Chronist der Winde – Henning Mankell

Paul Zsolnay Verlag – 268 Seiten   – 1995 / 2000

>>Der Chronist der Winde ist José, ein Bäckergehilfe in einem von verblendeten Revolutionären und ehemaligen Kolonialmächten tyrannisierten westafrikanischen Küstenland. Er ist Echo eines grausamen Windes, der in Gestalt menschlicher Unbarmherzigkeit das Dasein austrocknet. Er ist Chronist des kurzen Lebens des zehnjährigen Straßenjungen Nelio, dessen Schicksal die Widersprüchlichkeit einer ganzen Epoche zu spiegeln scheint.

José findet eines Nachts Nelio angeschossen in dem privaten Theater seiner Chefin, die eigentlich Bäckerin ist. Hartnäckig versucht sie in ihrem kleinen Theater eine naive Utopie im Gegenlicht der vernichtenden Wirklichkeit zu inszenieren. Heimlich versorgt José den schwerstverletzten Nelio und erfährt über die nächsten neun Tage bis zu seinem Tode dessen Lebensgeschichte. Diese neun Tage wirken wie ein religiöser Gegenentwurf, der mit seinem Leid bezeichnenderweise länger dauert als die sieben Tage der Leben schaffenden Schöpfungsgeschichte.

Im Bürgerkrieg wird Nelio von Banditen, die kurz zuvor seine neugeborene Schwester im Hirsemörser zermahlten, entführt. Erst durch den verzweifelten Mord an seinem Aufseher gelingt ihm die Flucht. Alleingestellt findet er schließlich Anschluss an einen mürrischen Liliputaner. Sie irrlichtern durch die Wildnis so wie der Kleinwüchsige schon seit zwei Jahrzehnten orientierungslos umherschweift. Es wirkt wie ein Symbol hoffnungsloser Sinnsuche. Auch wenn die Irrwanderung Nelio in die Heimatlosigkeit führt, schafft sie ausgleichenden Abstand zu den grausamen Erinnerungen. Die märchenhafte Odyssee führt schließlich in die Metropole. Der Großstadt-Moloch verschreckt mit brutalen Gesetzmäßigkeiten und dennoch wird er Haltepunkt für Nelio. Die Seele braucht Heimat.

Schon die erste Begegnung in diesem toxischen Biotop zwingt Nelio erneut in die Rolle des Ausgebeuteten und Entehrten. Ein älterer Taschendieb zwingt ihn zur Gefolgschaft. Er muss Passanten anbetteln, damit der Dieb die abgelenkte Laufkundschaft bestehlen kann. Erst als Nelio ein hohles Reiterstandbild entdeckt, in dem er sich dauerhaft verbergen kann, gelingt die Loslösung.

Nelio umgibt eine ungewöhnliche Aura, die ihm Zugang zu einer Gruppe von Straßenkindern ermöglicht. Es wird seine soziale Einbettung. Mit seiner frühreifen Weisheit avanciert Nelio schließlich zum sinnstiftenden Anführer. Bestimmt, fair, akzeptiert. In einem rechtsarmen Raum lebend vermittelt Nelio den durchweg älteren Kindern intuitiv Grundzüge eines solidarischen Wertesystems. Gleichzeitig wird in einer abenteuerlichen Weise das (unverstandene) Wertesystem der Gesellschaft persifliert. Als mystisches Symbol der machtbesessenen Geschäftswelt vermuten sie tote Eidechsen, nachdem sie eine solche in einem gestohlenen Aktenkoffer entdecken. Ihre kindliche Antwort auf die vermeintliche Logik des Systems ist, selbst tote Eidechsen an Kaufhaus-Kleiderhaken und Palastnischen zu schmuggeln. Die selbstlosen Einbrüche fühlen sich an wie Beweise ihrer Macht. Diese vielfarbigen Anekdoten sind es, die den tiefgrauen Lebensalltag nicht nur für die jugendlichen Opfer, sondern auch für den Leser erträglicher machen.

Unruhe überkommt das Rudel als sich ihnen das von der Nachbarschaft ausgestoßene Albino-Mädchen Deolinda anschließt. Als ihre schwarze Mutter das weiße Kind zur Welt brachte, verstieß ihr Vater seine Frau, weil er überzeugt war, dass sie mit einem Toten geschlafen hatte. Der Widerstand in der Gruppe ist groß bis sie schließlich akzeptiert wird. Als Nelio erfährt, dass sie dennoch vergewaltigt wurde, gerät er außer sich. Der Täter ist das Gruppenmitglied Nascimento. Nascimento ist selbst Opfer einer quälenden Vergangenheit, weshalb Nelio schließlich für Nachsicht plädiert. Die geflohene Deolinda wird jedoch nie wieder auftauchen.

Als der kleine Bomba durch wiederholte Lebensmittelvergiftungen an Leberkrebs zu sterben droht, inszenieren die Jungen in einer rührenden Anstrengung heimlich im Theater der Bäckerin eine Wunschtraum-Vorstellung, die Bomba auf eine Insel des Glücks entführt bis er wenig später dem Tumor erliegt. An diesem Abend werden sie von einem Wachdienst überrascht. Nelio wird dabei lebensgefährlich angeschossen.

Auf dem Dach des Theaters, wo José Nelio bis zum Tode pflegt, liegen Traumwelt des Theaters und Nelios existenzbedrohende Wirklichkeit sinnbildlich übereinander. Was für Nelio nur bleibt, ist die Selbstaufgabe. Er lehnt die medizinische Behandlung seiner Wunden ab. Das Leben würde nicht besser werden. Auf seinen Wunsch hin wird José seine körperlichen Spuren löschen und ihn im Bäckerofen verbrennen. Parallelen zum Tod eines Heilandes und dem Entrücken des Leichnams. Was er dem Rudel zurücklässt, ist die Kraft. Wo Freunde sind, ist kein Platz für Angst.

Ein nachdenklicher Roman, der durch unaufdringliche märchenhafte Passagen in einem für die Perzeption hilfreichen Gleichgewicht gehalten wird. Ein Roman des schwedischen Krimischriftstellers Mankell, der selbst ein Theater in Mosambik unterhält. Ein Theater, das sehen macht, das aber auch erlaubt die Augen zu verschließen. Und leider ist das Sein vor den Türen des Theaters immer noch so grausam, dass Mankell am Ende des Buches José die Worte in den Mund legt: „Ich weiß, dass ich Nelios Geschichte weitererzählen muss, selbst wenn es nur die Winde vom Meer sind, die hören, was ich zu sagen habe. Ich muss weiter von dieser Erde erzählen, die immer tiefer in ihrer Ohnmacht versinkt, wo die Menschen gezwungen sind, für das Vergessen zu leben und nicht für die Erinnerung.“  Note: 1/2 (ur)<<

Die Rote – Alfred Andersch

Diogenes Taschenbücher 1974 (1960) – 235 Seiten

>> Nach dem nüchternen Realismus von Sansibar oder Der letzte Grund (1957) erscheint drei Jahre später das eher dem Unterhaltungsroman nahestehende Werk Die Rote. Das zentrale Anliegen des Autors „Flucht“ wird jedoch auch hier in den Protagonisten ein weiteres Mal variiert. Die Hauptperson Franziska flüchtet zwar nicht vor der historischen Vergangenheit, im weiteren Sinne aber vor den Zuständen, die daraus erwachsen sind. Ihre Zufallsbegegnungen auf dieser Flucht sind wiederum Männer, in denen der erst 15 Jahre zurückliegende Weltkrieg tiefe Spuren hinterlassen hat. Das Ende der Geschichte bietet keine Lösung in diesem Geflecht an, wohl aber eine Ahnung, die auch eine Hoffnung sein kann.

Handlung.

            Franziska (30) ist die ohne politischen Hintergrund teil-emanzipierte, streitbare Dolmetscherin, die sich in vier Sprachen verständigt. Ein Kind des aufstrebenden Nachkriegsdeutschlands mit vagen Sehnsüchten nach Wohlstand, anspruchsvollem Freiraum und partnerschaftlicher Geborgenheit. Genau diese verweigert ihr Herbert, den sie sich vor drei Jahren als Gatten nahm. Den Entschluss fasste sie erst, nachdem Herberts Vorgesetzter ihr die Ehe verweigerte. Aus tiefer Enttäuschung flüchtet sie überstürzt in das nekrophile November-Venedig.

            Der Ire Patrick O`Malley opfert Lebenszeit, um eine Rache abzuarbeiten, die er als Sühne einer erzwungenen Schuld verklärt. Als britischer Spion wurde er im Kriegsdeutschland gefasst und nur deshalb von der Todesstrafe verschont, weil er einen britischen Kollaborateur verriet, der dies mit dem Leben bezahlte. Das daraus erwachsene Schuldgefühl entwurzelte O`Malley. Da er den Nazi-Schergen Kramer für sein Umschwenken bei den Verhören verantwortlich macht, sucht er sich mit einem geplanten Mord an Kramer zu befreien. Tatsächlich macht er ihn in Venedig ausfindig. Als er ihm jedoch begegnet, verharrt er geradezu paralysiert, weil seine homosexuelle Sanftheit die herrische Härte von Kramer nicht zu durchdringen vermag. Einander durchschauend umkreisen sich beide wie ein psychologisches Terror-Mobilé. O`Malley kommt dabei jedoch nur die entwürdigende Rolle eines bedeutungslosen Insekts zu.

Zufällig begegnet O`Malley Franziska. Er erkennt schnell, dass sie eine Person ist, deren Gerechtigkeitssinn und innere Stärke Kramer fürchten müsste, wenn Franziska sich gegen ihn wenden sollte. Franziska bleibt verborgen, dass O`Malley sie instrumentalisieren will, als er sie in Einzelheiten seiner Leidensgeschichte einweiht. Bei einem erniedrigenden Treffen mit Kramer stellt sich prompt das von O`Malley antizipierte Beziehungsgeflecht ein: Franziska greift emotionsgeladen Kramer an, Kramer beginnt die öffentliche Entlarvung durch Franziska zu fürchten. Er verfolgt sie. Diesem von O`Malley kalkulierten Mechanismus folgt Kramer bis er Franziska auf O`Malleys Boot stellen kann. O`Malley gelingt es in dieser Situation, Kramer zu einem mit Strychnin vergifteten Bier einzuladen. Kramer bezahlt dies mit dem Leben.

Franziska wendet sich ab. O`Malley muss schmerzlich erkennen, dass der Rachemord seine Ursprungsschuld nicht tilgt, sondern weiter steigert.

In eingestreuten Parallelepisoden erfährt der Leser von einem Fabio Crepaz. Ehemals kommunistischer Partisan, inzwischen zutiefst enttäuscht von den verlorenen politischen Idealen, hat er jede ernste Bindungsfähigkeit verloren. Stattdessen ist er in die Rolle eines mittelmäßigen Orchestermusikers geflüchtet. Musik als Seelenbalsam. Am Ende des Romans kreuzen sich die Wege von Fabio und Franziska. Beim Leser wird die Vermutung geschürt, dass beide einander über die psychischen Abgründe hinweghelfen könnten. Das Ende bleibt jedoch offen.

            Der Kern des Romans könnte in der Methapher der Riesenratte liegen, die mit ihrem Nest den Kaminabzug eines venezianischen Klosters verstopft. Als sie aufgescheucht wird, kommt es mit dem Klosterkater zu einem für beide tödlichen Kampf. Entsprechend sind auch die Lebenswege und Seelen der Hauptfiguren blockiert. Die Aufarbeitung kann äußerst schmerzhaft sein, vielleicht sogar vernichtend. Der Gewinn würde ein freier Durchzug in den Luftschächten des Daseins bedeuten.

Ein gutes Werk, das individuelle und politische Verstrickungen in einen spannenden, tiefschürfenden Zusammenhang bringt.  Note: 2 (ur)<<

Saturday- Ian McEwan

saturdayDiogenes 2005 , 387 Seiten.

<<Saturday ist die Geschichte eines Samstags im Leben des Londoner Neurochirurgen Henry Perowne, über dessen geordnetem Leben eine Kuppel von Bedrohungen liegt. Diese Bedrohungen provozieren Sinnfragen, Fragen nach einem ordnenden Prinzip, das vielleicht über allem steht und die plötzlichen Einbrüche im Dasein lenkt. Oder aber das Fehlen einer lenkenden Hand und stattdessen die Einsicht, alles Sein und Bewegen nichts weiter ist als die Summe unendlich vieler, logisch verknüpfter Prozesse. Alles physikalisch determiniert und kein Gott weit und breit.

Mit der Person Perowne steht nicht zufällig ein Neurochirurg im Mittelpunkt des Buches, also jener Humaningenieur, der nicht nur tiefen Einblick in das Bewusstsein bildende Hirn hat, sondern dieses auch operativ manipuliert um schwerste Erkrankungen zu lindern. Ohne dass McEwan sie formuliert, schwebt im Hintergrund die Frage, ob diese Form von Macht nicht Anmaßung und Missbrauch bedingt. Das Göttliche Regulativ durch die menschliche Ratio verdrängen – ist das nicht die Preisgabe des Humanen? Mit der Gestalt des Perowne beantwortet McEwan die Frage mit „nein“. Der Mensch und im Besonderen der rationale Mensch, trägt die Kraft des Humanen in sich.

Zur Profilierung des Hauptprotagonisten stellt McEwan Perowne die Person Baxter antagonistisch gegenüber. Der eine ein erfolgreicher Arzt, renommierter Retter in lebensbedrohlichen Notständen, glücklicher Ehemann und sorgender Familienvater in wohlhabenden Verhältnissen. Der andere ein dem Tod geweihter Kleinkrimineller mit Morbus Chorea Huntington als neurodegenerativer Erkrankung, psychisch bereits hochgradig destabilisiert, ohne familiären Halt und ohne Ich-Stärke. Beim Ausparken geraten beide aneinander als Perowne Baxters Außenspiegel abfährt. Sofort entwickelt sich eine bedrohliche Konfrontation, der Perowne nur entrinnt, weil er an Baxters fehlenden Augensakkaden dessen Erkrankungen erkennt und ihn darauf ansprechend völlig verunsichert. Unglücklich jedoch, dass sich Baxter dadurch vor seinen beiden Schlägerkumpanen dermaßen erniedrigt fühlt, dass sie abends in Perwones Wohnung eindringen, um sich die Ehrverletzung teuer bezahlen zu lassen. Baxter zwingt Perownes erwachsene Tochter sich zu entblößen. Doch seine Vergewaltigungsabsichten ersticken beim Anblick ihres schwangeren Bauches und eines sentimentalen Gedichtes, welches er sie zwingt vorzutragen. Die Situation wendet sich, als Baxter in einem Handgemenge im Laufe eines Treppensturzes schwer verletzt wird. Weil er mit seiner Hirnverletzung in die Neurochirurgie eingeliefert wird, ist es Perowne, der ihm in einer Notoperation das Leben rettet.

Mit seiner Absicht, Baxter nach seiner Genesung medizinisch als schuldunfähig einzustufen, zeigt er wahre Gnade dem gewalttätigen Kriminellen gegenüber. Gerade weil Perowne die kausalen biologischen Zusammenhänge kennt und nur diese als Leben gestaltende Kraft anerkennt, kann er einen humanen Realismus leben. Dafür bemüht er keine religiösen Normen. „Für ihn ist es keine Glaubensfrage, sondern eine alltägliche Tatsache, dass das Bewusstsein von bloßer Materie, vom Gehirn geschaffen ist. Eine ehrfurchtgebietende Tatsache, die auch Neugier verdient. Das Wirkliche, nicht das Magische, sollte die Herausforderung sein“ (S. 95).

Das Werk benutzt die Erscheinung vermeintlicher Zufälle als Aufhänger für Sinnfragen. Mit welcher Wahrscheinlichkeit treten Zufälligkeiten ein, wie dass ein bestimmter in den Tiefen der Weltmeere schwimmender Fisch an einem ganz bestimmten Tag in eine bestimmte Seite des Daily Mirror eingewickelt wird? Obwohl die Wahrscheinlichkeit gleich Null ist, trägt Perowne diesen Fisch genau so nach Hause, um das Abendessen zu bereiten. Mit dem Blick auf die kleinsten Details ergibt sich für jeden beliebigen Ablauf die größte Unwahrscheinlichkeit und trotzdem passieren all diese Dinge ununterbrochen. Bei so viel Normalität des Unmöglichen stellt sich für den ehrfurchtsvoll gestaltenden Materialisten Perowne das Leben als nichts anderes als die Summe aller Zufälle dar und gleichzeitig als die Freiheit von Gott. Perowne macht dabei die Erfahrung, dass sich die kleinen Abweichungen im alltäglichen Lebensstrom augenblicklich zu bedrohlichen Strudeln entwickeln können. Jeder – auch er – könnte der nächste eingepackte Fisch sein.

Perowne zahlt jedoch einen Preis für seine weitgehende, wenn auch menschlich-warme Abgeklärtheit in Form eines Mangels an irrationaler Tiefe. So kann er im Gegensatz zu Baxter die lyrischen Schwingungen seiner Tochter nicht wirklich wahrnehmen. Ebenso erahnt er nur, wie ausgefüllt sein Sohn durch seine Jazzmusik ist. Es bleiben Ängste. Letztlich ist auch das Altern und vor allem sein eigenes eine unbewältigte Bedrohung für ihn. Entsprechend stößt ihn mit Schuldgefühlen die Senilität seiner im Altersheim und ihrem immer enger werdenden geistigen Käfig schwankende Mutter ab. Nicht überraschend wirft das rationale Licht auch Schatten in das Leben des Perowne.

In fünf Kapiteln bettet der Autor die Zeiten eines Samstags in Bilder und Begegnungen ein, die jedoch genau so zufällig sind wie das Sein an sich: das brennende Flugzeug in der endenden Nacht, die größte Antikriegsdemonstration gegen den britischen Irakeinsatz am Morgen, die senile Welt des Vergänglichen im Altenheim am Mittag, die psychische Verstrickung eines umkämpften Squash-Spieles am Nachmittag und das familiäre Festessen am Abend, das in einem gewalttätigen Überfall endet. 

Saturday ist ein Roman mit großer Dichte, der mit sprachlicher Akrobatik überrascht.
Ein gutes Buch. Note: 2+ (ur)>>

Nachtzug nach Lissabon – Pascal Mercier

Hauser Verlag 2004 – 495 Seiten

>>            Es ist der Roman einer Erkenntnisreise. Die Daseinsfrage Wer bin ich – hätte mein Leben ein anderes sein können? kleidet der Autor prosaisch in das Format einer Fuge – eines sich wiederholenden Motivs, dessen musikalische Glieder gegeneinander versetzt sind. Der Protagonist sucht sich heute selbst, indem er sich auf die Suche nach einem anderen von gestern macht. Die beiden Schicksale sind zwar grundlegend verschieden; die gemeinsamen Motive aber die gleichen: Ethik, Aufrichtigkeit, Einsatz, Zielstrebigkeit, Tiefgründigkeit, Selbstzweifel und geradezu versessene Huldigung der Sprache. Die Erwartung des Ersten ist es, durch das Durchdringen des Zweiten zu sich selbst zu finden. Der Antrieb dazu scheint nicht mehr als ein zufälliger Impuls zu sein. Aber plötzlich wird das Wollen überwältigend und sprengt alle Konventionen. Der Protagonist ist Gymnasiallehrer, tritt eines Tages wortlos aus dem Klassenzimmer und kehrt nicht zurück. Der unverstandene Auslöser war ein Schock, die Wegbeschreibung ein Zufall, die Suche hochkonzentriert, die Läuterung im Ungefähren. Selbst am Ende können wir kaum wissen, ob der Zug angekommen ist in jenem Leben.

Im beschaulichen Bern gerät der vergeistigte Lateinlehrer Gregorius durch den von ihm vereitelten Sprung einer Portugiesin von einer Brücke aus dem Jahrzehnte langen Gefüge seines kleinen, geordneten Lebens. Es hätte das Ende ihres Lebens sein können. Vielleicht drängt sich ihm die Frage auf, ob er nicht auch schon lange am Ende seines Seins angelangt ist. Als er am gleichen Tag das Buch „Der Goldschmied der Worte“ entdeckt, veranlasst ihn ein unbestimmter Drang die Spurensuche nach dem Autor des Buches aufzunehmen – hatte dieser sich doch als Archäologe der Seele gesehen. Der Name des portugiesischen Autors: Amadeu Prado aus Lissabon.

Ohne Nachricht zu hinterlassen, bucht er spontan den Nachtzug nach Lissabon. Es wird eine Reise in die Dunkelheit mit der vagen Erwartung, dass das Licht des folgenden Tages auch seine Lebensschatten auflöst. Die überstürzte Reise ist ein Kontrapunkt in seinem beengten Leben. Er: ängstlich, hilfesuchend, im Ungewissen, welches Ziel der Aufbruch hat, aber dennoch eine große Tragweite vermutend. Kaum des Portugiesischen mächtig, kämpft er sich durch die autobiographischen Aufzeichnungen von Prado und meint, Parallelen zu sich selbst zu erkennen. Vielsagend geht seine alte Brille zu Bruch. Mit der neuen, eleganteren, der er sich widerstrebend anvertraut, erscheint die Welt transparenter.

In Lissabon schlüpft er mit einem neuen Anzug in eine neue Haut und erlangt behutsam eine Leichtigkeit, die ihm den Mut gibt, sich auch anderen Menschen gegenüber zu öffnen. Den Aufzeichnungen des Autors folgend beginnt er nach und nach Zeitzeugen von Prada ausfindig zu machen bis aus den Mosaikstücken ihrer Erzählungen ein umfassendes Bild entsteht. Das dargestellte Leben von Prado scheint Charakterzüge von Gregorius widerzuspiegeln.

Prado entpuppte sich früh als unglaublich intelligenter Knabe, dem – wie Gregorius – Sprache ein Heiligtum war. Der strenge Vater und höchster Staatsrichter fürchtete früh, vom Sohn ob seiner Intelligenz bloßgestellt zu werden. Fortan rang der kleine Prado schmerzhaft mit seiner unerfüllten Vaterliebe. Diese Erfahrungen verdichtete Prado zu der Annahme, dass Eltern stets qualvolle Lasten auf ihre Kinder übertragen. In Folge entschied er sich gegen eigene Kinder und ließ sich sterilisieren. Aufrichtigkeit war ihm unverzichtbar. Umso quälender waren die Selbstvorwürfe, als er seine Zeugungsunfähigkeit seiner früh verstorbenen Frau Fatima verheimlichte, die allzugerne auf eine Familie gebaut hätte.

Während der Salazar-Diktatur war Prada als Arzt von seinen Patienten sehr geschätzt worden. Nachdem er jedoch aus ärztlichem Pflichtgefühl auch einem Polizeischlächter das Leben gerettet hatte, wurde Prada allgemein geächtet. Im Sinne einer Wiedergutmachung schloss er sich im Untergrund dem Widerstand an, den sein alter Freund O`Kelly mit seiner Lebensgefährtin Estefânia leitete. Als O`Kelly aus politischen Motiven seine Freundin ermorden wollte, rettete Prado auch sie. Auf der gemeinsamen Flucht ins spanische Finisterre versuchte Prado den Lebensanschluss, war er doch von Estefânia geradezu besessen. Doch sie verweigerte sich ihm. Prado musste erkennen, dass es ihm wie O`Kelly erging. Dieser hatte extra einen Flügel gekauft, um Estefânias Lieblingslied einzuüben bis ihm klar wurde, dass er dieses Lied in seinem verbleibenden Leben nicht mehr würde lernen können. Die Lebensenttäuschung dieser Reise zermürbte Prada bis auch er schließlich einem Hirnaneurysma erlag.

Gregorius offenbart sich im Laufe der vielen Gespräche ein Beziehungsgeflecht voller Widersprüche, Forderungen, Anfeindungen, erfüllter und unerfüllter Liebe, Anerkennung und Ablehnung. Der Sohn möchte den Vater lieben, der ihn aus Angst jedoch ausgrenzt. Die Lehrer sind geblendet von der frühreifen Intelligenz des Schülers und fürchten ihn zugleich. Der Ehemann verheimlicht den schicksalsträchtigen Sterilisationseingriff seiner Frau. Seine Schwester liebt den Bruder abgöttisch und drängt sofort in sein Leben, als dessen Gattin stirbt. Der Arzt setzt die ärztliche Ethik über die politische Verantwortung und verliert damit die Wertschätzung vieler. Der Freund schenkt dem anderen Freund eine Apotheke, entführt ihm aber später die Freundin. Die Freundin will von ihm nicht geliebt werden und untergräbt sein Lebensrettungsmotiv. Der Freund stellt die politischen Motive über die humanitären und will seine Freundin eliminieren, weil ihr lückenloses Gedächtnis eine Gefahr für den Widerstandskampf darstellen könnte, sollte sie unter Folter der Diktatorhäscher Geheimnisse verraten.

Beim Anblick all dieser Details ist Gregorius entflammt, fasziniert, zweifelt, flüchtet vorrübergehend zurück in die Schweiz, recherchiert weiter,  bis er an das Ende von Prados Buch gelangt. Gregorius kehrt schließlich von Lissabon – seinem Finisterre – an den eigenen Ursprungsort zurück. Doch hat der Erkenntnisprozess ihn befreit? Das Leben bleibt ein Torso. Auch für ihn. Zu guter Letzt ist auch er wie Prado tödlich am Organ der Erkenntnis erkrankt und endet mit einem Hirntumor.

Ein feinfühlender, wortgewaltiger Roman eines Autors, der wegen frühen Selbstzweifeln ein Pseudonym wählte und im wahren Hier und Jetzt Peter Bieri heißt. Note: 2/3 ( ur)<<

Russendisko – Wladimir Kaminer

Goldmann Verlag 2000 – 192 Seiten

>> Kaminer erzählt als ein in Berlin lebender Russe in 50 kurzen Kapiteln teils skurrile, teils nachdenkliche und in großen Teilen triviale Episoden aus dem Habitat der Spezies Russe. Russen, die sich als Exilanten im verführerisch kapitalistischen Milieu behaupten. Fressen und gefressen werden. Da gibt es z.B. seine robuste Frau Olga, die von Vulkanausbrüchen und Tschetschenen-Überfällen gehärtet wurde. Bei einem Berliner Stromausfall steigt sie unerschrocken in den Keller, um der Sicherung auf die Sprünge zu helfen. Die im Dunkel liegende, leblose Gestalt hält sie für den vom Stromschlag niedergestreckten Elektriker. Mit isolierenden Handschuhen trägt sie ihn ans Tageslicht um festzustellen, dass es sich um einen volltrunkenen Stadtstreicher handelt.
Da ist das metaphorisierende Kunstwerk eines russischen Bildhauers. Die riesige aus Beton gegossene Muschel mit angedeutetem Loch trägt den Titel: „Das Leid der Materie“. Auf der verzweifelten Suche nach einer subventionierten Bestimmung handelt sich der Künstler fortlaufend Absagen ein. Als Berliner Holocaust Mahnmal zu klein. Als Prager Gedenkstein für von Russen vergewaltigte Frauen zu teuer. Schließlich wird es kurzzeitig zum Vaginalsymbol auf einer Hamburger Erotik Messe. Die Kunstwerk-Odyssee findet erst auf einem Kinderspielplatz ein glückliches Ende.

Einige dieser Anekdoten sind originell in der Konstruktion, selten im Sprachduktus. Viele Geschichten bauen auf einen bemühten Witz, manche sind peinlich. Die Summe der Kapitel malt durchaus das Bild, welches klischeehaft dem deutschen Russenbild entspricht. Gleichzeitig nährt die Sammlung den Vorwurf an das Gastgeberland Deutschland, in Vorurteilen verhaftet zu sein. So sieht man den Russen als solchen bevorzugt in langen Küchennächten in Wodkaströmen davonschwimmen, mit realitätsfremden Visionen durchs Leben stolpern oder als halbkriminellen Ganoven vor allem den Eigennutz vermehren.

Selten droht der erhobene Zeigefinger. Meist steckt hinter den Geschichten einverständnisvolles Nachsehen des russischen Autors über seine Landsleute. Dem Gastgeber Deutschland wird Kritik zugemutet. Verständnis für Deutsche steht nicht im Mittelpunkt. Eher das russische Unverständnis den deutschen Behörden gegenüber, warum arbeitsscheuen Russen überhaupt Sozialhilfe gewährt wird. Selbst schuld.

Summa summarum: eine sehr leichte, mitunter seichte Lektüre für Minuten. Am besten auf dem Klo in Dosen entsprechend der Verdauungslänge. Spülen nicht vergessen.

Note : Wegen der Leichtigkeit und Kürze keine 4–  sondern 3– (ur)<<

Der Verbrecher aus verlorener Ehre – Friedrich Schiller

Bibliothek SG 1986 / 1786 – 29 Seiten

>>In der Erzählung verdichtet Schiller einen historischen Kriminalfall zu einer Sozial-, Justiz- und Gesellschaftskritik. Auf den authentischen Fall eines Mörders aufbauend, erhebt er die Prinzipienforderung, dass die Bewertung von Taten stets auch die Ursachen des Verhaltens beleuchten muss.

Der Protagonist C. Wolf ist der hässliche Spross einer alleinstehenden Mutter, in deren schlecht laufender Gastwirtschaft er früh mitarbeiten muss. Von den Kameraden gehänselt, sucht er stattdessen die Nähe des eigennützigen Mädchens Hanna, die ihn prompt ausbeutet. Nur durch Geschenke lässt sie sich beeindrucken. In seiner Not wird der mittellose Junge, der später den Spitznamen Sonnenwirt erhalten wird, zum Wilddieb, um seinem Schwarm Wünsche erfüllen zu können. Als der Förstersohn und Nebenbuhler C. Wolf auf die Schliche kommt und ihn anzeigt, wird dieser zum ersten Mal verurteilt. Durch die endlose Schmach öffentlich verurteilt worden zu sein, beginnt eine verhängnisvolle Abwärtsspirale. Der Sonnenwirt räubert ein zweites, ein drittes Mal. Das Strafmaß steigt von Mal zu Mal und sämtliche Versuche, dass er einer geregelten Arbeit nachgehen möge, scheitern. Während einer langjährigen Festungshaft verroht er in der Gesellschaft von Mördern vollends. Wieder auf freiem Fuß, begegnet er seinem ehemaligen Denunzianten und streckt ihn nieder. Trotz der eskalierten Tat – oder gerade deshalb – bricht sich eine moralische Urgewalt in C. Wolfs Wesen Bahn. Er beraubt den Getöteten nicht, weil er Rache, nicht aber Reichtum will. Auf der Flucht begegnet er einem Banditenhaufen, der ihn aus Respekt vor seinen legendären Taten zum Anführer ernennt. C. Wolf scheint endlich gebettet zu sein in eine soziale Gemeinschaft. Doch veranlassen ihn schließlich Neid, Missgunst und die Furcht verraten zu werden, zu flüchten.

Als seine ungewöhnliche Erscheinung schließlich in der Öffentlichkeit auffällt, folgt eine zunächst unbegründete, literarisch fesselnde Darstellung der Inhaftierung. Seine wahre Identität bleibt zunächst unerkannt. Im Laufe dieser Zeit vollzieht sich ein dramatischer Wandel. Von der respektvollen Ansprache des Amtsrichters berührt, die ihm überraschend das Gefühl vermittelt, als Mensch wahrgenommen zu werden, gibt er sich als Sonnenwirt zu erkennen. Eine große Dankbarkeit für eine kleine Geste.

Dramaturgisch geschickt, bricht die Erzählung, die im Stil einer subjektiven, teils wertenden Dokumentation formuliert ist, an dieser Stelle ab. Aus dem Vorspann erfahren wir, dass dem Sonnenwirt das Geständnis letztlich das Leben kostete. Eine großartige Erzählung, die – abgesehen vom 200 Jahre alten Sprachduktus – ein Plädoyer unserer Gegenwart sein könnte. Sowohl die Aktualität, wie auch die entlarvende Kausalität gesellschaftlicher Zusammenhänge, sozialer Mitverantwortung und angedeutete Lösungsalternativen sind brandaktuell. Für das ausklingende 18. Jahrhundert vermutlich ein revolutionärer und für die damalige Zeit überfordernder Blickwinkel. Für heute jedoch ein Schiller, der viel eingängiger für Schüler und Erwachsene sein dürfte als andere stilfremde, kunstverlorene Dramen, deren inhaltliche Übertragung auf die Gegenwart allzu bemüht erscheinen. Note: 1 (ur)<<

Der Dekan – Lars Gustafson

K640_Der_DekanHauser Verlag 2003 – 189 Seiten.

>>Spencer war Nachwuchsprofessor in Austin. Zur Überraschung aller pflegte der leitende Dekan Chapman zu Spencer eine unverstandene Affinität und ernannte ihn zum Prodekan. Fortan war er die rechte Hand des Mächtigen, der seit dem Vietnam Krieg an den Rollstuhl gefesselt war. Die Geschichte wird als lose Blatt-Sammlung vorgestellt, gefunden im Auto des spurlos verschwundenen Spencer, dessen lückenhaften Notizen die letzten zwei Jahre überspannen bis er sich unvermittelt in die menschenleere Wüste Texas´ zurückzog um die „Fragen hinter mir zu lassen“. Was war passiert?

Spencer schien die Rolle des akademischen Kummerkastens im Umfeld des Dekans zugewiesen worden zu sein, die er geduldig annahm. Der Dekan überhäufte Spencer mit überzogenen, selten philosophischen, oft sarkastischen Monologen. Als Vietnam Veteran war der Dekan nicht nur körperlich vom Krieg gezeichnet. Auch seelisch ramponiert schwankte er zwischen nihilistischer Ablehnung, politischer Verurteilung und draufgängerischer Großspurigkeit. Zahllose Leichen pflasterten seine Flugrouten als Hubschrauber Kommandant. Für seine Querschnittslähmung machte er einen Verräter aus, der prompt liquidiert wurde.
Vielleicht war es diese Tat oder das vorausgegangene Massaker, welches den Reporter Smith auf den Plan rief. Smith setzte sich hartnäckig auf die Spur des Dekan, um nach all den Jahren die Wahrheit für eine Veröffentlichung zu recherchieren. Im Dekan wurden alte Kampfreflexe wach. Seinem Adlatus Spencer bot er einen verschwiegenen Tausch an: Leiche gegen Leiche – zwei Männer helfen einander mit Morden. Ohne dass der Text tatsächlich Klarheit schafft, scheint Spencer Smith später zu erschießen, während der Dekan für Spencer dessen Nebenbuhler Derek beseitigte. Derek war wohlhabender Cousin von Spencer und neuer Lebensgefährte von Spencers Freundin Mary Elisabeth. Derek tauchte am Ende von einer seiner Dienstreisen nie wieder auf ohne dass sein Leichnam je gefunden wurde.
Zahlreiche Handlungsstränge offenbaren sich dem Leser nur als vage Ahnung bis hin zur ultimativen Frage, ob Spencer am Ende nicht sogar den Dekan umbrachte, da diesem Spencers Geheimnis vertraut war –sofern es dieses Geheimnis überhaupt gab. Auch hier bleiben Tat, Opfer und Täter bewusst im literarischen Nebel verhüllt. Hat Spencer sich nicht wie der faustische Fussballtrainer dem Teufel verschrieben um jedes Spiel zu gewinnen – so wie es seine Freundin Mary Elisabeth in einem neuen Drama inszenieren wollte? Entledigte Spencer sich am Ende des Teufels in Person des Dekans im Versuch seine Seele zurück zu gewinnen und verlief sich damit aber am Ende auf der Flucht vor sich selbst: „eine Person Spencer Spencer hat es nie gegeben“ lesen wir in seinen Aufzeichnungen. Mit Spencers vermuteten Selbstmord dürfte der suggerierte Leichenberg auf fünf angewachsen sein: zwischenzeitlich ein erhängter Verwaltungschef, Smith, Derek, der Dekan und Spencer. Eine gewisse Raffinesse liegt in der verschlüsselten literarischen Wegführung, die letztlich offen lässt, ob es überhaupt Tote gab.

Ob die als Krimi anmutende Prosa inhaltlichen Tiefgang beinhaltet, darf vermutet werden etwa beim leichtfertigen Umgang des Dekans mit Leben und Leben nehmen. Dennoch bleibt der Roman ein bemühter Zellkasten teils unzusammenhängender Episoden und Gedankensprünge, denen der rote Faden zu oft abhanden kommt. Note: 3/4 (ur)<<

Am Hang- Markus Werner

K640_am_hangS. Fischer Verlag 2004, 190 Seiten.

 >>Eingebettet in einen langatmigen Dialog begegnen sich zwei Männer, die offensichtlich dieselbe Frau teilen. Allen drei gemeinsam scheint das Dasein am seelischen Hang: zunehmend in Gefahr abzugleiten, schon gestürzt oder sich in der sicheren Talsohle wähnend, um dann doch von der herabstürzenden Lawine unkontrollierter Gefühle erschlagen zu werden.

Thomas Clarin, 35 J., Beziehungen konsumierend, ist Scheidungsanwalt; vermutlich aus Passion, weil er die menschliche Natur für bindungsunfähig hält und der Paarbindung keine Chance gibt.

Felix Bendel alias Thomas Loos, 50 J., ist seelischer Witwer, wuchtig an Gestalt und rhetorischer Präsenz, vereinsamt, Musiker und Lehrer überholter Sprachen; im Normalleben sprachlos geworden.

Beide treffen zufällig in einem Schweizer Berghof aufeinander, kommen schleppend ins Gespräch und können trotz anhaltender Fremdheit nicht unterdrücken, ihre Privatsphäre nach außen zu kehren. Beide sind Zurückgelassene einer an diesem Ort verlorenen Liebe. Clarin lässt Valerie und die kurze Stoßliebe aufleben, welche hier vor einem Jahr ein lustloses Ende fand. Loos beklagt den Verlust seiner Ehefrau Bettina, die er vor einem Jahr durch einen tragischen Badeunfall verloren hatte. Die Liebe sei grenzenlos gewesen, beeinträchtigt lediglich von der körperlichen Empfindsamkeit seiner Frau, die vor allem durch den Blitzschlag-Tod einer Freundin aus dem Gleichgewicht geworfen worden sei. Als dann noch ein Hirntumor drohte, hätte sich eine Persönlichkeitsveränderung eingeschlichen, die ihrer gemeinsamen Beziehung schweren Schaden zugefügt hätte. Wertigkeiten hätten sich verschoben. So wäre am Tag der Diagnose nicht der Tod bedeutungsvoll gewesen sondern das verstimmte Klavier daheim. Sofort hätte sie den Klavierstimmer kommen lassen, der daraufhin geschmackloser Weise auf dem Anrufbeantworter den Wunsch verewigte, nicht nur ihre Füße küssen zu wollen. Das Zwiegespräch unter den Männern verläuft sprunghaft, geprägt von Loos ermüdenden Ausführungen, die – durchsetzt von sarkastischer Intelligenz – einen Weltenhass atmen. Clarin dagegen fehlt die letzte Ernsthaftigkeit. Der gut aussehende Junggeselle mit Neigung zum anspruchsvollen Stil, bleibt leichtlebig der Oberflächlichkeit verhaftet.

Am dritten Tag erscheint Loos nicht zur Verabredung. Es heißt, er sei kommentarlos abgereist. Als sich herausstellt, dass er unter falschem Namen auftrat, drängt sich die prinzipielle Frage nach dem Wahrheitsgehalt seiner Erzählungen auf. Clarins spätere, erotische Annäherung an Valeris Freundin Eva entschlüsselt Clarins Valerie als Loos´ Bettina – beide Männer liebten tatsächlich dieselbe Frau. Zunächst hatte nur Loos/Bendel die schmerzhafte Gleichzeitigkeit erkannt.

Bendel verirrt sich in ein Lügengebäude – vor allem mit sich selbst. Die verlorene Liebe zu seiner Frau war blind verklärt. Den Badeunfall gab es nie – gestorben war Bettina nur in Bendel. Beengt im Ehe-Dasein griff Bettina nach den Todesbegegnungen gierig nach dem Leben. „Ich will keinen Himmel, der am Fenster kleben bleibt“ – sie wollte kein Bild von einem Himmel, sondern den Himmel selbst. Ein erotisches Doppelleben war die Folge. Doch laut Eva war das Blau dieses Lebens nicht das des Himmels, sondern das des trüben Blues, das sich in einem enttäuschten, isolierten Dasein in der Fremde fortsetze. „Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe bereit zum Abschied sein und Neubeginne“ – ohne dass sich der Tag erhellt hätte.

Drei Menschen rutschend am Hang und auch der Leser hat keinen Boden unter den Füssen. 190 Seiten wenig bewegte Männergespräche. Wenig erbaulich und wenig belebend die Raum greifende indirekte Rede, die eine unerfreuliche Lesedistanz schafft. Note: 4+ (ur)<<

Nachtrag. Fast ein Jahrzehnt nach der Erstveröffentlichung erreicht die Verfilmung des Romans die deutschen Kinos. Auch wenn der Film die lückenhafte Komposition der Romanfiguren – vor allem von Valerie / Bettina – nicht korrigiert, so wagt das Drehbuch doch bereichernde Umdichtungen, die die ermüdende Langatmigkeit der Romandialoge auffängt und zudem mit einem bewegten und im Detail gänzlich veränderten Ende aufwartet. Bendel schießt Clarin mit jener Kugel nieder, die laut Filmdramaturgie Bendel für seinen Selbstmord bereit gehalten hatte. Die Ironie des Schicksals wird hier zu einem Kreisschluss bemüht, da Clarin in der Eingangsszene Bendel in der letzten Sekunde davon abhält, sich vor einen Nahverkehrszug zu werfen. Die Rettung des einen Leben, wird folglich zur Bedrohung des anderen. Damit vollzieht der Roman eine raffinierte Umkehr, denn Clarin stahl unwissentlich Bendels Lebensentwurf mit seiner Ehefrau, die in Verkehrung der Wertigkeiten zwar das physische Leben zurückgewinnt aber einen Beziehungstod stirbt.

Die Schwalben von Kabul – Yasmina Khadra

Aufbau Verlag – 158 Seiten

>>Im Mittelpunkt des Romans stehen zwei sehr unterschiedliche Paare, deren Schicksalswege sich an einem tragischen Punkt flüchtig kreuzen. Atiq ist würdelose Gefängniswärter, von zwei Jahrzehnten afghanischem Krieg verhärmt. Ebenso lange verheiratet mit Mussarat, die inzwischen wegen einer schweren Bluterkrankung dem Tode nahe ist. Die starken Schmerzen und das sich steigernde Leid widern Atiq an. Immer öfter flüchtet er sich in sein Gefängnis oder zu den wenigen Freunden. Einer diesen alten Haudegen drängt ihn, seine todkranke Frau fortzujagen. Ihr schmachvoller Anblick würde die Würde eines Ehemannes verletzen. Atiq zögert. Mussarat war es doch, die ihm zu Beginn ihrer Liebe in einem Kugelhagel das Leben rettete.

An einem anderen Ort Kabuls leben Mohsen und seine wunderschöne Gattin Zunaira. Beide sind Intellektuelle. Er wollte Diplomat, sie Anwältin werden. Doch die Zerstörungen des Krieges und die nachfolgende Taliban Herrschaft haben ihnen nicht nur Hab und Gut, sondern auch Freunde und jegliche berufliche Perspektive genommen. Das bis dahin noch gefühlvolle Miteinander der beiden nimmt in dem Moment schwersten Schaden, in dem Mohsen wie im Wahn und von einer Massenhysterie ergriffen an der Steinigung einer Frau teilnimmt. Zunaira kann ihr Entsetzen drüber nicht verwinden. Jetzt beteiligt sich sogar der letzte ihr verbliebende Mensch am grausamsten Akt der Unmenschlichkeit. Schon immer war ihr die Unterdrückung der Frau durch das religiös-fanatische Taliban Regime unerträglich. Eingekerkert unter dem Totalschleier Tschadri wird ihr wie allen anderen Frauen das Gesicht geraubt, die Ehre atomisiert. Lange Zeit bleiben die Eheleute entzweit.

Erst nach zähem Bemühen gelingt es Mohsen, seine Frau wenigsten zu einem gemeinsamen Spaziergang zu bewegen. Diese Schritte sind es jedoch, die sein Ende einleiten. Taliban zwingen Mohsen einer Hetzpredigt beizuwohnen, während Zumaira in der Gluthitze vor der Moschee stundenlang ausharren muss. Zuhause folgt unter den Eheleuten der Streit. Bei den Handgreiflichkeiten stürzt Mohsen so unglücklich, dass er zu Tode kommt. Zumaira wird in der Folge sofort zum Tode verurteilt.

Als Atiq ihr im Gefängnis begegnet, wird er augenblicklich von ihrer unbeschreiblichen Schönheit in Bann geschlagen. Überwältigt von ihrer Ausstrahlung, vergisst er sich und bietet an, sie freizulassen. Doch sie lehnt ab.

Im Gespräch mit seiner Frau bekennt Atiq sich zu seinen überraschenden Empfindungen. Von dem Umstand, dass ihr sonst so gefühlloser Ehemann doch noch Liebe und Ergriffenheit empfinden kann, ist Mussarat zutiefst berührt. In Anbetracht ihres nahenden Todes bietet sie an, an Stelle der Verurteilten aus dem Leben zu scheiden. Nur so könnte Atiq mit der Angebeteten ein neues, ihm zustehendes Leben beginnen.

In der Hoffnung auf ein gemeinsames Leben täuscht Atiq Zumaira einen angeblichen Freispruch vor. Als sie das Gefängnis verlässt, schlüpft Mussarat unter den Tschari. Unkenntlich gemacht durch den Schleier wird sie wenig später bei einem großen Volksspektakel laut Urteil erschossen. Durch einen unglücklichen Zufall wird die verhüllte Zumaira gezwungen, der Hinrichtung beizuwohnen. Als Atiq vergeblich versucht, in den Menschenmassen Zumaira zu finden, gerät er in völlige Verzweiflung und entblößt verschleierte Frauen. Die aufgebrachten Massen sind entsetzt und lynchen ihn prompt.

Ein aufwühlender Roman, der die schicksalhafte Verrohung der Seelen zeigt. Die Menschen Kabuls sind haltlos. Nekrotisch geworden von den Schrecken der vorangegangenen Besetzung durch die Sowjets, der erniedrigenden Rollenverteilung des Islam und dem grausamen Fanatismus der Taliban. Schon dem Verfall anheim gegeben, laben sie sich an den Qualen anderer. Ja, fühlen sich durch Glaubenssätze, die ihnen eingehämmert wurden, dazu berufen. Ausgenommen davon sind Die Schwalben von Kabul. Frauen, die das Reine bewahren, deren standhafte Ethik auch System-, Religions- oder Männergewalt letztlich nicht zu Fall bringen kann. Schwalben, die schon immer und jedes Jahr wieder kamen. Schwalben, die den Sommer ankündigen und damit die lichte Zukunft. Frauen sind die Hoffnung.

Der im Jahr 2000 nach Frankreich emigrierte Autor hatte zuvor aus Furcht vor Verfolgung unter dem Namen seiner Frau (Yasmina Khadra) Bücher publiziert. Aus Respekt vor den Leistungen seiner Frau, blieb er auch im Exil bei dem Autorenpseudonym, drängt aber darauf, dass sein wahrer Name ebenso erwähnt wird. Den Europäern wirft er willkürliche und unangemessene Bewertung fremder Kulturen und ihrer Exzesse vor. Mit dem vorliegenden Roman hofft er die westliche Erkenntnisfähigkeit zu steigern. Entsprechend sei dies Werk vor allem für ein französisches Publikum geschrieben. Umso überraschender scheint jedoch die befremdliche Inszenierung und Tongebung des Romans. Neben wenigen sprachlichen Höhepunkten, sind viele Dialoge auffallend gestelzt und peinlich unnatürlich. Manche Passagen wirken befremdlich kitschig. Kulturdissonanzen. Note: 3/4 (ur)<<

Und Nietzsche weinte – Irvin D. Yalom

weintePiper 2001, 447 Seiten.

>>Eine literarische Fiktion mit vielen authentischen Details aus dem Leben von Nietzsche und der Geburtsstunde der Psychoanalyse. Lou Salome, eine äußerst selbstbewusste, hoch intelligente und von Nietzsche begehrte Studentin bittet den Wiener Arzt Dr. Breuer, Nietzsche zu behandeln. Dr. Breuer war bekannt geworden durch eine neuartige „Redetherapie“, die erste Psychoanalyse. Der suizidale Nietzsche dürfe jedoch weder von Lous Initiative noch von der Tatsache erfahren, dass Dr. Breuer Nietzsches Nöte bekannt seien. Als Nietzsche sich in Dr. Breuers Behandlung begibt, beginnt ein anspruchsvolles Ringen, bei dem Nietzsche nur somatische, nicht aber psychische Nöte eingesteht. Trotz einer raffinierten Gesprächsstrategie, die wie ein ereignisreiches Schachspiel tobt, bleibt Dr. Breuer erfolglos. Erst als er Nietzsche nach einer Tablettenüberdosis zur Behandlung quälender Migränezustände vor dem Tod rettet, öffnet sich Nietzsche soweit, dass Dr. Breuer einen letzten genial erscheinenden Schachzug anzubringen wagt: er täuscht verwechselte Rollen vor und bittet Nietzsche, ihn, Dr. Breuer, mit seiner philosophischen Weisheit aus einer tiefen Sinnkrise zu befreien. Nietzsche sagt zu.

Es folgen vier ereignisreiche Wochen mit täglichen Sitzungen, in denen das Rollenspiel überraschend zur Wirklichkeit wird. Nietzsche gefällt sich in seiner Rolle, kann er als gesellschaftlich Abseitsstehender endlich Macht ergreifen. Sofort übernimmt er die dominierende und immer überzeugendere Therapeutenrolle, während Dr. Breuer sich zunehmend hilflos erlebt. Schließlich wird Breuer gänzlich auf seine wuchernde Seelenqual zurückgeworfen. Tatsächlich hat sich Dr. Breuer von seiner Frau und Familie völlig entfremdet. Fast hemmungslos fühlt er sich von der jungen, schönen Patientin Berta Pappenheim (in der medizinischen Literatur mit dem Synonym „Anna O.“) angezogen. Aus Eifersucht hatte seine Frau ihn gezwungen, ihre Behandlung abzubrechen. Seitdem wird er von nicht enden wollenden Begierdeträumen zermartert.

Von Lou erfährt Dr. Breuer andererseits, dass Nietzsche in ähnlicher Weise Lou verfallen sei, ohne dass Lou die erklärte Liebe erwidern könne oder wolle. Lous Zurückweisung hatte Nietzsche mit zutiefst verletzenden Schmähbriefen beantwortet.

Im Laufe der immer einseitiger werdenden Begegnungen führt Nietzsche Dr.Breuer zu dem entscheidenden Erkenntniskern. Nicht Bertha selbst sei die Ursache seines Leids, sondern nur ein resultierendes Symptom. Entscheidend sei vielmehr die „Bedeutung“: Bertha stehe symbolisch für Jugend und Leben. Sie sei der Fluchtpunkt für Dr. Breuer in seiner Angst vor Alter, Verfall und Tod.

In einem literarisch einfachen, aber genialen Kunstgriff wird der Leser daraufhin in ein täuschend echtes Tranceerlebnis geführt, das Sigmund Freud, ein Schüler von Dr. Breuer, an Breuer vornimmt. Hierbei erlebt Breuer traumatisch, dass seine auf junge Frauen gerichteten Begierden  erfolglos bleiben müssen, da sie den Kern des Verlusttraumas nicht treffen und ihn entsprechend vereinsamt zurücklassen. Dr. Breuer erwacht geläutert aus der Hypnose.

Auf Nietzsches Flehen hin wendet Dr. Breuer – diesmal im Wachzustand – die Bewusstmachung des Verlusttraumas von Lou bei Nietzsche an, wobei er ihm offen von seiner Aussprache mit Lou berichtet. Die einsetzende Schmerzerfahrung lässt Nietzsches harten Kern schmelzen, auch wenn er aus seiner inneren Gefangenschaft letztlich nicht befreit werden kann.

Ein fesselnder Roman eines psychologischen Entwicklungsdramas, das seinesgleichen sucht. Sehr lesenswert. Note: 1  (ur)<<

 * Dr. Breuer und Nietzsche kannten sich nicht, wohl aber Nietzsche und Lou.
Anna O. war Patientin von Dr. Breuer.