationen, der Mann als Jazzbar-Besitzer und die klassische Musik als Passion. Murakamis Protagonist bewegt sich wie in einem sinnsuchenden Entwicklungsroman, in dem die treibende Kraft die Anziehung von Frauen ist. Sie verursachen Strömungen in die Zukunft, drohen in die Tiefe zu ziehen, tragen die schwersten Lasten wie Ozeane Schiffsriesen. Wiederkehrendes Moment ist die finale Bedrohung, der finale Entschluss, der Suizid, der wiederholt in seinem Bekanntenkreis zu beklagen ist. Dazwischen zieht die männliche Hauptfigur eine versteppte Spur durch sein und das Leben anderer. Mystisches Funkeln am literarischen Lagerfeuer, schwertragende Leerstellen in den skizzierten Lebensläufen, Sinnsuche und der Versuch die Rein- und Absolutheit einer Kinderliebe zu verewigen, indem die Zeit angehalten wird. Doch genau das ist nicht möglich. Am Ende bleibt offen, ob Hoffnung und Scheitern die Balance halten werden. Ein durchaus spannender Plot. Sprachlich weitgehend schlicht, wenn auch mit nachdenklichen Metaphern und überraschenden Sentenzen.

            Hajume wächst als isoliertes Einzelkind in einer spießbürgerlichen Vorortsiedlung Japans auf. Ähnlich wie seine schöne, durch Kinderlähmung gehbehinderte Schulkameradin Shimamoto. Die stigmatisierten Kinder verbindet eine stille, fast platonische Verbundenheit, die sich erst Jahrzehnte später zu einer dramatischen Besessenheit verdichten wird. Der Schüchternheit des Jungen folgt die umso selbstbewusstere Präsenz des Jugendlichen. Nachdem er mit seiner neuen Freundin keinen Sex haben kann, gerät er in Abhängigkeit zu deren Cousine, mit der er hemmungslose Orgien zelebriert. Beide Frauen stürzen ins Bodenlose. Die eine verwahrlost – aufgerieben von Eifersucht und Schmerz, die andere begeht Selbstmord. H. treibt richtungslos durch die Studienzeit, wird schließlich Schulbuchlektor. Er ist angeödet vom Dasein und zerfressen von Selbstvorwürfen über seine latenten Gewaltphantasien, die seiner Unzufriedenheit entspringen. Schließlich lernt er seine zukünftige Frau kennen, der er seine aufrichtige Liebe schenken wird. Eine Familie wird gegründet, der wohlhabende Schwiegervater ermöglicht die Finanzierung zweier renommierter Jazzlokale. H. kommt zu Erfolg, findet seinen Lebensmittelpunkt.

            Als seine frühe Liebe Shimamoto in seinem Lokal Platz nimmt, wird das alte Feuer augenblicklich neu entzündet. Eine geheimnisvolle dunkle Aura umgibt sie. Nie hat sie gearbeitet, lebt dennoch in luxuriösen Verhältnissen – offensichtlich aber in terrorisierter Isolierung. Vielleicht die streng sanktionierte Mätresse eines einflussreichen Politikers oder Großkriminellen. Bei einem gemeinsamen Tagesausflug, bei dem die Asche ihrer verstorbenen Tochter ausgestreut werden soll, entgeht sie nur knapp dem Exitus, weil sie lebensnotwenige Medikamente nicht genommen hatte. Ein Zufall?

  1. verfällt in eine bedingungslose Ergebenheit. Ein geheimes Wochenende mit ihr lässt das Ende seiner Familie erahnen. Die Autofahrt in die Abgeschiedenheit wird fast zum tödlichen Ausflug, als sie ins Lenkrad greifen will. Erstmals begegnen sich beide auch erotisch. Shimamotos sexuelle Ekstase nimmt dabei paranoide Züge an. Sie lässt ihn absolute Hörigkeit schwören. Er folgt. Überraschend verschwindet sie jedoch in derselben Nacht ohne je wiederzukehren. H. wird später klar, dass ihre Absicht der gemeinsame Tod war. Denn nur so hätte sie frei von den Zwängen ihres gegenwärtigen Lebens die Liebe zwischen ihnen unverfälscht verewigen können. Für sie war nur die völlige Verschmelzung denkbar. Eine Selbstaufgabe wie sie im realen Dasein nicht lebensfähig ist. Zurückblickend umgab sie stets ein Hauch von Todesengel.

Das magere Ende des Plots zeichnet H. zerrissen. Er offenbart sich seiner suizidgefährdeten Frau. Vermutlich werden sie standhalten. Vielleicht auch nicht.
Note: 2– (ur) <<

Im Land der letzten Dinge – Paul Auster

Rowohlt 1989 – 199 Seiten

>>            Paul Auster skizziert im Science Fiction Setting das hoffnungslose Ausgeliefertsein einer suchenden Protagonistin in einer verlorenen Welt. Es ist die vage letzte Apokalypse eines entmenschlichten Kontinents, in der Politik kaum noch in Erscheinung tritt. Der Verfall des Humanen ist so weit vorangeschritten, dass der zerstörerische Mikrokosmos eines jeden ganz und gar bestimmend wird. Auster lässt in dem gewählten Metropollabyrinth jeden namenlosen Nachbarn zur Hyäne werden. Der Alltag ist erbarmungslos vernichtend, sodass der vorzeitige Freitod in jedem Falle als Erlösung begriffen werden muss. Gesellschaftliche Strukturen, geregelte Arbeitsprozesse und einvernehmliche Ordnungen fehlen ebenso wie Zukunft und Ziele. Das Dasein folgt nur noch dem Reflex, das Leben lebend durchzubringen oder es selbstbestimmt zu beenden. Jeder häutet jeden. Ein Skalp hat nur einen materiellen Wert. Die generalisierte Verantwortungslosigkeit kennt keine Schuldigen mehr, da es keine Unschuldigen mehr gibt. Anklage wird nicht erhoben. Von keinem und niemand. In diesem desaströsen Strudel verliert auch der Einzelne sich selbst. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Zeit keine messbare Größe mehr ist. Vergangenheit und Zukunft als Möglichkeit verblassen vollständig. Der Mensch verkümmert zur grenzenlos destruktiven Kreatur. Der Autor entwirft die Vision eines erschreckenden Endzustands und meint damit vermutlich die Tendenzen unserer Gegenwart.

            Die neunzehnjährige Anna Blume reist voller Verzweiflung in das Land der letzten Dinge auf der Suche nach ihrem verschollenen Bruder. Er war als Journalist dort verschwunden. Auch zu Samuel Farr hatte der Verlag jeden Kontakt verloren, nachdem man ihn geschickt hatte, nach dem Kollegen zu fahnden. Anna schreibt, um sich nicht zu verflüchtigen. Es ist ein endloser Brief, der keinen Adressaten mehr kennt. Dieses sich selbst gegenüber vergewissern hält sie am Leben. Den Brief lesen wir hier.

            Erschüttert wird sie sofort in die neue Rolle einer Isolierten gezwungen, die nur noch für das Überleben lebt. Sie kriecht durch Gossen, vagabundiert versteckt im Schatten des Drecks, stiehlt, flüchtet, verliert jeden Bezug. Erst als sie beginnt Schrott und Abfälle zwischen den Ruinen zu sammeln um sie zu verkaufen, haben die Tage eine traurige Orientierung. Ihr Moralempfinden verbietet ihr noch die allgegenwärtigen Leichen zu berauben. Auch liefert sie keine Verstorbenen in die Transformationszentren, die nichts anderes als Heizkraftwerke sind.

            Der grausame Alltag hat diverse Suizid-Bewegungen ins Leben gerufen. Rennervereinigungen trainieren kompromisslos, um durch Überlastung des Herzens den Tod herbeizuführen. In jedem Distrikt bieten Liquidationsagenturen für teures Geld Mörder an, die in einem unerwarteten Moment blitzartig Leben auslöschen. Selbstmordsprünge von Hochhäusern lösen bei Passanten eine beklemmende Begeisterung aus, zielen sie doch auf die heimliche Sehnsucht eines jeden.

            Dann rettet Anna einer älteren Dame namens Isabel das Leben, als diese bedroht wird. Aus Dankbarkeit bietet sie der obdachlosen Anna Unterkunft. Dem folgenden Versuch einer Vergewaltigung durch Isabels verhassten Ehemann kann sie nur knapp entgehen. Als sie ihn aus Angst erwürgt, verspürt sie als Zeichen ihrer Verrohung zum ersten Mal Freude. Um vor den Nachbarn ein respektables Bild abzugeben, täuschen die beiden Frauen seinen selbstbestimmten Suizid vor, in dem sie den Leichnam unbemerkt vom Hochhausdach stoßen. Die Form des Endes ist die letzte verbleibende Währung auf dem Wertekonto. Als auch die alte Isabel verstirbt, überfallen augenblicklich Nachbarn das Heim und treiben Anna in die unmenschlich kalte Winternacht.

            Anna findet Zuflucht in der Nationalbibliothek, in der bereits zahllose Intellektuelle campieren und sinnlos palavern. Überraschend findet sie dort auch Samuel Farr, der ebenfalls erfolglos nach ihrem Bruder gefahndet hatte. Über zähe Phasen des Misstrauens hinweg nähern sich beide an. Eine Liebe blüht auf im Schutt des Infernos und führt sogar zu einer Schwangerschaft, die es seit ewigen Zeiten im Land der letzten Dinge nicht gegeben hatte. Anna verliert jedoch bei einem Sturz aus großer Höhe das Ungeborene. Sie war aus Verzweiflung durch ein Fenster gesprungen, als man sie in ein Menschenschlachthaus gelockt hatte, um sich an ihrem Leben und dem des Fötus zu bereichern. Zu diesem Zeitpunkt verliert sie den Kontakt zu Sam, da zwischenzeitlich die Nationalbibliothek mit hunderten Toten abbrannte.

Einem glücklichen Zufall hat sie zu verdanken, dass sie schwerstverletzt aufgelesen und ins Woburn Asylheim gebracht wird. Als sie weitgehend wieder hergestellt ist, gliedert sie sich in die Arbeit des Hauses ein und wird Evaluatorin für neue Bewerber. Bis zu 20 Personen wird einige Tage kostenlos Unterkunft und Verpflegung geboten, wenn sie besonderen Härteansprüchen genügen. So sitzt denn auch plötzlich der totgeglaubte Sam vor ihr. Er wird aufgenommen und übernimmt eine fingierte Arztstelle, in dem er mit großen Erfolg Menschen als Quasi-Mediziner Trost bereitet, auch wenn wenig später der Tod deren Leben vernichtet. Das Ende des Woburn Hauses wird unabwendbar, als Sam einen Jungen erschießt. Dieser hatte bereits zahlreiche Gäste des Hause mit einem Maschinengewehr niedergemäht. Den Jungen hatte die grenzenlose Enttäuschung getrieben, dass die anderen Gäste nicht die Leiche seines Großvaters gegen die Polizei verteidigt hatten, damit sie nicht in einem Transformationszentrum verheizt würde.

Anna und Sam planen schließlich aus der Stadt zu fliehen. Ob es gelingen wird, ob sie jemals irgendwo ankommen werden, ist unwahrscheinlich. Die Hoffnung ist zunächst nur, den kommenden Tag zu erleben.

Ein bedrückendes Werk. Bedrückend auch, weil Auster nicht Naturgewalten, sondern die Natur des Menschen als Quelle der Vernichtung identifiziert. Der Absturz der Evolution.  Note : 3 – (ur)<<

Elementarteilchen – Michel Houllebecq

DuMont 1999 (franz. Original 1998)  – 357 Seiten

>>Der Roman ist auf zwei zentrale Themen fokussiert: Sexualität und Gewalt – auch gegen sich selbst. Beide Aspekte ufern mit der Liberalisierung im 20. Jahrhundert aus und verwandeln die Individuen zu erbarmungslosen Egozentrikern, die jede Empathie füreinander verlieren. So der intendierte Tenor.

Angereichert mit zahlreichen authentischen Gegenwartsereignissen werden die Ausflüsse der nachklingenden Hippiebewegung mit neutral-kühlem Eifer seziert. Houellebecq entwirft in seinem Thesenroman ohne jeden Vorwurf dabei das Bild einer Menschheit, deren Ritualmorde á la Maison gesetzmäßig im Sodom und Gomorrha der Zukunft enden müssen. In Abwesenheit ordnender göttlicher Instanzen oder einer selbstbegrenzenden Räson dieser Menschheit folgen ebenso logisch als einzige Alternative die objektiven Lösungsmöglichkeiten der Naturwissenschaft. Der Autor formuliert dies ohne jede missionarische Passion. In einigen Jahrzehnten wird die Molekularbiologie ein Menschengeschlecht erschaffen haben, welches den Urzustand der Genesis spiegelt. Dann jedoch geklonte Lebewesen, optimiert für ein paradiesisches Dasein. Sozial befriedet, unsterblich und ohne sexuelle Fortpflanzung. Mit stabilisierter DNA, die unkontrollierte Mutationen und damit überraschende Abweichung von der idealisierten Norm vollkommen ausschließt.

Als Hauptprotagonisten des Romans begegnet der Leser den beiden Halbbrüdern Michel (!) und Bruno. Geboren von der bis zum Lebensende durch Landkommunen, Esoterik und Erotik treibenden Mutter Jane. Sie: gefangen in ihren Freiheiten mit Männern, eine Rabenmutter, die ihre Kinder verlässt und den Großeltern überantwortet. Die Halbbrüder wissen zunächst nichts voneinander. Sie durchleiden eine elternlose, trübselige und im Internat (Bruno) grausame Jugend. Die frühe seelische Verstümmelung begleitet beide gleichermaßen bis ans Ende, wenn auch in höchst unterschiedlichen Ausprägungen.

Bruno kompensiert die libidinöse Isolierung als Jugendlicher mit sexueller Obsession im Erwachsenenalter. Die Endstation seiner seelisch-körperlichen Irrfahrten wird die geschlossene Psychiatrie sein. Zuvor versucht er ein geordnetes Leben, das ihm zunächst ein Lehrerdasein und eine Ehe mit Sohn beschert. Die Scheidung folgt. Der Sohn wird ihm trotz seines apathischen Wesens zur unerträglichen Konkurrenz. Dessen Jugend scheint ihm sein voranschreitendes Altern zu verhöhnen. Bruno reagiert mit einer suchthaften Hinwendung zu sexuellen Praktiken. Sie suggerieren ihm intakte Vitalität. Urlaube auf Sexfarmen, meditativer Gruppenkoitus, Stammgast mit seiner Freundin Christiane im Swinger Club. Hier erleidet die von Knochenkrebs gezeichnete Frau während eines athletischen Koitus mit unbekannten Männern eine Querschnittslähmung. Als Sexobjekt entwertet, wird sie sich im Rollstuhl von einem Hochhausdach stürzen. Bruno hatte sich ihr zwar seelisch angenähert, doch vereitelte seine Liebesunfähigkeit eine tragende Partnerschaft.

Michel dagegen etabliert sich früh als erfolgreicher, sozial jedoch völlig entrückter Naturwissenschaftler. Dennoch wird ihm die Gnade zuteil, seine schon früher verehrte Schulfreundin Annabelle zu ehelichen. Aber auch sie hat trotz – oder gerade – wegen ihrer betörenden Erscheinung Isolierung erfahren. Und so verdorrt sie in ihren Gefühlen. Im Laufe einer Tumorerkrankung begeht auch sie Selbstmord. Michel zieht sich die letzten Lebensjahre nach Irland zurück und legt den entscheidenden Grundstein für die metaphysische Wandlung der Menschheitsgeschichte. Er wird sich nach getaner Karrierearbeit – der endgültigen Stabilisierung des menschlichen Erbmaterials – dem Suizid hingeben.

Es ist ein hintergründig moralischer Roman. Obwohl ohne jede politische Einlassung, provoziert das Werk vor allem mit seinen ausführlichen sexuellen Details. Manche dieser auch pervers brutalen Szenen sind nur in kleinen Dosen zuträglich. Dennoch ein diskussionswürdiger Wurf mit soziologischer Nachdenklichkeit. Note: 2/3 (ur)<<

Die nackten Masken – Luigi Malerba

Verlag Wagenbach 1995 (Ital. Original 1995)  – 297 Seiten

>>Malerbas Werk ist ein abenteuerlicher Roman-Rückblick in die kriminelle Kirchengeschichte des 16. Jahrhunderts. Autoritärer Glaube ist Herrschaftsinstrument. Der Verweis auf satanische Kräfte und irreale Gesetzmäßigkeiten werden beliebig mit Lug und Betrug angereichert. Ziel ist neben missverstandener Frömmigkeit stets der persönliche Bonus. Die suchtartige Befriedung von Libido, Macht- und Gewaltgelüsten. Je höher die Position in klerikalen Institutionen, desto egomaner die Ansprüche, desto skrupelloser das Instrumentarium ihrer Durchsetzung, desto bizarrer der Glaubensmissbrauch sich selbst und den Gemeindemitgliedern gegenüber. Auch weil Leben keine Bedeutung zukommt, hat das manipulative Glaubenssystem der kirchlichen Diktatoren selbst auf die kontinentalen Machtverhältnisse einen zerstörerischen Einfluss.

Nach dem plötzlichen Tod des Verschwendungspapstes Leo X. wird nach großen Kontroversen ein Kardinal aus dem Ausland zum neuen römischen Papst gekürt. Prompt kommt es zu Aufruhr im Volk und Bestürzung bei Geistlichen, die um ihre Privilegien fürchten. Intrigen, Moralverfall und Kriminalität herrschen in den kirchlichen Chefetagen. Zwei konkurrierende Kardinäle versuchen im Schatten der Umbrüche das Amt des Kämmerers und damit den Zugriff auf die Finanzen an sich zu reißen. Selbst Mord ist ein probates Mittel bei diesem Ringen.

In einem amüsanten, informativen und spannungsreichen Erzählaufbau bewegen sich vier Handlungsstränge auf ein gemeinsames Epizentrum zu, das im Moment des Zusammentreffens überkritisch wird.

  • Kardinal della Torre lebt in Angst zurückgezogen in seinen Spiegelgemächern. Er sucht die Einsamkeit durch Spiegelvervielfältigung seiner selbst zu umgehen. Angetrieben von Machtgelüsten manipuliert er seinen engsten Mitarbeiter Diakon Baldassare und stachelt ihn gegen seinen Konkurrenten an.
  • Sein Widersacher Kardinal Ottoboni ist ihm in Machtgeilheit, Prasssucht und Intrigenerfolgen stets voraus. Dieser rüstet zum Anschlag auf della Torre mit Hilfe eines Berufskillers.
  • Der neue Papst steht drohend über allem. Er bewegt sich mühsam mit seiner Schiffskarawane von Spanien nach Rom, wo beim rituellen Schuhkuss der Kardinäle zum Empfang des Papstes alle aus ihren Verstecken erscheinen müssen. Es wird der Moment der Katastrophe werden.
  • Diakon Baldassare ist getrieben von naiver Ergebenheit und Treue zu Gott und seinem Vorgesetzten. Sein Schicksal-weisendes Missgeschick ist eine unverstandene Weihrauchallergie, die ihn an Stätten heiliger Besinnung in schwere Hustenanfälle stürzt. Hin- und hergerissen von Angstvisionen, versucht er sich in Befreiungstherapien. Auf Anraten della Torres gibt er sich zunächst ängstlich und bald lustvoll genießend einer Hure hin, sucht einen Arzt mit diabolischen Spezialkenntnissen auf, will sich dem Exorzismus anvertrauen. Und dennoch zweifelt er immer wieder, fühlt er sich doch für eine Teufelsaustreibung zu rein. Sein Meister Kardinal della Torre nutzt mit großer Hinterlist die Seelennot und macht ihn zum Instrument seiner Machtinteressen. Mit intelligenter Grausamkeit treibt er ihn in den mörderischen Anschlag auf seinen Konkurrenten. Della Torre macht den Diakon glauben, seinen in ihm wohnenden Teufel durch diese teuflische Tat besänftigen zu können.

Gefangen in dem Irrglauben des 16. Jahrhunderts und an sich erfüllt mit dem Streben nach dem Guten, bleibt Baldassare in seiner Naivität letztlich schuldlos – auch im Angesicht des folgenden Mordes an Ottoboni.

Schuldig und durch Angst und Einsamkeit aufgezehrt dagegen della Torre, der schon als junger Mann mit allem Ehrgeiz Berufsheiliger werden wollte. In seinem ganzen Leben konnte ihn nur ein Mensch an das Menschliche in ihm selbst heranführen – eine Hure. Es war eine Hure, die er bis zum päpstlichen Verbot als Haushälterin anstellte. Tragisch bis zum Schluss: Als sie sich ihm nach vielen Jahren der enttäuschenden Ablehnung zuwenden will, ist auch della Torre ermordet worden.

Und die Kirche? Der neue Papst wettert gegen die Unordnung im Inneren, um eine äußere Ordnung zu erzwingen. Auch diese Ordnung ist betont gewalttätig. Sie ist von den gleichen willkürlichen Motiven getragen. Nur die Adressaten sind andere. Alle Kräfte für das Morden bei den Feldzügen gegen die Heiden. Alle tragen Masken und können doch nicht die nackten Tatsachen maskieren.

Leser, die über den angemessen religiös-mittelalterlichen Sprachstil nicht stolpern, werden ihre helle Freude an dieser Lektüre haben.  Note: 2+ (ur)<<

Alberta empfängt einen Liebhaber – Birgit Vanderbeke

Alexander Fest Verlag  (1997) – 117 Seiten

>>Das Werk behandelt die Traurigkeit in einer glücklosen Beziehung zwischen Alberta und ihrem Jugendfreund Nadan. Es ist eine toxische On-Off Liaison. Literarisch schon oft abgehandelt. Der Kunstgewinn im Teil I ohne Überraschungen. Im Teil II jedoch die Wende, als die Erzählung der Hauptprotagonistin endet, und die Autorin persönlich auftritt. Sie problematisiert das Verfassen dieses Romans im Kontext ihrer gerade gelebten Ehe. Ein Ineinandergleiten der fiktiven und vermeintlich realen Ebene zeichnet sich ab. Und damit versprechen die Beziehungsinhalte literarisch zu fusionieren. Ist das gelungen?

Alberta und Nadan fühlen sich periodisch angezogen ohne jedoch wirklich zueinander zu finden. Wie eine Sucht mit überwunden geglaubten Rückfällen kommen sie nicht voneinander los, wobei sie nichts als Intoleranz, Egoismen und Schweigen verbindet. Die Kraft und der Motor der Sucht bleiben unverstanden. Als Jugendliche fällt der erste nicht stattfindende Kuss einem Urschweigen zum Opfer. Als Mittzwanziger scheitert ein gemeinsamer Ausreißversuch an ihrer beidseitigen Beziehungsunfähigkeit. Sein Zahnputzgurgelgeräusch reicht, um all ihre Zuneigung zu löschen. Im Gegenzug verfällt er in isolierende Migräne, so dass ein Urlaub schon im ersten Autobahnhotel verebbt. Als Erwachsene – nach ihrem Aufenthalt als Studentin in Lyon und seinem Exkurs als Astrophysiker in die USA – hält er für sie ein Familienhaus parat, das natürlich nie ihre gemeinsame Heimat wird. Irgendwann wird sie von ihm schwanger. Er lässt sie sitzen. Sie treibt ab. Auch wenn ihre Ablehnung an dieser Stelle verständlich wird, bleibt unklar, wodurch ihre gleichzeitige Anziehung gespeist wird.

Die Geschichte versandet – als Leser spürt man nur das Knirschen zwischen den Zähnen, nicht aber den bitteren Geschmack der pathologischen Zweisamkeit. Dabei hätte aus der interessanten Konstruktion des Plots etwas werden können. Während im ersten Kapitel in der Ich-Form Albertas Geschichte erzählt wird, führt sich im zweiten Kapitel die Autorin selbst ein, um mit ihrem desinteressierten Gatten Jean-Phillip die Fortsetzung des Romans zu diskutieren. Dieses literarische Arrangement böte die Möglichkeit, die Beziehungsprobleme im Wechselspiel zu beleuchten und im Kräftespiel zwischen Vanderbeke und Jean-Phillip Antworten mit dramaturgischer Eigendynamik zu entwickeln. Leider bleibt der Ansatz auffällig oberflächlich. Es ist nicht erkennbar, was der Jean-Phillip-Exkurs letztlich beiträgt.

Ein Fazit: es gibt nichts Schwierigeres als Beziehungen. Paralysierendes Schweigen ist ihr wichtigstes Merkmal. Eine trübe Vision in einer hier mitunter ermüdenden Version.  Note: 3/4 (ur)

Die Glut – Sandor Marai

Piper Zürich  (1942/1998) – 224 Seiten

 << Márai widmet sich in diesem Werk Fragen wahrer Freundschaft; wie seelische und gesellschaftliche Antipoden Grenzen negieren und sie am Ende doch nicht niederreißen können. Wie Liebe zwischen den Geschlechtern und tiefste Verbundenheit zwischen Männern, engste Bünde hervorbringen und lebenstiefste Gräben aufreißen. Und dass Prinzipientreue und Verletzungen ewig wirksam bleiben. So beschrieben zwischen zwei grundverschiedenen Männern und einer Ehefrau in der K.u.K Monarchie Österreich-Ungarns, der Heimatregion des Autors.

In seinem 75. Lebensjahr wartet General Hendrik immer noch asketisch vereinsamt in seinem Karpaten-Schloss auf den hassgeliebten Freund Konrad, der sich vor über 40 Jahren in die Tropen absetzte. Beide waren schon als Kinder wie unzertrennliche Zwillinge; besuchten gemeinsam die Kadettenschule; absolvierten den Wiener Militärdienst um die Jahrhundertwende und schienen trotz ihrer Gegengesetzlichkeit aneinander geschweißt.

Hendrik: stark, lebenszugewandt, unternehmungslustig, prinzipientreu aber emotionslos, reich und aus wohlhabendem Geschlecht. Konrad dagegen aus armem Elternhaus, introvertiert, musikalisch-verträumt, aber ebenso prinzipientreu. Trotz Freundschaft gewährten sie sich übereinstimmend nicht den gesellschaftlichen und finanziellen Ausgleich untereinander. Ebenso blieb für beide vom jeweils anderen ein bedrohliches, unverstandenes und beneidetes Wesenselement. Verborgen und unerreichbar.

Vermutlich war es eine stille Entfremdung von Hendrik, die Konrad zusammen mit dessen Frau Krisztina veranlasste, einen tödlichen Jagdunfall zu konzipieren, dem Hendrik jedoch nicht zum Opfer fiel. Konrad hatte im dem Moment, als Hendrik die Tötungsabsicht erkannte, den Mut zum finalen Schuss verlassen. Der entlarvte Attentäter floh in die Tropen und blieb 41 Jahre verschollen. Hendrik, der eine Teilnahme seiner Frau vermutete, verließ auch sie augenblicklich. Fortan versank er in einer inneren und äußeren Immigration. Seitdem verharrte er paralysiert in diesem Leerraum – gestützt nur von seiner inzwischen 91-jährigen Ersatzmutter, der früheren Amme, die ihm eine verständnisvolle, lautlose und einfühlsame Dienerin blieb.

In der Gewissheit, das Leben ohne Aussprache nicht beenden zu können, treffen die Kontrahenten noch einmal aufeinander. Konrad erhofft vermutlich durch eine Beichte seelische Befreiung. Hendrik dagegen will ihm zuvorkommen und die Wahrheit nehmen, um den Schmerz zu sühnen. Da Henrik in einem vorauseilenden Monolog die Ereignisse mit detektivischem Spürsinn faktengenau abhandelt, bleibt Konrad nur Schweigen. Dadurch wird ihm tatsächlich die erhoffte Absolution vorenthalten. Die Schuldzuweisung wirkt umfassend. Obwohl Mordversuch und Ehebruch vordergründig die Hauptvorwürfe darstellen, entpuppt sich der Verrat an ihrer Männerfreundschaft als die bedeutendste Verletzung.

 Trotz des im Grunde sehr schlichten, geradlinigen Handlungsablaufs, gelingt dem Autor eine anhaltende Elektrisierung. Dies erscheint umso bemerkenswerter, da die monologischen Reflexionen des Hauptprotagonisten in der Anlage monoton ausgelegt sind. Dennoch bleibt der Leser im Geflecht der Beweisführung gebannt.

Letztlich steuert der Roman auf zwei Fragen zu. Hat die Ehegattin den Komplott mit geplant und haben die beiden Freunde vielleicht ihre Lebenskraft nur aus dem Niedergang dieser Frau ziehen können? Nach der Trennung verendete sie vereinsamt an Auszerrung. Beide Männer durften sich sicher sein, dass der Rivale von ihr nicht mehr bevorzugt werden würde. Die erste Frage wird im Werk vorab mit ja beantwortet. Die zweite Frage bleibt unbeantwortet. Da der Plot als Ganzes in diesen Fragen seinen Kulminationspunkt erreichen soll, ist am Ende Leseenttäuschung vorprogrammiert, denn der Spannungsbogen wird letztlich nicht vollendet.  Note: 2/3 (ur)>>

Örtlich betäubt – Günter Grass

Steidl Verlag  (1969) – 283 Seiten

>>Grass diagnostiziert in Örtlich betäubt eine literarische Multimorbidität, deren zeitgeschichtliche Symptome auf einem zahnärztlichen Behandlungsstuhl sediert werden. Intoniert von einer kieferkranken Pädagogengestalt. Mit Betonung der immer nur kleinen Schritte im Konfliktfeld der Gegenwart. Eben die Tretmühle der Vernunft. Formal kleidet der Autor die Gedanken in assoziative Gewitter, woraus sich eine unübersichtliche Wetterlage für den Leser entwickelt. Streckenweise durchaus originell, im Ganzen jedoch unterkühlt. Auf einen Handlungsstrang verzichtet Grass weitgehend. Ja, man kann die Orientierung verlieren und sich im Kreise drehen. Ist das Zeitkritik?

Der Hauptprotagonist Starusch, Gymnasiallehrer für Deutsch und damit auch Geschichte, steht im Widerstreit mit seinen diffus progressiv politischen Ansprüchen. Geprägt von den Umwälzungen der 68er-Jahre und der inzwischen angepassten Rationalität, die neben jedem Für auch mit einem Wider liebäugelt. Wie in einem bewegten Stillstand verfangen. Sein literarischer Gegenpol ist der Schüler Scherbaum. Sympathisch, intelligent, politisch entflammt für Gerechtigkeit und radikalisiert durch seine Freundin Vero. Um die Berliner gegen Napalm und den Vietnamkrieg aufzurütteln, plant er seinen Dackel auf dem Kudamm zu verbrennen.

Verbrennen oder nicht verbrennen bleibt die durchgängige Frage. Der Selbstredner Starusch monologisiert in Rückenlage während einer langwierigen Kieferbehandlung. Dabei purzeln unter dem Einfluss wiederholter Lokalanästhesie autobiographische Elemente, Personen und Visionen assoziativ durcheinander und hinterlassen verwaschene Engramme. Zahnärztlicher Eingriff und die als Dialoge verkleideten Diskurse teilen die Monotonie, nur unterbrochen vom gelegentlichen Murmeln des behandelnden Arztes.

Interessante Einflechtungen stellen lediglich Aspekte der Familie Krings dar, mit der Starusch fast verwandt geworden wäre. Vater Krings war Zementbaron und hartgesottener Militarist. Als Ex-Feldmarschall gehasst, dann kriegsgefangen, schließlich heimgekehrt. Tochter Linde war Verlobte von Starusch bis die Beziehung auseinanderbrach. Auslöser des Zerwürfnisses war die Liaison mit Elektriker Schlottau. Schlottau diente als Gefreiter unter ihrem Vater. Linde hoffte nun – über den nur im Stehen praktizierten Sex – von Schottau Hintergründiges über ihren Vater zu erfahren. Der Liebesverlust entfachte in Starusch farbenfrohe Mordphantasien, ohne dass es zum Vollzug gekommen wäre.

Der Seitensprung wurde weiter ins Absurde verfremdet, in dem sich das neue Paar mit aller Inbrunst von der Wertewelt des Feldmarschalls absorbieren ließ. Ins Groteske gesteigert, stellten sie am Ende zu dritt in naiv-befremdlicher Weise in riesigen Sandkastenspielen Details des Russlandfeldzuges nach. Mit veränderten Strategien müsste der Krieg nachträglich doch noch zu gewinnen sein. Der Militarismus ging viral.

Der Roman bewegt sich nicht, und er bewegt nichts. Auch prosaisch bleibt er betäubt. Es scheint Schmerz da zu sein, aber unter örtlicher Betäubung wird er weder gespürt, noch hat er Konsequenzen. Die Zahnbehandlung ist abgeschlossen, doch der Kiefer bereitet neue Probleme. Der Hund wird nicht verbrannt. Die kleine Pseudoterroristin Vero heiratet einen anderen und wird Stammgast in angesagten Kudamm Konditoreien. Die Lehrerkollegin Seifert gebiert sich als selbstkasteiender Erzengel samt Schuldanspruch mit unbegrenzter Haltbarkeit. Nachträglich entsetzt über ihre früheren BDM-Aktivitäten im Nazideutschland, ist für sie jetzt der Schüler Scherbaum Zukunftshoffnung und moralisches Idol. Doch ihre Selbstempörung erweist sich als labil. Die überschießenden Heilserwartungen an den Schüler und die Zeitenwende zerbröseln augenblicklich als das Hundeopfer aus dem zeitgenössischen Programm gestrichen wird. Auch Scherbaum sieht die Dinge inzwischen relativierter.

Der Roman kann als Gesellschaftskritik verstanden werden in einer Zeit, in der politische Aufarbeitung historischer Verbrechen weitgehend ausbleibt. Eine Zeit, die davon lebt, Zusammenhänge zu relativieren, intellektuell zu versanden und deshalb zu paralysieren. Betäuben. Aber eben nur örtlich. Ernst gemeint, aber literarisch nicht wirklich gelungen. Note: 3/4 (ur)<<

Simple Storys – Ingo Schulz

 K640_simple_storysBerlin Verlag 1998, 303 Seiten.

>>In 29 Kleinkapiteln bewegt sich eine Vielzahl von Hauptpersonen durch Alltagssituationen des ex-DDR-schon-fast-BRD-Seins der juvenilen Nachwendezeit. Paare bilden sich, Arbeitsplätze gehen verloren, Seitensprünge geschehen, Fische werden geangelt, Stasi-Vergangenheiten holen ein und alte Rechnungen werden beglichen. Jedes Kapitel hat einen anderen Ich-Erzähler. Im Laufe des Buches werden zunehmend komplexere Verflechtungen der zunächst isoliert betrachteten Personen deutlich. Der Vernetzungsgrad steigert sich ins Undurch-schaubare. Nur mit hartnäckiger Detektivarbeit kann der Leser zurückverfolgen, wer mit wem eine Busreise machte, Pornogeschichten wem anvertraute und wen in Zeiten der Macht beruflich liquidierte. Da zahlreiche Personen als Erzähler und Erzählte auftreten, böte sich Gelegenheit, literarisch Fremd- und Eigenbild kontrastreich miteinander in Beziehung zu setzen oder Charakterentwicklungen aus verschiedenen Blickwinkeln zu verfolgen. Die übersteigerte Komplexität der Erzählstruktur macht dies jedoch fast unmöglich. Lesende verfangen sich zunehmend hoffnungsloser im Detailgeflecht je weiter sie im Werk voranschreiten.
Tenor der meisten Passagen ist die kleine und große Tragik nach der deutschen Wiedervereinigung. Es fehlen die strahlenden Sieger. Stattdessen ein Gruppenbild der Verlierer, denen nicht nur die Gesellschaftsveränderung sondern vor allem auch sie sich selbst im Wege stehen. Der direkte politische Bezug wird meist ausgeblendet. Andererseits blitzt Witz und Situationskomik auf. Neben viel Trivialem überraschen einzelne gelungene, feinsinnige Szenen wie jene, in der die Reporterin Danny den alleinstehenden Bertram entlarvt, der ihr eine angebliche Vergewaltigungsszene als Story aufbinden will. Vereinsamte Neudeutsche wie Bertram, geltungsbedürftig und verwirrt, eingeklemmt zwischen Realität und Fiktion. Oder Dieter Schubert, der beim Angeln wie seine Karpfen am Herzinfarkt verendet. Seine Frau überreicht danach nichts ahnend einer Schwesternschülerin einen verschlossenen Geldkuvert – für geleistete Perversionen mit Dieter. Wiederholt wird mit wenigen kryptischen Dialogfragmenten ein hohes Maß an Prosatiefe und Handlungstragik erreicht.

Leider gehen viele Akzente der einfachen Episoden im Netzwerk-Labyrinth verloren. Simple Storys – so simpel und falsch geschrieben wie das Leben eben ist. Für Ausdauernde ein Sudoko der Literatur. Note: 2/3 (ur)<<