Kiepenheuer & Witsch,
ISBN: 3-462-03023-X, 2001, 430 Seiten.
>> Thomas Linde (52) war wortgewandter Grabredner. Der Romananfang überrascht mit seinem Tod. Die folgende Ich-Erzählung entpuppt sich als seine Grabrede – auf sich selbst. So wie TL ist diese Rede wenig gradlinig, sondern assoziativ, sprunghaft, fortlaufend die Ebenen, die Zeiten, die Personen und Anlässe wechselnd. Ein Buch ohne Kapitel wie das Leben des TL. Rot als Signal des Stillstands, Rot als stiller Alarm, Rot als Blut, das ein letztes Mal verfließt. Bei Rot wird TL schließlich überfahren.
Erst als TL die Aufgabe zufällt eine Grabrede über den verstorbenen Aschenberger zu halten, begegnet er wie in einem Spiegel sich selbst. Seine Nachforschungen zu dem unbekannten Toten offenbaren ihm einen Bekannten, einen Kommilitonen aus gemeinsamen Zeiten politischer Unruhe. Bis zuletzt blieb Aschenberger der reinen antifaschistisch- sozialistischen Lehre der DKP verpflichtet. Lebte einsam verbarrikadiert hinter Bücherwänden. Hatte den Bezug zur Gegenwart verloren. Auch seine Familie war ihm abhandengekommen. Den Unterhalt besserte er durch alternative Berliner Stadtführungen auf. So gesehen war auch er ein Grabredner auf längst Vergangenes. TL und Aschenberger teilten den Zustand im lebendigen Leben nicht angekommen zu sein. Aschenberger hatte sich so weit entfernt, dass er zu guter Letzt sogar die Sprengung der Siegessäule plante. Der Plastiksprengstoff, den TL im Nachlass fand, hätte symbolisch die Zündung für eine – seine – neue Lebensorientierung sein können, doch er kommt zu spät, weil das Leben schon zu Ende ist.
Eigentlich stand der Charakter von TL auf soliden Fundamenten: eine frische Genussfähigkeit, offenes Visier in den kämpferischen, promiskuitiven 68ern, musikalische Intuition als Jazzmusiker, politische Intellektualität, attraktive Erscheinung und bis zuletzt noch die erfolgreiche Projektionsvaterfigur, die jugendliche Damen betört. Doch so wie Aschenberger gelang auch ihm nicht der Bezug zum Hier und Jetzt. Dieses Verlorensein teilte TL mit seiner nicht zufällig gewählten Umgebung. Seine langsam entglittene Exgattin Lena suchte ihr Glück zwischen wiederholten Schönheitsoperationen und einem kraftvollen Schwarzen. Tessy, die ehemalige Kollegin und Urlaubsanimateurin, nahm sich im hoffnungslosen Anrennen gegen das Altern das Leben. Die alten Politfreunde Edmond und Vera wurden als erfolgreiche Bordeaux-Händler selbst Alkoholiker. Und so wie die politischen und Jugend-orientierten Ideale mal Zukunft waren, wurden sie für jeden irgendwann Vergangenheit. Gegenwarten wurden überholt.
Auch TL hatte das Rückwärtsgewandte zu seinem Lebensinhalt gemacht und flüchtete als Grabredner wieder und wieder in die traurigen, mitunter erbärmlichen Lebensentwürfe anderer. Dieses Mäandern zwischen kleinen und großen Lügen fand jedoch ein Ende, als er eines Tages ohnmächtig vor der Aufgabe stand weitere Reden halten zu müssen. Wie gelähmt konnte er nicht länger in die Ableben anderer flüchten. Halt fand er erst wieder als er Format und Inhalt wechselte und mit einem Buchprojekt zu Hintergründen von Farben einen inneren Monolog begann. Der Fokus auf Rot gab ihm zunächst Halt. Am Ende blieben jedoch wieder nur Farbflecken nicht zusammenhängender Impressionen. Der rote Faden zerfranste erneut. Währenddessen wartete die aufrichtig liebende Lichtdesignerin Iris auf ihn. Doch TL stolperte über seine Bindungsunfähigkeit – und dies just in dem Moment des sich andeutenden Bekenntnisses zu ihr und ihrer Schwangerschaft. Nicht zufällig lässt Uwe Timm den Protagonisten an dieser Stelle bei Rot zu Tode kommen.
Ein Buch mit literarischen Hochdruckgebieten und verbreiteten inhaltlichen Nebellagen – gut für wetterbeständige Leser mit genügend Ausdauer. Am Ende nur ein bemühter Schluss. Note 2–3 (ur) <<