Der Lärm der Zeit – Julian Barnes

Kiepenheuer & Witsch 2017    | 245 Seiten.

>>In seinem Roman breitet Julian Barnes vor den stalinistischen Fallgittern der Nachkriegszeit das Seelenleben des renommierten Komponisten Dmitri Schostakowitsch aus. Vier Jahrzehnte nach dessen Tod überlagert der Autor authentische Details des Musikerlebens und der kommunistischen Gewaltherrschaft mit Innenansichten der gespaltenen Psyche des Vorzeigekünstlers. Von der diktatorischen Willkür wechselnd gefeiert oder verdammt, bereichert oder verurteilt der Sozialist Schostakowitsch gleichermaßen die entartete Sowjetherrschaft. Herrschaftssystem und Schostakowitsch wirken wie ungleiche Spiegelbilder, die in einer unsäglichen Symbiose den Eigennutz zu vergrößern trachten. Schostakowitsch sucht die große Bühne, verzehrt sich nach öffentlichem Beifall, pflegt wo nötig die Nähe zur Machtelite. Im gleichen Atemzug ist er angewidert von der Kulturlosigkeit ihrer Vertreter und verurteilt im Stillen ihre Willkür und Gewaltorgien.

Das politische System mit seinem absolutistischen Personenkult um Stalin andererseits ist durchdrungen von der allgegenwärtigen Angst des Machtverlustes. In der Folge wird auch Schostakowitsch, der phasenweise als russischer Beethoven inszeniert wird, wiederholt Opfer administrativer Anfeindungen.  Schaffenskrisen, Todesängste und Freitodsehnsüchte sind seine wiederkehrenden Begleiter. Die Ambivalenz von System und Individuum und ihre wechselseitige Beziehung beleuchtet der übergeordnete Erzähler im Roman bis zum Schluss. Dabei schlüpft er in das Über-Ich des Komponisten, woraus eine polarisierte Sichtweise entspringt. Die Folge ist ein stilles Verständnis für die Fehler des Protagonisten, nicht aber für das politische System und seine Missbräuche.

Schon im ersten Kapitel wird uns Schostakowitsch in einer bizarren Angstsituation vorgestellt. Er verbringt mit gepacktem Koffer die Nächte vor dem Fahrstuhl seines Mietshauses. In der vermeintlichen Gewissheit, dass auch er von der Geheimpolizei abgeholt werden wird, will er seiner Familie den Anblick seiner Verhaftung ersparen. Zwar wird er wiederholt wegen musikalischer Abweichlertendenzen vorgeladen, doch wird er nie inhaftiert werden. Aber woher soll er das wissen? Zu viele Verwandte und Prominente sind lautlos oder lauthals verschwunden, gebrandmarkt, auf den Zensurindex gesetzt, in die Verbannung geschickt und jämmerlich zugrunde gerichtet worden. Seine Ängste steigern sich ins Unerträgliche.

Barnes zeichnet Schostakowitsch als kränklichen Zeitgenossen, dem alle 12 Jahre eine historische Katastrophe widerfährt. So missfällt Stalin eine zunächst hymnisch gefeierte, russifizierte Neuinterpretation von Shakespeare. Die Oper Lady Macbeth von Mzensk wird als linksabweichlerische Entartung entlarvt, in der es lediglich grunzt, quakt und quiekt. Ämterenthebungen, Auftrittsverbote und Zwangsschulungen sollen fortan Schostakowitsch auf den rechten Hörpfad des Proletariats führen, welches nur reine, klare Musikbilder verstehe. Schostakowitsch gehorcht. Rehabilitiert wird er Jahre später in die USA zu einem Friedenskongress zwangsentsandt. Als sozialistischer Vorzeigekünstler soll er nicht nur das stalinistische Gesellschaftssystem zelebrieren, sondern auch emigrierte Künstlerkollegen diffamieren. Schostakowitsch gehorcht erneut. Der öffentliche Verrat, welchen Presse und Propaganda multiplizieren, endet in einer weiteren Sinnkrise. Eine besonders schmerzhafte Wiederholung dieses Prozesses vollzieht der Komponist unter Chruschtschow 1960. Auf höchst instanzliche Anweisung verleugnet er den überaus geschätzten Literaten Solschenizyn. In ein Schaltjahr fällt auch sein zunächst verweigerter Eintritt in die verhasste Partei. Er gehorcht – und leidet. Barnes spaltet Schostakowitsch in eine Persönlichkeit, die ihren Mut in die Musik und ihre Feigheit in das Leben steckt (S.210).

Das Prinzip Feigheit versus Aufrichtigkeit wird letztlich als endogener Zug im Wesen dieses Komponisten dargestellt. Schon die drei sich anbahnenden Ehen werden anfänglich der strengen Mutter und später der Öffentlichkeit gegenüber verheimlicht. Welche Bedeutung weibliche Stärke andererseits für den schwachen Mann spielt, lässt sich an den Schmerzen erahnen, die dem Musiker nach dem Tod der Mutter und seiner ersten krebskranken Ehefrau Nikita zugeschrieben werden. Selbst die gleichzeitige Liebe der lebenshungrigen Gattin zu einem renommierten Physiker kann diese Anhänglichkeit nicht schmälern. In den ersten Lebensjahrzehnten regiert betäubendes Getöse um Schostakowitsch, während er sich in seine Musik flüchtet. Eine Musik, die er für sich und auch als Auftragsarbeit zur Lobpreisung des Systems komponiert. Zum Lebensende hin macht der Lärm der Zeit ihn taub – nach innen und nach außen.

In gewisser Weise zeichnet Barnes Schostakowitsch weich, indem er ihn schuldig werden lässt und gleichzeitig freispricht, weil er bereut und schuldbewusst leidet. Erstaunlich, dass dieser wertende Eindruck erhalten bleibt, obwohl der Musiker als notorischer Täter bis zu seinem Lebensende dem Verrat treu bleibt – dem Autor folgend ohne Schuld mit Sühne.

Eingestreut führt Barnes in zahlreichen Szenen die Absurditäten des diktatorischen Alltags vor. Gelungen die Darstellung als Schostakowitsch nach der misslungenen Operninszenierung in kafkaesker Willkür wiederholt vorgeladen wird, bis schließlich sein Aufpasser selbst Opfer des Systems wird. Begierig frisst das Regime seine treuesten Protagonisten. Bizarre Absurditäten werden ins Unendliche perpetuiert. Theolinguisten bereinigen unermüdlich die Sprache: Begriffe, Namen, Interpretationen werden ausradiert und wenig später mit göttlichem Wahrheitsanspruch wieder eingeführt. Glänzend wiedergegeben auch die Wirkkraft der verwendeten Mittel, sei es Gewalt, Druck durch ritualisierte Drohgebärden oder durchdringend freundliche und penetrante Sachgespräche, mit denen Schostakowitsch schließlich zum Parteimitglied gedungen wird. Sehr nachvollziehbar.

Zusammenfassend ist Barnes ein gutes Stück Arbeit zu einem Themenkomplex gelungen, von dem man meinen könnte, dass der Komplex auf Grund seiner Popularität bereits erschöpfend abgehandelt sei. Lesenswert. Note: 2 (ur)  <<

 

>> Ein Mann wartet nachts auf seine Verhaftung. Mit gepacktem Koffer steht er vor seiner Wohnungstür. Er möchte vermeiden, dass Frau und Tochter durch die Geheimpolizisten des NKWD aufgeschreckt werden. Eine fürchterliche Vorstellung. Für den russischen Komponisten Schostakowitsch war sie real. Warum? Seine Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ gefiel Musikfreund Stalin nicht. Die Blechbläser zu laut. Deswegen verließ er mit den Obergenossen die Regierungsloge. Frau Merkel besuchte am 4. August des Jahres selbige Oper bei den Salzburger Festspielen. Ihr scheint das Werk gefallen zu haben. Und wenn nicht, hätte sie keinen Verriss („Chaos statt Musik“) geschrieben. Mit diesem Prawda-Artikel begann im Januar 1936 die erste stalinistische Kultursäuberung.

„Der Lärm der Zeit“ ist der Titel des Romans. „Lohn der Angst: Fall und Aufstieg des Komponisten S.“ wäre vielleicht zu lang, könnte aber ganz gut passen. Schostakowitsch passt sich widerwillig an, unterschreibt Briefe gegen Sacharow und Solzenyschin. So kommt  er in den Genuss von Privilegien, die Diktaturen loyalen Künstlern bieten (hier: Datscha, Auto, Reisen und so fort). Er tut dies ohne Begeisterung, mehr oder weniger gezwungen. Eine Reise nach New York wird ihm förmlich aufgedrängt. An vielen Stellen wird die zerrissene Seele des Komponisten spür- und sichtbar. Der Staat möchte einen „optimistischen Schostakowitsch“, aber dazu ist er zu introvertiert. Seine Liebe für extrovertierte Frauen macht ihn sympathisch.

Außerordentlich gut gelungen finde ich die Dialogszenen. So beim Verhör durch die Geheimpolizei und beim „Dialog“ in dessen Verlauf der widerstrebende Künstler zum Parteieintritt „überredet“ wird. Seine Picasso-Kritik („Feigling und Schweinehund“) überrascht auf den ersten, weniger auf den zweiten Blick („Wie leicht es  war, Kommunist zu sein, wenn man nicht im Kommunismus lebte!“ Seite 176).

Auch die  „westlichen Humanitätsapostel“ (André Malraux, Shaw, Feuchtwanger usw.), die die Sowjetunion für ein Paradies hielten, bekommen ihr Fett ab. Manche Sätze wollen mehrmals gelesen werden: „Wer wusste schon, was die Zukunft glauben würde? Wir erwarten zu viel von der Zukunft – in der Hoffnung, sie werde sich mit der Gegenwart streiten“. (Seite 67)

Diese beiden Sätze verstehe ich trotz der aufopfernden exegetischen Bemühungen meiner drei genialen Lesefreunde immer noch nicht so ganz. Der Autor hat eine beeindruckende Recherchearbeit geleistet. Ist es zu viel des Guten, wenn dabei auch die Zigarettenmarken und Autotypen der damals führenden sowjetischen Komponisten aufgelistet werden? Der Roman beginnt und endet mit eine Szene auf einem Bahnhof in der russischen Steppe. Schostakowitsch und sein Begleiter stoßen mit einem Bettler an. Diese Klammer wirkt auf mich etwas konstruiert. Note: 2/3 (ax) <<

 

>> Dieser Roman erzählt die Geschichte eines musikalischen Genies unter den Bedingungen stalinistischer und nachstalinistischer Kulturpolitik. Dort, wo der Künstler zum „Ingenieur der menschlichen Seele“ reduziert wird, die Kunst vermeintlich dem Volk zu dienen hat, in Wahrheit der Parteiideologie, dort, wo das Stalinverdikt aus Schostakowitschs  Macbeth-Oper in einem Prawda-Leitartikelverriss „Chaos statt Musik“ macht, dort wird die Luft kreativer Entfaltung von Kunst dünn. Als Schostakowitsch gar der Teilnahme an einem Mordkomplotts von Generälen  gegen „die Macht“ verdächtigt wird, scheint sein Schicksal besiegelt – in der bedrückenden Fahrstuhlepisode wird die Tragik des Musikers verdichtet.  Möglichem Lageraufenthalt oder gar der Hinrichtung entkommen, beginnt Schostakowitschs eigentliches Martyrium, das ihn lebenslang begleitet. Anders als etwa Prokofjew oder Strawinsky, die das Exil  als Zuflucht (und  Karriere) wählen, bleibt Schostakowitsch vor allem der Familie wegen in der Heimat. Hin- und hergerissen zwischen Aufführungsverbot, notwendiger Anpassung, propagandistischer Vereinnahmung (Redediktat in New York), subtilen Widerstandsformen der Ironie und des Sarkasmus (Stalin Telefonat, Stalin-Brief) vertraut Schostakowitsch der „Geheimsprache der Musik“, wie sie glänzend in einem knappen Dialog zwischen dem Instrument „Der Macht“ und „Bürger zweite Oboe“  zum Ausdruck kommt. Ob diese Botschaft der Musik allerdings die Ohren des Publikums erreichte oder diese Sklavensprache taubstumm blieb, mögen Musikexperten beurteilen. Überzeugender ist der Kampf gegen die Macht (Stalin, Chruschtschow etc.) wie er etwa im Schutz- und Possenspiel mit dem Genossen Trochin zum Ausdruck kommt. Ein Musterbeispiel, wie staatlich verordnete Umerziehung scheitern muss. Diskutabel  bleibt in diesem Künstlerroman, ob denn der Weg der „moralischen Korruption“ oder des „Prinzips Feigheit“ (Das Prinzip der Feigheit war das Einzige, dem er ein Leben lang treu geblieben ist) in einem repressiven Staat alternativlos war, zumal für einen besessenen Künstler, der von der Aufführung seiner Werke lebt . Die Unterschrift unter den Solschenizyn -und Sacharow-Brief jedenfalls war ein Tiefpunkt. Der private Solschenizyn gewinnt vor allem in den Frauenbeziehungen (wunderbar Tanja in Anapa, liebevoll –tragisch Nina, ich hätte die Beziehung mit A. nicht ausgehalten!!,  die 27järige Irina, da gab‘s neben Häuslichkeit und Musik sicherlich noch was), aber auch in dem allzu Menschlichen: Schostakowitsch als Fußballfan, Schostakowitschs Sehnsucht nach einem Mercedes, der Volleyball-Schiedsrichter und sein stiller Triumph über die Macht in Gestalt des KGB-Chefs Serow.

Ich jedenfalls habe in diesem Roman viel erfahren über die Sprache der  Musik, über eine musikalische Künstlerexistenz und die Mechanismen totalitärer Macht, von einem unaufgeregten Erzähler, der dem Leser den Spielraum lässt, der notwendig ist, um aus der heutigen Beschaulichkeit das Leben im „Lärm der Zeit“ zu beurteilen. Note:1– (ai) <<

>> Als Dimitri Schostakowitsch am 26.01. 1936 den „Befehl“ erhielt,  einer Aufführung seiner Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ beizuwohnen, bei der auch die obersten Führer des Landes bis hin zu Stalin persönlich zugegen waren, war er schon 10 Jahre lang ein berühmter Komponist in der Sowjetunion. Zwei Tage später liest er in der Prawda eine vernichtende Kritik der Aufführung mit der Überschrift „ Chaos statt Musik“, in dem von „Gequake, Geknurre und Gekreische“ die Rede ist. Die ganze Oper sei „linksabweichlerisch“ und eine Abkehr von der wahren Kunst. Es ging das Gerücht, Stalin höchstselbst habe die Kritik geschrieben, wofür auch die zahlreichen, nicht korrigierten Rechtschreibfehler in dem Artikel als Beleg herangezogen wurden, da man Stalin selbstverständlich nicht korrigieren dürfe. Schostakowitsch rechnet nun jeden Tag mit seiner Verhaftung und wartet, um seiner Familie den fürchterlichen Augenblick der Verhaftung zu ersparen, mit gepacktem Koffer schon am Aufzug auf die Schergen Stalins. Eine der bewegendsten Szenen in einem klugen und erhellenden Roman über die schrecklichen Bedingungen für Künstler und Intellektuelle in einem totalitären System, das nichts weniger als den neuen , besseren Sowjetmenschen schaffen will und sich dabei der grausamsten Methoden und massenhafter Schauprozesse und Massenhinrichtungen bedient. Ein Buch über Anpassung, Feigheit und Überlebenswillen in einem unmenschlichen System.

Zu Recht wird auch die Frage gestellt, warum so manch berühmte Künstler im Westen, wie etwa Picasso, der die Schrecken des Regimes niemals am eigenen Leib habe erdulden müssen, zeitlebens der Sowjetunion zugejubelt habe. Ein Gedicht von Jewtuschenko über Gewissen und Standhaftigkeit spendet ihm Trost und stellt ihn gleichzeitig in Frage:

Ein gelehrter Mann zu Galileos Zeit
Wusste wie Galileo Bescheid:
Die Erde dreht sich, ganz bestimmt.
Jedoch er hatte Weib und Kind.

Note: 1/2 (ün) <<