Im Land der letzten Dinge – Paul Auster

Rowohlt 1989 – 199 Seiten

>>            Paul Auster skizziert im Science Fiction Setting das hoffnungslose Ausgeliefertsein einer suchenden Protagonistin in einer verlorenen Welt. Es ist die vage letzte Apokalypse eines entmenschlichten Kontinents, in der Politik kaum noch in Erscheinung tritt. Der Verfall des Humanen ist so weit vorangeschritten, dass der zerstörerische Mikrokosmos eines jeden ganz und gar bestimmend wird. Auster lässt in dem gewählten Metropollabyrinth jeden namenlosen Nachbarn zur Hyäne werden. Der Alltag ist erbarmungslos vernichtend, sodass der vorzeitige Freitod in jedem Falle als Erlösung begriffen werden muss. Gesellschaftliche Strukturen, geregelte Arbeitsprozesse und einvernehmliche Ordnungen fehlen ebenso wie Zukunft und Ziele. Das Dasein folgt nur noch dem Reflex, das Leben lebend durchzubringen oder es selbstbestimmt zu beenden. Jeder häutet jeden. Ein Skalp hat nur einen materiellen Wert. Die generalisierte Verantwortungslosigkeit kennt keine Schuldigen mehr, da es keine Unschuldigen mehr gibt. Anklage wird nicht erhoben. Von keinem und niemand. In diesem desaströsen Strudel verliert auch der Einzelne sich selbst. Nicht zuletzt auch deshalb, weil Zeit keine messbare Größe mehr ist. Vergangenheit und Zukunft als Möglichkeit verblassen vollständig. Der Mensch verkümmert zur grenzenlos destruktiven Kreatur. Der Autor entwirft die Vision eines erschreckenden Endzustands und meint damit vermutlich die Tendenzen unserer Gegenwart.

            Die neunzehnjährige Anna Blume reist voller Verzweiflung in das Land der letzten Dinge auf der Suche nach ihrem verschollenen Bruder. Er war als Journalist dort verschwunden. Auch zu Samuel Farr hatte der Verlag jeden Kontakt verloren, nachdem man ihn geschickt hatte, nach dem Kollegen zu fahnden. Anna schreibt, um sich nicht zu verflüchtigen. Es ist ein endloser Brief, der keinen Adressaten mehr kennt. Dieses sich selbst gegenüber vergewissern hält sie am Leben. Den Brief lesen wir hier.

            Erschüttert wird sie sofort in die neue Rolle einer Isolierten gezwungen, die nur noch für das Überleben lebt. Sie kriecht durch Gossen, vagabundiert versteckt im Schatten des Drecks, stiehlt, flüchtet, verliert jeden Bezug. Erst als sie beginnt Schrott und Abfälle zwischen den Ruinen zu sammeln um sie zu verkaufen, haben die Tage eine traurige Orientierung. Ihr Moralempfinden verbietet ihr noch die allgegenwärtigen Leichen zu berauben. Auch liefert sie keine Verstorbenen in die Transformationszentren, die nichts anderes als Heizkraftwerke sind.

            Der grausame Alltag hat diverse Suizid-Bewegungen ins Leben gerufen. Rennervereinigungen trainieren kompromisslos, um durch Überlastung des Herzens den Tod herbeizuführen. In jedem Distrikt bieten Liquidationsagenturen für teures Geld Mörder an, die in einem unerwarteten Moment blitzartig Leben auslöschen. Selbstmordsprünge von Hochhäusern lösen bei Passanten eine beklemmende Begeisterung aus, zielen sie doch auf die heimliche Sehnsucht eines jeden.

            Dann rettet Anna einer älteren Dame namens Isabel das Leben, als diese bedroht wird. Aus Dankbarkeit bietet sie der obdachlosen Anna Unterkunft. Dem folgenden Versuch einer Vergewaltigung durch Isabels verhassten Ehemann kann sie nur knapp entgehen. Als sie ihn aus Angst erwürgt, verspürt sie als Zeichen ihrer Verrohung zum ersten Mal Freude. Um vor den Nachbarn ein respektables Bild abzugeben, täuschen die beiden Frauen seinen selbstbestimmten Suizid vor, in dem sie den Leichnam unbemerkt vom Hochhausdach stoßen. Die Form des Endes ist die letzte verbleibende Währung auf dem Wertekonto. Als auch die alte Isabel verstirbt, überfallen augenblicklich Nachbarn das Heim und treiben Anna in die unmenschlich kalte Winternacht.

            Anna findet Zuflucht in der Nationalbibliothek, in der bereits zahllose Intellektuelle campieren und sinnlos palavern. Überraschend findet sie dort auch Samuel Farr, der ebenfalls erfolglos nach ihrem Bruder gefahndet hatte. Über zähe Phasen des Misstrauens hinweg nähern sich beide an. Eine Liebe blüht auf im Schutt des Infernos und führt sogar zu einer Schwangerschaft, die es seit ewigen Zeiten im Land der letzten Dinge nicht gegeben hatte. Anna verliert jedoch bei einem Sturz aus großer Höhe das Ungeborene. Sie war aus Verzweiflung durch ein Fenster gesprungen, als man sie in ein Menschenschlachthaus gelockt hatte, um sich an ihrem Leben und dem des Fötus zu bereichern. Zu diesem Zeitpunkt verliert sie den Kontakt zu Sam, da zwischenzeitlich die Nationalbibliothek mit hunderten Toten abbrannte.

Einem glücklichen Zufall hat sie zu verdanken, dass sie schwerstverletzt aufgelesen und ins Woburn Asylheim gebracht wird. Als sie weitgehend wieder hergestellt ist, gliedert sie sich in die Arbeit des Hauses ein und wird Evaluatorin für neue Bewerber. Bis zu 20 Personen wird einige Tage kostenlos Unterkunft und Verpflegung geboten, wenn sie besonderen Härteansprüchen genügen. So sitzt denn auch plötzlich der totgeglaubte Sam vor ihr. Er wird aufgenommen und übernimmt eine fingierte Arztstelle, in dem er mit großen Erfolg Menschen als Quasi-Mediziner Trost bereitet, auch wenn wenig später der Tod deren Leben vernichtet. Das Ende des Woburn Hauses wird unabwendbar, als Sam einen Jungen erschießt. Dieser hatte bereits zahlreiche Gäste des Hause mit einem Maschinengewehr niedergemäht. Den Jungen hatte die grenzenlose Enttäuschung getrieben, dass die anderen Gäste nicht die Leiche seines Großvaters gegen die Polizei verteidigt hatten, damit sie nicht in einem Transformationszentrum verheizt würde.

Anna und Sam planen schließlich aus der Stadt zu fliehen. Ob es gelingen wird, ob sie jemals irgendwo ankommen werden, ist unwahrscheinlich. Die Hoffnung ist zunächst nur, den kommenden Tag zu erleben.

Ein bedrückendes Werk. Bedrückend auch, weil Auster nicht Naturgewalten, sondern die Natur des Menschen als Quelle der Vernichtung identifiziert. Der Absturz der Evolution.  Note : 3 – (ur)<<