Eva – Marianne Frederiksson

Fischer Taschenbuch Verlag 2001 (1980) – 189 Seiten

>>Eva ist die Geschichte einer Frau, die sich entschlossen auf den Weg der Erkenntnis macht. Wo sind die Ursprünge von Schuld und Schuldbewusstsein, von Empathie und Ignoranz? Wo der Grenzbereich zwischen Natur und Kultur? Getrieben wird der Aufbruch von Evas Verzweiflung über den Brudermord unter ihren Kindern. Es ist auch ein Weg der Selbstfindung. Ein Weg durch eine bedrohliche Wildnis zu den Kindheitsursprüngen. Es wird ein Aufbruch mit zermürbenden Fragen um Schuldzuweisungen zu überwinden. Es ist auch die Tortur einer Schmerz befreienden Emanzipation.

Eingebettet ist diese seelisch-rationale Entwicklungsreise in das biblische Szenario der Vertreibung aus dem Paradies und folgenden Episoden der christlichen Urgeschichte. Nur dass viele Elemente der Bibel von der Autorin ins Gegenteil verkehrt werden. Die Frau ist nicht Ursprung der Schuld, sondern Anfang der geistigen Befreiung und damit der Menschwerdung. Das Paradies nicht paradiesisch, sondern satanisch-brutal. Der Mann nicht der Quell der Erkenntnis. Er ist nicht der Gemeinschaft-Gestaltende, sondern ein von Zank, Zweifel und Zaudern blockierter Egomane.

Den Ausgangspunkt des Plots stellt der Brudermord von Kain an Abel dar, der Eva als Mutter beider Söhne verzweifeln lässt. In der Erwartung, in ihrer eigenen Kindheit Antworten und Trost zu finden, macht Eva sich allein auf die gefährliche Wanderung zurück in die Region, in der sie groß geworden war. Auf Bäumen versteckt, beobachtet sie ihre alte Horde, in der alle Mitglieder ohne Identitätsbewusstsein wie in einem Einheitskörper leben. Terrorisiert von einem brutalen Anführer. Vergewaltigungen, koitale Orgien und das Fehlen jeder Achtung voreinander charakterisieren die Horde als animalische Herde. Den Hordenmenschen fehlt die Sprache und das Zeitgefühl. Sie leben ausschließlich im Hier und Jetzt. Haben keine Erinnerung an das Gestern und kennen deshalb auch keine Schuld für Getanes. Sie fürchten sich nicht vor der Zukunft und sind deshalb voller naivem Übermutes. Tod und Verlust sind ihnen unverständlich. Tote sind augenblicklich vergessen. In dieser Beobachtung findet Eva die tröstende Erklärung für das Naive im Brudermord. Offensichtlich trug Kain noch Züge dieses Urverhaltens in sich. Damit könne ihm kein Vorsatz unterstellt werden und über ihn kein Schuldspruch gefällt werden. Kain trage die satanischen Züge des Hordenführers in sich. Der Mann – das Tier – die Gewalt.

Entgegen den gängigen Verhaltensmustern hatte Evas Mutter ihre Tochter nicht der Horde überlassen. Heimlich brachte die Mutter Eva die nur von ihr beherrschte Sprache und ein darin vermitteltes Wissen bei. Auch die junge Eva wurde vergewaltigt. Sie war zu jung, um das neugeborene Mädchen zu stillen. Die Horde entsorgte darauf das tote Baby im Moor. Die traumatische Erfahrung wurde zum Ausgangspunkt eines verzweifelten Befreiungsversuchs und führte die Mutter und Eva zu einem Eremiten. Es sollte der Ort werden, an dem Eva dem Schamanenlehrling Adam begegnete. Eva und Adam setzten die Flucht gemeinsam fort und begannen ein neues, anderes Leben.

Auf dem Weg zurück von diesem Erkenntnispfad, wird Eva von Hirten gepflegt. Das Hirtenvolk verfügt über einen ähnlich fortgeschrittenen Entwicklungsgrad wie sie. Entsprechend kann die Menschwerdung des letzten Kapitels der Schöpfung nicht einmalig gewesen sein. Paradiese / Horden / Vertreibungen müssen sich hundertfach wiederholt haben. In Fredrikssons Neuschöpfung erscheinen Verweise auf einen himmlischen Gott vermehrt als Anklagen. Gott beschränke sich darauf, die Gläubigen bevorzugt in Seelennöte zu treiben.

 Sprachlich bietet das Werk wenig. Evas Seelenreise rotiert zu häufig um die gleichen Wegmarken. Der Entwicklungsstrang fällt letztlich dürftig aus. Abgesehen vom ersten Drittel des Werkes mit den prinzipiellen Gedanken zur Menschwerdung durch das Erkennen von Zeit, ist diese Mitteilungsprosa eher der Trivialliteratur zuzuordnen. Der gesellschaftliche Impetus der nachinterpretierten Frauenemanzipation glättet diese Wogen nicht.  Note: 3/4 (ur)<<

Der Terror der Ökonomie – Viviane Forrester

Paul Zsolnay Verlag 1997 (Original 1996)  – 207 Seiten

>>Eine in 12 Kapitel zerfranste Liturgie über die Globalisierung und stille Revolution des Kapitalismus hin zu einer Arbeit vernichtenden Wirtschaftsform. Während früher die Ausbeutung durch Arbeit im Vordergrund stand, sei jetzt die Totalvernichtung der Arbeit das entscheidende Merkmal. Der Mensch sei durch seinen Arbeitswert bestimmt. Selbst diesen würde er jedoch mit der globalen Umstrukturierung verlieren. Das Kapital, die dynamischen Kräfte, ständen nicht mehr in Konkurrenz zueinander, sondern würden im Gleichschritt als Selbstzweck agieren, während der nicht mehr arbeitende Mensch an Ort und Stelle deportiert bliebe – paralysiert und zum bloßen Dahinvegetieren verdammt.

Zwischen die prinzipiellen Betrachtungen eingestreut finden sich Exkursionen über arbeitslose Vorstadtjugendliche, die zur gegenseitigen Selbstzerfleischung neigen. Und Lehrer, die als Täter der Nation, der jungen Generation jede Entwicklung und Selbstbestimmung verweigern. Schlimmster Katalysator sei die Lethargie und damit das Akzeptieren der vernichtenden Entwicklung.

 Obwohl das Buch als ökonomische Analyse daherkommt, verzichtet es fast vollständig auf Fallbeispiele. Statt Sachargumenten werden in ermüdender Eintönigkeit Gefühlseruptionen bemüht. Selbst Verweise in die Poesie, die Belletristik, die Theaterkunst bis hin zu Dantes Hölle und Shakespeares Teufel müssen als Argumente herhalten. Vielleicht das Bemühen der französischen Seniorin ihre Belesenheit zu dokumentieren. Insgesamt eine katastrophale Faselei, bei der es unklar bleibt, wo und wie sich die einzelnen Kapitel gegeneinander abgrenzen und worauf jeweils das Gewicht gelegt wird.

Das Buch – ein Ärgernis. Soziopolitphilosophisch ist im Nachhall die öffentliche Rezeption bemerkenswert. Dass das Machwerk in Frankreich, aber auch für einige deutsche Rezensenten als ein beachtenswerter Aufschrei empfunden wurde, könnte einiges über diese aussagen. Ein nostalgischer Rückfall in verklärte 68er Jahre? Revitalisierung juveniler Opposition? Haben auch Darmgefühle Anspruch auf frische Luft und dürfen raus? Pups. Note: 6 (ur)<<

Mit brennender Geduld – Antonio Skármeta

geduldPiper 2000, 150 Seiten.

>>In dem kleinen chilenischen Küstenort St. Antonio lebt in spätpubertärer Müdigkeit Mario, der, gedrängt von seinem hart schaffenden Vater, sich widerwillig durchringt, eine Arbeit anzunehmen. Das einzige Angebot ist die schlecht bezahlte Stelle eines Briefträgers. Der einzig zu versorgende Kunde ist der berühmte Nationaldichter Pablo Neruda im benachbarten Ort Isla Negra. Zwischen beiden entwickelt sich eine familiäre Vertrautheit, bei der der Poet seinem ihm ans Herz wachsenden Postboten Metaphern als Kleinod der Sprachkunst nahe bringt. Schon wenig später gelingt es Mario mit den feinfühligen Sprachbildern die bezaubernde Beatrix zu beeindrucken. Ihre Mutter, die konfliktstarke Witwe Gonzalez, versucht entschlossen Marios Liebeswerben um ihre 17-jährige Tochter abzuwehren. Entsprechend schreckt sie auch vor einem Drohbesuch bei Pablo Neruda nicht zurück, als sie vermutet, dass es im Besonderen die zitierten Metaphern von Neruda sind, die Beatrix´s Herz erwärmen.

Beim Wahlsieg Allendes und der folgenden Jubelfeier schäumt auch die Zuneigung zwischen den beiden jungen Leuten über. Ein von Beatrix angeregtes erotisches Eierspiel, bei dem schon bald die runden Formen von Ei und Körperwölbungen nicht mehr auseinander zu halten sind, endet in der heftig ersehnten Vereinigung. Natürlich bleibt der Kindersegen nicht aus, worauf die lebensnahe Mutter Gonzales kurz entschlossen die Seite wechselt und die Hochzeit vorbereitet.

Derweil nimmt der politische Gang seinen Lauf. Pablo Neruda wird Botschafter in Paris, kehrt bald krank zurück, Allende wird gestürzt und ermordet, Versorgungsengpässe entzweien die Bevölkerung und Putschisten übernehmen schließlich die Macht. Pablo Neruda stirbt. Mario wird als linker Dichter, der er mittlerweile in einer bescheidenen Art geworden ist, verhaftet.
Die Geschichte lebt von der überraschenden Beziehung zwei ungleicher Hauptpersonen: dem legendären Dichter und dem namenlosen Postboten. Zum Bindeglied wird die Magie der Metapher. Die Methapher vermittelt in einer bildhaften Übertragung die Verbindung zwischen Kopf und Herz und schafft damit so etwas wie emotionale Erkenntnis. Dem anrührenden Vater-Sohn-Paar (Neruda – Mario) steht das Mutter – Tochter Duo gegenüber. Wie Antipoden scheinen beide Gruppen im Widerstreit zu stehen (Mutter verteidigt Tochter gegen Männer) bis auch hier die Kraft der Metapher letztlich Glück stiftet. Das Sprachelement begleitet den Verlauf der Handlung und führt schließlich zum Titel des Buches als Pablo Neruda den Nobelpreis erhält und in seiner Dankesrede die metaphorische Wendung des französischen Dichters Rimbaud ins Rampenlicht rückt: „…werden wir bewaffnet mit brennender Geduld, die strahlenden Städte betreten“, was sowohl poetisch wie politisch interpretiert werden darf – vor allem in Zeiten der revolutionären Unruhe. Ein letztes Mal tritt die Metapher bei Nerudas Tod hervor, als der Sterbende den Übergang vom Leben zum Tod mit dem Fluss des Wassers beschreibt von dem er sich schließlich mitreißen lässt.

Das Buch folgt sehr gradlinig einem verhältnismäßig schlichten Handlungsstrang, der von wenigen Personen ohne jede Doppelbödigkeit getragen wird. Vor diesem Hintergrund ist ein ganz und gar überzeugendes poetisches Werk entstanden, das Lesen zum Genuss macht. Note: 1 (ur)<<

Sommerhaus, später – Judith Hermann

Collection S Fischer, 1998 |188 Seiten

>>            Neun Erzählungen deutscher Bohemians und Menschen, die einem entleerten Leben frönen oder sich verloren haben. Im Ich verfangen driften die Menschen dahin. Von Drogen oder Interessenlosigkeit angefüllt, kommt ihnen vereinzelt ihre Einsamkeit zu Bewusstsein. Die Versuche, menschliche Nähe zu finden, scheitern durchweg an Missverständnissen, Angst oder unglücklichen Umständen. Manche Erzählungen sind von Stillstand geprägt. Andere beschreiben eindrücklich die inneren Konflikte und machen die wiederkehrende Beziehungslosigkeit schmerzhaft spürbar. Auch wenn die Themen ernüchternd sind, so sind sie doch häufig eindrücklich in Szene gesetzt. Hierin liegt die Stärke des Werkes.

  1. Das Einleitungskapitel „Rote Korallen“ setzt zwei Frauengestalten (Großmutter und erwachsene Enkelin) in Beziehung zueinander. Während für die Großmutter eine Korallenkette das gelebte Symbol einer verflossenen Liebe und stillen Befreiung aus der russischen Einsamkeit ist, wird dieselbe Kette für die Enkelin zum Zeichen von Verlusten einschließlich des Liebhabers.
  2. Mit krasser Intensität wird in „Ende von Etwas“ die seelische Verstümmelung einer bettlägerigen Alkoholikerin beschrieben, deren Lebensabkehr sich in immer neuen Gemeinheiten bis hin zum telefonisch inszenierten Selbstmord steigert.
  3. Von feinfühliger Intensität ist die Geschichte „Hunter-Tompson-Musik“. Ein Senior lebt in bescheidenen Ritualen in einem New Yorker Seniorenhotel weitgehend isoliert. Die Begegnung mit einer jungen Frau verflüchtigt sich schmerzhaft. Illusionen verwehen. Sein Verlangen nach menschlicher Nähe erschöpft sich in dem ergreifenden Geschenk einer für ihn zum wichtigsten Ritual gewordenen Musik an die junge Frau.
  4. In „Sommerhaus, später“ versucht ein Taxifahrer über Jahre einen hilflosen Kontakt zu einer Christiane aufzubauen, was in dem ruinösen Erwerb eines verfallenden Sommerhauses für sie gipfelt. Ihre Anteilnahme, als das Haus Brandstiftung zum Opfer fällt, erschöpft sich in dem lapidaren Seufzer: „Später.“
  5. „Camera obscura“ stellt eine Marie als eine nach sexuellen Exzessen gierende Frau vor, die einen sie ekelnden Lilliputaner anbaggert. Er ist Videokünstler, der ihren ungleichen Sex online aufzeichnet.
  6. Die „Bali-Frau“ scheint erotischer Direktimport eines gierigen Regisseurs zu sein. In unmenschlichen Reflexen spult sie Blondinenwitz als Herzstück deutscher Kultur ab.
  7. „Sonja“ umgibt mystisch Hexenhaftes, als sie einen Mann verzaubert. Geradezu süchtig folgt er ihr in platonischer Liebe. Als sie trotz bleibender Distanz eine spätere Heirat mit ihm einfordert, flüchtet er in eine andere Ehe.
  8. „Diesseits der Oder“ und
  9. „Hurrikan“ sind Erzählungen des Stillstandes. Ein ins Berliner Umland zurückgezogener Schriftsteller und ein in die Karibik ausgewanderter Altlinker stehen hilflos vor ihren Besuchern, die ebenso wenig alte Verbundenheit neu beleben können.

Wenn dem Leser gelingt, sich durch den seelischen Grauschleier der Erzählungen fortzubewegen, wird er die teils gekonnte Einheit von Inhalt und Form entdecken. Der niederdrückende Tenor des Buches bleibt aber dominierend.  Note: 2– (ur) <<

Der Schwimmer – Zsuzsa Bank

K640_Der SchwimmerFischer Verlag 2002,  285 Seiten.

>>Nach dem wortlosen Abschied und der völlig überraschenden Flucht der Mutter bleiben Vater Kalman, Sohn Isti (6?) und Tochter Katalin (8?) auf dem ärmlichen Lande in Ungarn zurück. Die betont eigenbrötlerische Art des Vaters verdichtet sich darauf zu einer depressiven Unruhe und führt zu einer ein ganzes Jahrzehnt dauernden Odyssee zwischen zufällig gewählten Fixpunkten bei Verwandten und Freunden. Auf der Flucht vor sich selbst bleibt der Vater in nur selten unterbrochener Gemütsschwere in sich gefangen und damit unerreichbar für die Kinder. Beginnend mit dem unerklärlichen Verlust der Mutter werden Isti und Katalin auf einen Leidensweg des immer wiederkehrenden Abschiednehmens verpflichtet. Alle hinterlassenen Steine und Spuren sowie das Auswendiglernen von Zugfahrplänen, die ihnen den Anschluss an die vermisste Heimat suggerieren, bleiben nur Spuren im Wasser, die der Wind und die Strömung sofort verwischen.

Das Wasser ist das ambivalente Element des Romans. Das melancholische, lähmende in sich Zusammensinken des Vaters nennen die Kinder „tauchen“, wie wenn der Vater in den Fluten versinke. Tatsächlich versinkt am Ende des Buches der kleine Isti in den vereisten Fluten eines Flusses und stirbt. Dennoch bleibt das Wasser im Laufe der Irrfahrten der einzige Raum, der Vater und Sohn Momente der Leichtigkeit und unbändigen Freude gibt. Beide teilen nicht nur diese Leidenschaft, sondern auch den krankhaft depressiven Hang, der bei Isti in psychischen Störungen und übersinnlichen Wahrnehmungen erkennbar wird. So wie die Geschichte von Katalin erzählt wird, stellt Isti die eigentliche Hauptperson dar: ein kleiner, kränklicher Junge, der wie sein Vater ins Schwimmen gerät und der halluzinierten Stimme seiner Mutter auf den tödlichen Eisschollen folgt.

Zsuzsa Bauch führt durch eine ungarische Gesellschaft, die von ärmlichen Kleinfamilien mit autoritären, letztlich wenig lebenstauglichen Männern geprägt wird. Frauen sind selten verschroben, eher leidend wie Mutter Katalin oder aber die Lebensretter und Bewahrer wie Zsofi, Anna und Virag.

Jedes Kapitel ist einer Person gewidmet (was gelegentlich unpassend wirkt) und mit Psychogrammen, Lebenshintergründen, Banalitäten und Anekdoten angereichert wie etwa, dass Agi ihrem geisteskranken Mann eine Glocke an den Zeh bindet um nachts verfolgen zu können, ob er aufsteht. Gelegentlich wird jedoch morgens vergessen, die Glocke zu entfernen, worauf auch tagsüber ein feiner Glockenklang in den Weinbergen schwebt.

Die Geschichte bewegt sich in sehr ruhigen Bahnen, selten unterbrochen von aufkeimender Spannung wie bei der Flucht von Katalin 1956 nach Deutschland. Über allem liegt eine gewisse Monotonie und ein seelischer Grauschleier. Umso überraschender, dass die feinfühlige Sprache mit ihrer erstaunlichen Klarheit den gedämpften Inhalt zu einem literarischen Genuss werden lässt. Note: 1– (ur)<<

Der Alchimist – Paulo Coelho

Diogenes 1988 – 173 Seiten

Der Hirte Santiago lebt in stimmiger Eintracht mit seinen Schafen auf den Weiden Andalusiens. Er hat die Klosterschule abgebrochen, weil er reisen will um die Welt zu erfahren. In Dörfern entlang des Weges tauscht er Bücher, aus denen er den Schafen vorliest bis sein ihn ausfüllendes Gleichgeweicht von einem Traum gestört wird. Er träumt, dass er bei den ägyptischen Pyramiden einen Schatz finden wird. Verunsichert und zögernd sucht er Aufklärung und Rat bei einer Wahrsagerin und einem Weisen, die ihm jedoch nicht mehr sagen können als sein Traum schon ausdrückt. Dennoch bestärken sie ihn, dem Traum zu folgen.

Er verkauft die Schafherde, setzt nach Tanger über, wo er schon wenig später beraubt wird. In seiner Not hilft er einem Kristallwarenhändler, dessen Geschäft er schließlich durch Einsatz und Kreativität zum Blühen bringt. Nach einem Jahr und zwischenzeitlichem Zögern, ob er nicht heimkehren solle, schließt er sich einer Karawane an. In einer Oase glaubt er bei der Begegnung mit einer Fatima seinen Schatz gefunden zu haben. Sie ist wunderschön und könnte ihm alles bedeuten. Doch belehrt ihn ein Alchimist, seinen Weg und seine Bestimmung weiter zu verfolgen. Als die Oase überfallen wird, hilft seine weiter gereifte Intuition die Gefahr vorherzusehen und abzuwehren.

Auf der folgenden Wanderung werden Santiago und der Alchimist erneut bedroht und ausgeraubt. Achtung gezollt und damit das Leben geschenkt wird ihnen letztlich, weil es Santiago – wie vom Alchimisten angekündigt – gelingt, einen verheerenden Sturm zu entfachen. Mit Gold beschenkt wird Santiago erneut überfallen und hört am Fuße der Pyramiden von seinen Räubern einen neuen Traum. In Andalusien sei in einer von Schäfern benutzten Ruine ein Schatz verborgen. Santiago kehrt darauf in seine Heimat zurück, findet hellseherisch den Schatz und begibt sich auf den Weg zu Fatima. Er kehrt an einen Punkt seines mühevollen Lebensweges zurück, wo er zuvor schon einmal war, aber damals meinte, nicht bleiben zu können.

            Ein missionarisches Märchen mit dem Tenor, aktiv seinen Lebensweg zu suchen. Die größte Lebenslüge sei das Schicksal. Fatal sei das gelähmte Sich-gehen-lassen und Rasten in gewohnten Lebensnischen. Der Weg sei beschwerlich aber voller Erkenntnisse, und daher sei der Weg selbst schon Teil des Ziels. Auf dem Weg sind viele Zeichen göttlichen Ursprungs zu deuten.

Woher aber die Gewissheit nehmen, dass es überhaupt Zeichen sind und in welche Richtung sie deuten? Es wird suggeriert, dass es ein verhängnisvolles Bemühen sei, nach alchemistischer Allwissenheit zu streben, da die Erkenntnisse in rein theoretischem Wissen verfangen blieben. Der Kopf müsse durch den Bauch ersetzt werden. Aber welcher Bauch und welche der verschiedenen Bauchgefühle sind wegweisend? Und warum ist nicht auch das stete Verweilen wie beim Kristallwarenhändler eine Erfüllung? Der Kristallwarenhändler erfüllte seinen Wunsch, nach Mekka zu pilgern, deshalb nicht, weil er dann einer wunderbaren Illusion durch die Realität beraubt wäre. Träume können auch Erfüllung sein. Und warum verlässt Santiago die von Natur und Schafen geprägte Harmonie? Warum bleibt er nicht gleich bei Fatima, sondern wechselt die Kontinente, verliert Zeiten des Glücks, um dann doch am Ende bei Fatima sein endgültiges Ziel zu finden? Der Zuwachs an innerer Ruhe, Wissen und Glück scheint den Weg nicht zu rechtfertigen, zumal er schon als Jüngling ein Naturtalent für diese Kräfte war. Und warum schwebt über allem die Unumstößlichkeit der Tradition? Wieso die aus göttlicher Hand entspringenden Gebote, die wie ein Schicksalszwang vieles unumstößlich festlegen?

Ein Buch mit vielen Widersprüchen, Plattitüden und ohne sprachliche Höhen.
Leicht zu lesen oder besser nicht zu lesen.  Note: 4 ( ur ) <<

 

 

Tod eines Kritikers – Martin Walser

Suhrkamp Verlag 2002 – 219 Seiten

<< Ein Buch – ein Politikum. Ein Politikum, weil es mit einem monolithischen Plot den deutschen Literaturbetrieb zerbröselt. Ein Politikum, weil es lebende Teilnehmer des gegenwärtigen Literatur- und Medienbetriebs in einen Parodie-Zusammenhang stellt, der von genial originell bis dekadent diffamierend reicht. Ein Politikum auch, weil deutsche Ansprüche auf antisemitische Täterschuld tangiert werden, ohne dass auch nur eine anti-semitische Passage im Text zu finden wäre. Gerade der letzte Punkt wird im Nachhinein umso bedeutungsvoller, weil die Reaktion der deutschen Intelligenzija auf Walsers Werk so absurd ausgefallen ist, dass man dem real existierenden Journalismus nichts anderes als eine pathologische Verblendung attestieren muss. An erster Stelle muss hier natürlich die Frankfurter Allgemeine Zeitung genannt werden, deren Herausgeber Schirrmacher schon vor Erscheinen des Romans den größten in der BRD denkbaren Vorwurf formulierte: „Tod eines Kritikers“ sei antisemitisch, u.a. weil der einflussreichste deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki verspottet werde. Der inzwischen verstorbene M.R.-R. war Mitarbeiter der FAZ und Jude.
Walser hat mit seinem Literaturkrimi einen Schlüsselroman verfasst, in dem die bösartige Eigennützigkeit von Schriftstellern, Literaturwissenschaftlern, Kritikern, Medienexperten und Verlegerinnen die Wirkkräfte sind. Keiner dieser `Ungewaschenen` trägt ein weißes Hemd. Auch der mittelmäßige Romanautor Lach als Hauptprotagonist nicht. Die teils der Wirklichkeit entliehenen Leben lassen vermuten, dass Walser mit der Hauptfigur auch ein selbstkritisches Portrait seiner eigenen Person entworfen haben könnte. In diesem Sinne würde er sich genauso wenig wie sein Umfeld schonen, das unschwer wiedererkannt werden kann. Am Ende wird der Leser erfahren, dass in diesem Krimi ein Mord nie geschah. Ja sogar, dass die Geschehnisse auch innerhalb des Romans vielleicht nie stattfanden, dass die ganze Erregung nur Inhalt eines inneren Monologs war? Phantasien eines bitter enttäuschten Literaten mit mäßiger Qualifikation? Vielleicht ein kultivierter Walser mit kulturlosen Mordgelüsten? Man weiß es nicht.
Die Rahmengeschichte. Der Literaturwissenschaftler Landolf (½ Walser) erfährt entsetzt, dass der von ihm geschätzte Schriftsteller Hans Lach (ebenfalls ½ Walser) mit Mordvorwurf an dem Fernsehliteraturkritiker André Erl-König (Marcel Reich-Ranicki) inhaftiert wurde. Landolfs Begegnung mit dem Inhaftierten ist von Schweigen geprägt. Lach macht nicht die geringsten Anstalten, sich zu verteidigen. Im Bemühen, Lachs Unschuld dennoch zu beweisen, interviewt Landolf Zeitgenossen des Literaturbetriebs und studiert das Video der Sendung, in der André Erl-König Lachs neuestes Werk verriss. Auch bewertet er Aussagen über den folgenden Empfang, bei dem Lach André Erl-König drohte, und analysiert Lachs zurückliegende Veröffentlichung mit dem Titel: Der Wunsch, Verbrecher zu sein.
André Erl-König wird flächendeckend als gottgewaltiger Terminator eingestuft, der sich auf Kosten anderer selbst zelebriert. In seiner Fernsehsendung „Sprechstunde“ pflegt er Gegenwartsliteratur
mittels eines schlichten Entweder-Oder-Schemas zu sezieren. Jeweils ein Roman wird jubilierend prämiert, während ein zweiter vernichtend dem Altpapier übergeben wird. Beim letzten Auftritt traf es Lachs Roman „Mädchen ohne Fußnägel“. Während die Frau im Roman gar nicht vorkommt, scheint das Romanpersonal mehr Namen zu umfassen als ein Telefonbuch wiedergeben kann. Der Roman dürfte tatsächlich misslungen sein.
Auch beim erfolglosen Autor Streiff (wer ist gemeint?), der nach wie vor von seiner berufstätigen Frau ausgehalten werden muss, wird Landolf nicht wirklich fündig. Leider ist dieser nur in Gegenwart seiner Frau autorisiert auszusagen. Statt auf den Fall Lach einzugehen, problematisiert er seine eigene, ihm von André Erl-König vorenthaltene Anerkennung auf seine im Pilgrim Verlag (Suhrkamp) erschiene „Tulpen-Trilogie“. Ähnlich die Verleger-Gattin Pilgrim (Ehefrau Ulla Berkéwicz des Suhrkamp Verlegers Unseld), die inzwischen einen Negativkatalog über André Erl-König erarbeitet hat. Entgegen den Gepflogenheiten hatte sie Lach zum Empfang nach der Fernsehsendung ins Verlegerhaus in der Hoffnung geladen, sich wenigsten einmal gegenüber ihrem Gatten profilieren und André Erl-König brüskieren zu können. Wie auch Streiff hat sie Lachs Buch zur Heilsschrift erhoben und hofft, dass er durch den vermuteten Mord zu ihrem wahren Helden reifen wird. Leider kann bisher die Leiche des vermissten Erl-Königs nicht gefunden werden. Verhalten indifferent und intellektuell entschwebend bleibt dagegen Prof. Wesendonck (Jürgen Habermas).
Später drängen sich die Geschwister Henkel (Walter und Inge Jens) als Zeugen auf, vergessen dabei sogar Lach, belasten den von ihnen lange geförderten André Erl-König und erwarten – sollte je ein Buch über den Fall geschrieben werden – als Ziehvater der Aufklärung in den Mittelpunkt gerückt zu werden. Wirklich glitschige Hintergrundsinformationen liefert jedoch Prof. Silberfuchs, genannt „Silbenfuchs“ (Chefkritiker der Süddeutschen Zeitung Joachim Kaiser). Hans Lach verschweige vermutlich sein wasserdichtes Alibi, um die brandneue Beziehung seiner außerehelichen Exfreundin, mit der er zur vermuteten Tatzeit schlief, zu schonen. Lach, ein Ehebrecher mit Anstand? (Walser teilte sich zeitweise mit seinem Verleger Unseld die Geliebte Corinne Pulver, Schwester der Schauspielerin Liselotte Pulver. Walser hatte zudem mit der Verlegergattin Augstein ein Verhältnis und einen Sohn.)
Als dann die Gattin von André Erl-König (die oft betrogenen Teofila Reich-Ranicki) mit weitsichtigem Kalkül den Mord zugibt, kehrt der Totgesagte prompt unversehrt zu seiner Gattin zurück und gesteht schmunzelnd, dass er sich lediglich mit einer Nachwuchsliteratin zurückgezogen hatte. Das Publikum verzeiht und ist begeistert von der Dramaturgie. Landolf zieht sich seinerseits zurück mit der Verlegergattin, die kurz vorher Witwe geworden war (Unselds Ehefrau Ulla Berkéwicz; Unseld war gestorben und hatte ihr den Suhrkamp Verlag übertragen). Im inneren und äußeren Exil auf Fuerteventura beginnt Landolf unter dem Einfluss frischer Seeluft dieses Buch zu schreiben. Dabei nähert er sich stilistisch dem von Lach in der Gefängnispsychiatrie geförderten Noch-nicht-Autor Mani-Mani (Hölderlin) an, der in absurden Fragmenten denkend schreibt. Lach wird auch bei fantastischen Fragmenten verharren. Das Ende suggeriert, dass Lach und der Erzähler Landolf dieselbe Person sind, und der vermeintliche Kriminalfall nur eine rachsüchtige Imagination des Autors Landolf/Lach.
Stilistisch entfacht Walser eine gewaltige Flutwelle vor allem in der sehr umfänglichen Charakterisierung des Erl-Königs, der Geschwister Henkel oder der Fernseh-Sprechstunde. Beeindruckend. Die Kreativwogen brechen in hoher Taktfolge gegen die Psychofestungen, dramaturgische Schaumkronen intonieren Siedepunkte der Eitelkeiten, betörende Wort-Gischt bläst dem erstaunten Leser ins Gesicht. Ein gigantisches Literaturspektakel wird inszeniert. Diese Naturgewalten kann der Walser.
Die Inhalte dagegen changieren von buntblumiger Helligkeit bis weit in die Dunkelheit des Fremdschämens. Etliches tut richtig weh. Formulierte Dinge, die man auch von denen des öffentlichen Betriebs nicht lesen möchte, die man nicht mag. Nach allzu heftigen Protesten wurden daraufhin Folgeauflagen des Buches von allzu verletzenden Passagen befreit. Auch der handlungsarme Plot kommt über eine monotone Einseitigkeit nicht hinaus. Ein Indiziensammelmarathon mit dem Tenor: Der Erl-König hat Strafe verdient. Lach war es nicht. Viele andere aber hatten Grund genug. Das wirkt nach 200 Seiten ermüdend.
Eine erste kritische Auseinandersetzung mit den literarischen Inquisitionspäpsten der Gruppe 47 hatte Walser schon 1965 in Erfahrungen und Leseerfahrungen publiziert. Dort wurden die Großkopfete wie Reich-Ranicki et al. im Kapitel Brief an einen ganz jungen Autor mit origineller und gehaltvoller Respektlosigkeit beschrieben. Das war kurz und lustvoll. Vielleicht hätte Tod eines Kritikers auch mehr Bewegungsfreude wie im Roman Der Musterjude von Rafael Seligmann geholfen. Dort werden die egomanischen Triebkräfte der Medienlandschaft ähnlich dem Literaturbetrieb auch in vernichtender Klarheit offengelegt. Seligmann lässt dabei bizarre Missstände entstehen, weil die deutsche Leser- und Polit-Öffentlichkeit zwingend auf ihren antisemitischen Schuldkomplex besteht. Und wenn man schon kein aktuelles Opfer hat, für das man schuldig ist, dann definiert man sich eins, um die Täterrolle überzeugend büßen zu können. In Tod eines Kritikers ist die Verteilung der vermeintlichen Täter- und Opferrollen im Nachhinein erzwungen worden und hat eine der peinlichsten Entgleisungen des selbstsüchtigen Kultursystems hervorgebracht – wie eine bittere Realsatire in Anlehnung an Seligmann. Auch eine humoristische Tiefensicht á la Hilmar Klute ist eine Alternative. In seinem Roman Was dann nachher so schön fliegt sind es die überschäumenden Träume eines Zivildienstleistenden und Noch-nicht-Schriftstellers, der Führungskräfte wie Grass, Böll, Reich-Ranicki, Jens und andere der Gruppe 47 nach seinem Gusto tanzen lässt. Auch hier werden die bekannten, teils peinlichen Eigenschaften der Großmeister offengelegt. Aber auf eine verdauliche Art. Durch die Brille des pubertierenden Jungliteraten wirken sie geradezu rührend sympathisch und verlieren dennoch nicht ihren Biss.
In ferner Zukunft wird man vielleicht literaturhistorisch den Fall als zirkuläres Kontinuum preisen. Die Wirklichkeit wird zum Romaninhalt transkribiert, worauf dieser wieder zu Wirklichkeit transformiert wird. Die finale Stufe wäre das Perpetuum mobile, wozu die moralisierende deutsche Seele durchaus in der Lage wäre.
Für den am deutschen Literaturbetrieb interessierten Leser ist der Roman samt seinem Nachspiel somit ein Muss. Literarisch bleibt er umstritten.

Noten: Pflicht: 4; Kür 2– (ur)>>

Der Spieler- F.M.Dostojewskij

 Aufbau Verlag 1994 (Der Spieler – Späte Prosa) – Seiten 348 – 530

>>Dostojewski skizziert in seiner Erzählung Charaktere gehobener Gesellschaftskreise im Ausnahmezustand. Die dekadente russische Gesellschaft gibt sich im fiktiven deutschen Roulettenburg dem ruinösen Glücksspiel hin. Es ist ein Spiel mit und gegen sich selbst. Spielsucht, Eitelkeit, Eifersucht und Liebe, Standesdünkel und Machtkalkül sind die Kugeln, die durchweg ungünstig fallen.

            Da ist der alternde General, der nicht nur beim Militär Geld hinterzog, sondern auch sein Hab und Gut einem falschen Adeligen verpfändete. Da ist die Stieftochter, deren Lebenslust sich aus dem provozierten Leid ihrer Mitmenschen speist. Da ist der Graf, der als Hochstapler zum Blutsauger wird und sich am Unglück anderer bereichert. Da ist die Madame, die beliebig die Seiten wechselt, um Ansehen und Luxus zu mehren. Und da ist der Ich-Erzähler, der mit einem Mangel an Kampfgeist zum Treibgut in der aufgewühlten See wird. Und alle verbindet, dass sie ihr Leben mit einem plötzlichen Vermögen richten wollen. Die Quelle dessen soll das Glücksspiel sein. Und dieses entfaltet eine ganz eigene Dynamik. Einmal im Casino, wird jeder zum festen Mobiliar in diesem. Eine Sucht, dem kein Widerstand gewachsen ist.

Der französische Graf hatte dem General Geld geliehen. Jetzt versucht der Militär das Geld beim Glücksspiel zurückzugewinnen. Zudem erwartet er fiebernd den Tod einer Großtante, um deren Erbschaft anzutreten. Wie eine Klette hängt der Franzose am gemütsschwachen General. Noch tragischer wird es für den Uniformierten, als er sich unsterblich in Madame Blanche, eine deutlich jüngere, affektierte Schönheit, verlieben musste. Madame Blanche diskutiert ihrerseits die Möglichkeit einer Hochzeit – freilich nur, um an die erwartete Erbschaft und vor allem an den Titel einer Madame General zu gelangen. Doch die Großtante will nicht sterben. Stattdessen erscheint sie mit Donnergetöse, worauf Madame Blanche mit einem taktischen Manöver kontert und sich dem Franzosen in die Arme wirft. Natürlich nur bis zu dem Zeitpunkt, zu dem man den falschen Graf als Schwindler entlarvt.

            Die Abhandlung kreist um den Ich-Erzähler Alexej, der seit einigen Monaten für die Familie des Generals als Hauslehrer tätig ist. Sein verkrampftes, lautes Herz gehört ganz Polina, der Stieftochter des Generals. Polina fühlt sich in einer hochgradig gestörten Art von Alexej angezogen. Sie kann ihre Zuneigung nur in einen missbräuchlichen Umgang kleiden. Zu ihrem bloßen Amusement veranlasst sie ihn, sich entgegen aller Standesunterschiede einer Adligen zu nähern. Diese reagiert prompt mit einem Eklat. Alexej verliert seine Anstellung als Hauslehrer. Polina drängt Alexej mit ihrem Geld zu spielen, obwohl er Roulette für ganz und gar verwerflich hält. Überraschend gewinnt er. Das Geld könnte ausreichen, Polinas umfangreiche Schulden zu tilgen. Mit dem Argument, dass sie sich nicht kaufen lasse, bleibt sie ihren sadistischen Ambitionen treu. Theatralisch schleudert sie die Geldbündel in den Schmutz, obwohl sie Alexej im Innersten zugetan ist. Liebe kleidet sie in Hass, Aufmerksamkeit in Unterwerfung.

            Alexej taumelt. Tief verletzt sucht er Trost bei Madame Blanche. Sie bekundet offen, dass sie an seinem Vermögen partizipieren will. Bereitwillig liefert sich Alexej aus, ist Wohlstand doch ohne jeden Reiz für ihn. Sie reisen gemeinsam nach Paris, wo es leichtfällt, in wenigen Wochen das kleine Vermögen zu verprassen. Er lässt es geschehen. Die dabei empfundene Absurdität ertränkt der junge Mann im Alkohol. Auch moralisch vernebelt kehrt er zurück an die Spieltische. Es ist ein Spielwahn, der nicht auf Reichtum gerichtet ist, sondern der abenteuerlichen Versuchung erliegt. Seine erklärte Ablehnung ist vom Virus der Spielsucht ins Gegenteil verkehrt worden. In der Folge findet er sich im Gefängnis wieder. Anonym kauft Polina ihn frei. Wieder kann sie ihre positiven Empfindungen nicht offen leben. Durchschaut und in scheuer Distanz kommentiert, wird die destruktive Gemengelage von einer britischen Gestalt. Mit seiner Prophezeiung vom völligen Niedergang endet die Erzählung. Dostojewski untermalt damit nochmals den fatalen Werdegang. Auch die offen formulierte Analyse, vermag bei Tätern und Opfern keinen Einfluss auszuüben.

            Der Rezensent urteilt: literarisch wird in der zentralen Person des Alexej der Typus des Spielers nicht überzeugend ausgeformt. Die prosaische Charakterprofilierung gelingt lediglich bei der Beschreibung der Großtante, die beim Eintreffen in Roulettenburg augenblicklich von der Spielsucht befallen wird, im Spiel Qualen durchlebt, von polnischen Ratgebern wie Kakerlaken beraubt wird und letztlich vereinsamt. Die Erzählung versteht sich vermutlich auch  Gesellschaftskritik. Die Figuren sind allesamt in ein fatales Wechselspiel verwickelt, in dem jeder jeden ausbeutet und damit die Entwicklung einer aufrichtigen Identität verhindert. Der Autor musste selbst diese Erfahrung an deutschen Spieltischen machen. Autobiographisches ist Teil der Erzählung.

Trotz einiger gelungener Passagen ein unvollendetes Fragment.  Note: 3– (bu)<<

Rot- Uwe Timm

Kiepenheuer & Witsch,
ISBN: 3-462-03023-X, 2001, 430 Seiten.

>>  Thomas Linde (52) war wortgewandter Grabredner. Der Romananfang überrascht mit seinem Tod. Die folgende Ich-Erzählung entpuppt sich als seine Grabrede – auf sich selbst. So wie TL ist diese Rede wenig gradlinig, sondern assoziativ, sprunghaft, fortlaufend die Ebenen, die Zeiten, die Personen und Anlässe wechselnd. Ein Buch ohne Kapitel wie das Leben des TL. Rot als Signal des Stillstands, Rot als stiller Alarm, Rot als Blut, das ein letztes Mal verfließt. Bei Rot wird TL schließlich überfahren.

Erst als TL die Aufgabe zufällt eine Grabrede über den verstorbenen Aschenberger zu halten, begegnet er wie in einem Spiegel sich selbst. Seine Nachforschungen zu dem unbekannten Toten offenbaren ihm einen Bekannten, einen Kommilitonen aus gemeinsamen Zeiten politischer Unruhe. Bis zuletzt blieb Aschenberger der reinen antifaschistisch- sozialistischen Lehre der DKP verpflichtet. Lebte einsam verbarrikadiert hinter Bücherwänden. Hatte den Bezug zur Gegenwart verloren. Auch seine Familie war ihm abhandengekommen. Den Unterhalt besserte er durch alternative Berliner Stadtführungen auf. So gesehen war auch er ein Grabredner auf längst Vergangenes. TL und Aschenberger teilten den Zustand im lebendigen Leben nicht angekommen zu sein. Aschenberger hatte sich so weit entfernt, dass er zu guter Letzt sogar die Sprengung der Siegessäule plante. Der Plastiksprengstoff, den TL im Nachlass fand, hätte symbolisch die Zündung für eine – seine – neue Lebensorientierung sein können, doch er kommt zu spät, weil das Leben schon zu Ende ist.

Eigentlich stand der Charakter von TL auf soliden Fundamenten: eine frische Genussfähigkeit, offenes Visier in den kämpferischen, promiskuitiven 68ern, musikalische Intuition als Jazzmusiker, politische Intellektualität, attraktive Erscheinung und bis zuletzt noch die erfolgreiche Projektionsvaterfigur, die jugendliche Damen betört. Doch so wie Aschenberger gelang auch ihm nicht der Bezug zum Hier und Jetzt. Dieses Verlorensein teilte TL mit seiner nicht zufällig gewählten Umgebung. Seine langsam entglittene Exgattin Lena suchte ihr Glück zwischen wiederholten Schönheitsoperationen und einem kraftvollen Schwarzen. Tessy, die ehemalige Kollegin und Urlaubsanimateurin, nahm sich im hoffnungslosen Anrennen gegen das Altern das Leben. Die alten Politfreunde Edmond und Vera wurden als erfolgreiche Bordeaux-Händler selbst Alkoholiker. Und so wie die politischen und Jugend-orientierten Ideale mal Zukunft waren, wurden sie für jeden irgendwann Vergangenheit. Gegenwarten wurden überholt.

Auch TL hatte das Rückwärtsgewandte zu seinem Lebensinhalt gemacht und flüchtete als Grabredner wieder und wieder in die traurigen, mitunter erbärmlichen Lebensentwürfe anderer. Dieses Mäandern zwischen kleinen und großen Lügen fand jedoch ein Ende, als er eines Tages ohnmächtig vor der Aufgabe stand weitere Reden halten zu müssen. Wie gelähmt konnte er nicht länger in die Ableben anderer flüchten. Halt fand er erst wieder als er Format und Inhalt wechselte und mit einem Buchprojekt zu Hintergründen von Farben einen inneren Monolog begann. Der Fokus auf Rot gab ihm zunächst Halt. Am Ende blieben jedoch wieder nur Farbflecken nicht zusammenhängender Impressionen. Der rote Faden zerfranste erneut. Währenddessen wartete die aufrichtig liebende Lichtdesignerin Iris auf ihn. Doch TL stolperte über seine Bindungsunfähigkeit – und dies just in dem Moment des sich andeutenden Bekenntnisses zu ihr und ihrer Schwangerschaft. Nicht zufällig lässt Uwe Timm den Protagonisten an dieser Stelle bei Rot zu Tode kommen.

Ein Buch mit literarischen Hochdruckgebieten und verbreiteten inhaltlichen Nebellagen – gut für wetterbeständige Leser mit genügend Ausdauer. Am Ende nur ein bemühter Schluss.  Note 2–3 (ur) <<

Ein Regenschirm für diesen Tag – Wilhelm Genazino

Hanser Verlag, 2001 | 173 Seiten

>> Der Rahmen: labiler Charakter büßt Lebensabschnittsgefährtin ein und schlägt hart auf.

Er ist Mitvierziger, arbeitsferner Akademiker ohne Anstellung. Im früheren Leben Redaktionsmitglied einer Tageszeitung, heute gelegentlich als Schuhtester unterwegs. Auf den Sohlen edler Prototypen macht er kleine Schritte in einer überschaubaren Welt. Dabei ergeht er sich banal oder philosophisch, kurzatmig fragmentiert oder ausholend über Sein und allzu Menschliches.

            Über allem schwebt ein Lebenszweifel mit der wiederkehrenden Frage, ob er ohne Genehmigung am Leben ist. Tatsächlich steht er mehr neben dem Leben als in ihm zu gehen. Er schließt sich schließlich in seinen vier Wänden ein. Holt sich Kindheitsträume zurück, indem er ein Zimmer mit buntem Herbstlaub füllt. Er entwirft Schweige-Wochenpläne und Umhängeschilder mit Sprechverboten. Schon als Jugendlicher beherrschte ihn das Grundgefühl, sich nicht behaupten zu können. Im Erwachsenenalter verfestigt sich diese Selbstwahrnehmung. Sie raubt ihm Antrieb und Frohsinn. Der Zustand belastet nicht nur ihn. Als schließlich seine seelisch angeschlagene Freundin, von deren Frührente er lebt, seine Untätigkeit nicht länger erträgt, bleibt er verlassen zurück.

            Erstaunlich und für den Leser angesichts dieser literarischen Charakterinszenierung nicht nachvollziehbar, dass in diesem Mann ein Schelm und Lebenskünstler steckt. Belustigend verziert er Wehmutsanflüge mit Frauennamen, um sie verhöhnen zu können und damit dem suizidalen Sprung in die Fluten entgegenzuwirken. Eigen- und Fremdwahrnehmung sind nicht in Deckung zu bringen. Er selbst zelebriert für sich einen isolierenden Grauschleier, während seine Umwelt ihn freudig begrüßt, erotisch begehrt, als Mitarbeiter gewinnen will, seine Nähe und sein Verständnis sucht. Frauen, die ihm kaum etwas zu bedeuten scheinen, leuchten in vielen Farben in seiner Dunkelheit auf.

            Auf einer Party wird er zum genialen, tiefschürfenden Alleinunterhalter. Er erfindet aus dem Stehgreif ein Institut für Gedächtniskunst speziell für Menschen, die ihr Leben als anhaltenden Regentag empfinden. Er führt erfindungsreich und einfühlsam Therapiedoppelstunden durch und bringt prompt Heiterkeit in den Lebensnovember ergrauter Büroangestellter. Ein Regenschirm für diesen Tag. Das Loch, in dem sein labiler Charakter sitzt, ist mit einem erstaunlich erfrischenden Unterhaltungswert vergesellschaftet. Oder ist das nur ein Traum?

            Am Ende bewegt sich sogar etwas. Eine Jugendfreundin öffnet ihr Herz, zieht in seine Privatsphäre. Prompt spürt er die Motivation einen Redakteursposten anzunehmen. Das neue Motto lautet: nicht länger blinder Passagier im eigenen Leben zu sein.

Die Sprache des Buches ist luftig und heiter – vor allem zum Ende hin. Ermüdend jedoch die sprunghaften Assoziationen, die konzeptionelle Inkonsistenz des Hauptprotagonisten und inhaltliche Widersprüche.  Note: 2/3 (ur) <<