Ein Regenschirm für diesen Tag – Wilhelm Genazino

Hanser Verlag, 2001 | 173 Seiten

>> Der Rahmen: labiler Charakter büßt Lebensabschnittsgefährtin ein und schlägt hart auf.

Er ist Mitvierziger, arbeitsferner Akademiker ohne Anstellung. Im früheren Leben Redaktionsmitglied einer Tageszeitung, heute gelegentlich als Schuhtester unterwegs. Auf den Sohlen edler Prototypen macht er kleine Schritte in einer überschaubaren Welt. Dabei ergeht er sich banal oder philosophisch, kurzatmig fragmentiert oder ausholend über Sein und allzu Menschliches.

            Über allem schwebt ein Lebenszweifel mit der wiederkehrenden Frage, ob er ohne Genehmigung am Leben ist. Tatsächlich steht er mehr neben dem Leben als in ihm zu gehen. Er schließt sich schließlich in seinen vier Wänden ein. Holt sich Kindheitsträume zurück, indem er ein Zimmer mit buntem Herbstlaub füllt. Er entwirft Schweige-Wochenpläne und Umhängeschilder mit Sprechverboten. Schon als Jugendlicher beherrschte ihn das Grundgefühl, sich nicht behaupten zu können. Im Erwachsenenalter verfestigt sich diese Selbstwahrnehmung. Sie raubt ihm Antrieb und Frohsinn. Der Zustand belastet nicht nur ihn. Als schließlich seine seelisch angeschlagene Freundin, von deren Frührente er lebt, seine Untätigkeit nicht länger erträgt, bleibt er verlassen zurück.

            Erstaunlich und für den Leser angesichts dieser literarischen Charakterinszenierung nicht nachvollziehbar, dass in diesem Mann ein Schelm und Lebenskünstler steckt. Belustigend verziert er Wehmutsanflüge mit Frauennamen, um sie verhöhnen zu können und damit dem suizidalen Sprung in die Fluten entgegenzuwirken. Eigen- und Fremdwahrnehmung sind nicht in Deckung zu bringen. Er selbst zelebriert für sich einen isolierenden Grauschleier, während seine Umwelt ihn freudig begrüßt, erotisch begehrt, als Mitarbeiter gewinnen will, seine Nähe und sein Verständnis sucht. Frauen, die ihm kaum etwas zu bedeuten scheinen, leuchten in vielen Farben in seiner Dunkelheit auf.

            Auf einer Party wird er zum genialen, tiefschürfenden Alleinunterhalter. Er erfindet aus dem Stehgreif ein Institut für Gedächtniskunst speziell für Menschen, die ihr Leben als anhaltenden Regentag empfinden. Er führt erfindungsreich und einfühlsam Therapiedoppelstunden durch und bringt prompt Heiterkeit in den Lebensnovember ergrauter Büroangestellter. Ein Regenschirm für diesen Tag. Das Loch, in dem sein labiler Charakter sitzt, ist mit einem erstaunlich erfrischenden Unterhaltungswert vergesellschaftet. Oder ist das nur ein Traum?

            Am Ende bewegt sich sogar etwas. Eine Jugendfreundin öffnet ihr Herz, zieht in seine Privatsphäre. Prompt spürt er die Motivation einen Redakteursposten anzunehmen. Das neue Motto lautet: nicht länger blinder Passagier im eigenen Leben zu sein.

Die Sprache des Buches ist luftig und heiter – vor allem zum Ende hin. Ermüdend jedoch die sprunghaften Assoziationen, die konzeptionelle Inkonsistenz des Hauptprotagonisten und inhaltliche Widersprüche.  Note: 2/3 (ur) <<