Die Insassen- Katharina Münk

Katharina Münk - Die Insassendtv 2009,  216 Seiten. 

>> Vier Insassen der Nervenklinik St. Ägidius wollen diese an die Börse bringen. „Börsengang“ ist das Zauberwort. Die vier sind zwar Patienten, aber einer von ihnen sieht sich als Chef der Anstalt und er rackert wie vormals vor seiner Entlassung. Und sie haben noch gute Verbindungen nach draußen.Manchmal fühlt man sich eine Bildgeschichte von Sempé erinnert. Da wird einem ausgebrannten Manager von seinem Therapeuten empfohlen, sich bei der Gartenarbeit  zu regenerieren. Aber was passiert? Nach ein paar Monaten hat er aus seinem Gärtlein ein Plantage gemacht mit steigenden Erträgen. Sie können halt nicht anders. Und fast hätte der Börsengang auch geklappt, wenn nicht im letzten Augenblick. ….Der Bundesbahn wäre vermutlich viel erspart geblieben, wenn man Herrn Mehldorn rechtzeitig nach St. Ägidius gebracht hätte. Köstlich sind die vielen Beispiele aus der Wichtigmachersprache der modernen Arbeitswelt, vom Networking zum Soulmanager,  Powermap, Meeting, Private Equity, Work Life Balance und so fort. Ein besonderes Schmankerl ist das Kapitel, in dem die Manager, die alle einen Chauffeur hatten, versuchen sich im öffentlichen Personennahverkehr zurechtzufinden. Aber manchmal zieht sich die Story auch etwas hin und die Parodie gleitet zur Comedy hin ab.
„Wo ich bin, ist oben.“, sagt Dr. Wilhelm Löhring einmal über sich. Nein, nein, ich werde nicht neidisch oder vielleicht doch ein bisschen? Note: 2/3 (ax)<<

>>Was im Hochreitner-Trakt der renommierten psychiatrischen St. Ägidius-Klinik abgeht seit Dr. Wilhelm Löhring in Verkennung der Realität aus dem Laden ein börsennotiertes Unternehmen im „Psycho-Health-Care-Segment“ machen will, ist im besten Sinne unterhaltsam. Die Wirtschafts- und Finanzwelt mit ihren reichlich schrägen Figuren draußen erweist sich letztlich als therapiebedürftiger als die Insassen der in jeder Beziehung geschlossenen Gesellschaft. Vor allem das sprachliche Blendwerk des Big-Business „draußen“ und dessen Orientierung an Äußerlichkeitsritualen wird trefflich vorgeführt. Dass dabei Satirisch-Ironisches zuweilen zum Klamauk gerät (Wienkamp u. Fechtner sind dafür besonders anfällig), stört. Vier Schmankerl: Das „Management-Audit“ für Winters Nachfolger (Profil: „Arschloch mit menschlichem Antlitz“) – Die Einweisung des Kollegen Steinfeld aus der Analystenabteilung von Losewitz – Karin Schlicks Verwandlung der Therapiebox in Jeff Koons „The basket – Logo work for World Medical Care“ – Die Fahrt der Insassen zum Börsenplatz Frankfurt mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Hätte man schon früher manchen Luftblasen-Bullenreiter vom Börsenplatz nach St. Ägidius abgeführt, sähe mein Depot anders aus. Note: 2/3 (ai)<<

>>Ausgesprochen amüsant. Tiefsinnig humorvoll. Literarische Schwerelosigkeit mit psychologischem Gewicht. Unternehmerische Fachkenntnisse wunderbar verdichtet zu satirischem Leergut. Ernsthaftigkeit ohne lähmende Moralgebärden. Potemkische Kulisse als Realwelt. Eine herrlich inszenierte Satire über die Leichtigkeit, aus dem Darmwind erkrankter Hirne Finanzblasen zu generieren.
Wir schauen auf vier entgleiste Psychen einer Wirtschafts- und Finanzwelt, denen die realen Bezugspunkte abhanden gekommen sind. Eingeliefert in den exklusiven Hochreitner Trakt der psychiatrischen Privatklinik St. Ägidius schicken sich drei Manager und eine Chefsekretärin mit gravierendem burn-out-Syndrom an, ihre missverstandenen Rollen in den neuen Klinikkontext zu stellen: in einer wunderbar absurden Finanzposse betreiben sie die konspirative Übernahme der Klinik um sie zu ihrer Aktiengesellschaft zu machen. Am Ende mit Erfolg, aber…
Dr. Löhring, als Head des vierköpfigen Senior Round Table, bleibt in der Tat völlig verborgen, dass seine Privat- und Arbeitswelt ihn in die Psychiatrie entlassen hat. Die ihn empfangenen Klinikmitarbeiter in weißen Kitteln identifiziert er zielsicher als forschende Fachkräfte der Research & Development Abteilung des Unternehmens, das er im expandierenden therapeutischen Marktsegment sanieren will. Ebenso beeindruckt zeigt er sich von der postmodernen Unternehmenskultur mit ihrer vermeintlich ausgeglichenen Life-work-balance, als eine Patientengruppe Staffeleien im Rahmen einer Mal-Therapie aufstellt – und zwar während der Arbeitszeit. Der positive Eindruck wird abgerundet durch ästhetische Stilelemente wie das ungewöhnlich präzise gemähte Rautenmuster des großzügigen Rasengeländes – vermutlich als Ausdruck eines den Equity Wert steigernden Qualitätsverständnisses. Dr. Löhring ist zunächst begeistert von seinem Empfang und der neuen Führungsaufgabe.
Das penible Rautenmuster ist das Ergebnis der Beschäftigungstherapie von Herrn Winter, gescheiterter Manager mit autistischen Zügen, aber Sinn für Präzision, Zahlenwerk und komplexe Finanzakrobatik. Wenn es eng wurde, hatte sich Winter Menschen immer mit einer gewissen Notfallarroganz vom Leib gehalten und gleichzeitig äußerst akkurate Spuren hinterlassen: früher bei Optionsgeschäften und heute beim Rasenkantenschnitt. Er wird der eigentliche Finanzspezialist des Quartetts, der für den Überraschungscoup den bunten Bogen von Strategiepapieren schon bereithält, als andere noch gar nicht ahnen, dass man Papier brauchen würde.

Der Dritte im Bunde ist Hubert Wienkamp: im ersten Leben unausstehlicher Personalchef, nach dem Verlust von 20 Jahren Lebenserinnerung jedoch zum sympathischen Amnesiepatienten mutiert, dessen Stärke Empathie und Sozialgemüt sind. Seine Amnesie wird zur Berufung, die ihn zum soul manager der Aktionstruppe machen wird. Sympathieträger wird man auch, wenn man ein Taxi zur Klinik mietet, vergisst einzusteigen, stattdessen vorneweg läuft und den hinterher gleitenden Fahrer am Ende dennoch bezahlt.

Als Vierte wird die ehemalige Chefsekretärin Karin Schlick gegen ihren Willen rekrutiert. Sie ist natürlich als Frau bei vollem Verstand, möchte ihren Aufenthalt in St. Ägidius ganz ihrer Genesung widmen und wird zu guter letzt die Posse auffliegen lassen. Ihr Organisationstalent und ihre Weitsicht machen die praktische Umsetzung der Löringschen Theoriekonzepte erst möglich. Dank der therapeutischen Fortschritte wird ihr ein Rehabilitationspraktikum im Vorzimmer des Klinikchefs angetragen, womit sich ihr alle Türen zur Manipulation im Herzen des Klinikapparates öffnen.

Löring treibt das Projekt zielstrebig voran, auch wenn er immer wieder von seinem zweiten Ich traktiert wird, sobald es eng wird im Aktionstunnel. Doch die wiederholten Ausbruchversuche dieses rebellierenden Kranken in ihm versteht Löring zu unterbinden, indem er ihn im Keller seines Gemüts ankettet. Krankenstände und Arbeitsausfälle haben ohnehin keinen Platz in einem leistungsstarken Unternehmen, welches sich im Premiumsegment des Psychiatriemarktes profilieren will. Strategiekonzepte werden entwickelt, Projektpapiere formuliert, regelmäßige brain stormings abgehalten und schließlich Banker einbezogen, die aber unerfreulicher Weise das Objekt in Augenschein nehmen möchten. Was jetzt?

Als erstes braucht das äußere Erscheinungsbild ein upgrading. Flugs beordert Frau Schlick am Tag des Bankertreffens die Gattinnen wohlhabender Patienten zum Chefarzt, weil der Krankheitsverlauf ihrer Ehegatten angeblich bedrohliche Züge angenommen habe. Der Chefarzt wird überzeugt, dass man zur Sanierung der Haushaltslage ohnehin Therapieverlängerungen anregen sollte. Entsprechend ist – wie für ein prosperierendes Unternehmen üblich – der Parkplatz der Klinik mit repräsentativen Limousinen voll geparkt. Die Banker werden passgenau von Winters Finanzmodellen eingenommen und sind erfrischend angetan von dem ungemein schlichten und damit mutigen Möblierungsstil des Konferenzsaales (also der Cafeteria). Ähnlich durchschlagend positiv wird der antizyklische Präsentationsmodus im Retro-Stil ohne Powerpoint und Beamer, sondern mit Kamillentee und Wurstwecken aufgenommen. Weiter kann man dem Zeitgeist kaum voraus sein. Damit ist die erste Hürde genommen. Die Banker fungieren als Katalysatoren um Großinvestoren zu gewinnen. Es folgt ein Höhepunkt dem anderen. Die Seniorenbande – tragischerweise ohne Frau Schlick – macht sich auf zur Road Show ins Frankfurter Bankenviertel. Prompt sehen sich die Herren mit einer fast unlösbaren Aufgabe konfrontiert: dem Erwerb eines Gruppenfahrscheins am Automaten des öffentlichen Nahverkehrs. Nicht überraschend reißt sich der Angekettete in Lörings Seelenkerker los und droht schreiend ins Freie zu stürzen. Doch irgendwie hat der Automat ein Einsehen, so dass die Drei noch am gleichen Tag bleibenden Eindruck bei konkurrierenden Investorgruppen aus Japan, Großbritannien und der BRD hinterlassen. Das Klinikum wird formal einer bankrotten Miederwaren AG aus dem hinteren Ruhrgebiet einverleibt, womit die langwierige Gründung einer neuen Aktiengesellschaft umgangen werden kann. Wenig später schon erfolgt die Präsentation an der Börse mit bereits mehrfach überzeichneten Wertpapieren. Doch Löring hat den Deal ohne den unumstößlichen Therapiewillen von Frau Schlick gemacht, die genau diesen Moment ins Kalkül einbezogen hat und bei der Börseneröffnung die Krankenakten der drei Patienten präsentieren lässt. Der Welt soll am erfolgten Vollzug vor Augen geführt werden, wie krank die Täter, wie leichtgläubig das System und wie bereitwillig blind die Opfer sind. Anders hätte niemand den ganz realen Wahnsinn für möglich gehalten.

Im Nachtrag erfahren wir, dass Frau Schlick und Herr Winter sich dem überschaubaren Mikrokosmos des Hochreitner Traktes dauerhaft verschrieben haben und in der Klinik-eigenen Gärtnerei Floristenpreise für Hagebuttenbaldachine einheimsen. Sie glauben nicht mehr an die Selbstheilungskräfte der Normalwelt. Wienkamp hingegen wechselte auf gleichbleibendem Niveau ins TV Geschäft, um dort als Hauptdarsteller einer Pfarrbüro-Serie allwöchentlich die Republik zu begeistern. Und Löring, der Serientäter? Ihn feiert die unverbesserliche Öffentlichkeit als neuen, alten Chefsanierer angeschlagener Industriebranchen, gefesselt von seinem Credo: „Es ist wohl mein Schicksal, Erfolg zu haben.“

Nicht nur die Originalität des Plots und seiner Ausformung macht dieses Buch so lesenswert. Nein, es ist auch die Leichtigkeit mit der fast jeder Verriss wieder ins Liebenswerte verkehrt wird. So wird der Klinikchef degradiert als ein Charakter mit der Ausstrahlung eines Kaufhausangestellten in der Kurzwarenabteilung, dem man im Zweifelsfall immer das teuere Garnröllchen abnehmen würde.

Ebenso quillt das Buch kenntnisreich von satirischem Sprachschaum über. Bei der Suche nach einem Logo der neuen Soul Management Group AG drängen sich prompt die verabscheuten Weidenkörbe auf, die die Herren im Therapiealltag flechten müssen. Stilisiert sei der Flechtkorb Inbegriff der Dreieinigkeit von Professionalität, Kreativität und Nachhaltigkeit und dies in einer modernen Dreidimensionalität. Er sei ein plakatives, emotionalisierendes Logo, das unweigerlich das heimelige Gefühl des Gutaufgehobenseins auslöst.

Seit Jahren warten wir auf ein Werk, das nicht nur einen ernstzunehmenden aktuellen Hintergrund in Zeiten der globalen Finanzdesaster hat, sondern welches uns auch so nachhaltig amüsieren und begeistern kann. Großartig. Note: 1 (ur)<<