Auerhaus – Bov Bjerg

K1024_AuerhausBlumenbar 2015 |  236 Seiten .

>>Ein wunderbares Buch über das Erwachsen-werden von sechs Jugendlichen in einer Land-WG der achtziger Jahre. Wann lacht man schon mal laut auf beim Lesen: Beim Auerhaus geht es fast jedem so. Großartiger sprachlicher Witz ist gepaart mit melancholischen Passagen, in denen die seelischen Abgründe des suizidgefährdeten Frieder nur kurz und unaufdringlich angedeutet werden. Schule, Abi, Musterung, Gewissensprüfung, verwegene Gestalten bei wilden Partys mit billigem griechischem Tankstellenwein: der anarchische Sound der achtziger Jahre begleitet den Leser bei der Betrachtung einer tiefen Freundschaft zwischen dem Ich – Erzähler und Frieder, mit dem er nächtelang buchstäblich um dessen Leben redet. Im überaus gelungenen Schlusskapitel meldet sich die längst in die USA abgewanderte Cäcilia wieder und es wird deutlich, wie bedeutsam die Zeit im Auerhaus für alle war.
Vom Plot her erinnert manches an Sven Regeners 2004 erschienenen WG- Roman „Neue Vahr Süd“, einen Vorläufer seines großen Erfolgs „Herr Lehmann“. Das tut dem Lesevergnügen aber keinerlei Abbruch. Note: 1– (ün)<<

>> Im „Auerhaus“ wohnt eine Schüler-WG, die versucht, einen zweiten Suizidversuch ihres Mitschülers Frieder zu verhindern. Das ist in etwa der rote Auerhaus-Faden. Die Sorgen und Nöte der heterogenen Sechsergruppe wirken anrührend und nachvollziehbar. Manchmal liegen die Nerven offen, Grenzsituationen. Es ist die Zeit der Netzhemden, die Zeit des Übergangs von der dezentralen zur zentralen Autoverriegelung. Vom Dorf aus sieht man auf Schwäbische Alb, die blaue Mauer, wie Bov Bjerg frei nach Mörike schreibt. Das Lebensgefühl von Jugendlichen zu schildern, denen alles offen, unendlich und fast alles möglich erscheint, gelingt dem Autor so gut, dass beim reiferen Leser nostalgische Gefühle geweckt werden. Die Schulszenen geraten manchmal zu Karikaturen, überraschen dann aber wieder durch Realitätsnähe („Kommt das dran?“). Warum so viel geklaut wird („umsonst bekommen“ im Friederdeutsch) bleibt etwas im Dunkeln. Eine großangelegte Hausdurchsuchung, satirisch erzählt, beschleunigt das Ende der WG. Am Ende wohnen wir Frieders Beerdigung bei. Frieder, der antiheldische Bär, tot.

Die Sprache erinnert oft an ein Drehbuch (Er sagte Doppelpunkt, ich sagte Doppelpunkt). Eine Verfilmung ist gut vorstellbar. Schlichte Sätze wie „Draußen regnet es wie Sau“ wechseln mit lyrischen Perlen:“ Es wuchs und streckte sich, dann duckte es sich wieder.“ Die Einteilung in kurze Kapitel machen das Buch gut lesbar. Und es ist auch viel viel besser als der seichig klingende Song „Our house“ der Gruppe „Madness“, der dem Buch indirekt den Namen gab. Note: 1– (ax).<<

>> Ein wunderbares Buch über Freundschaft, das die Balance zwischen Heiterkeit und Traurigkeit an keiner Stelle verliert. Was sich um das Zentrum  des Ich-Erzählers Höppner und Frieder Wittlinger in der Schüler-WG „Auerhaus“ ereignet, vergnügt und berührt zugleich. Die Erzählchronologie z.T. raffiniert durchbrochen, für das Verständnis der Frieder-Figur Entscheidendes wie etwa die Axt oder das Zimmer ohne Fenster nur angedeutet, prosaisch schlicht den Lebenslauf „Birth, school, work, death“ in Frage gestellt: „Hätte man sie vor einer Klausur gefragt:“Wozu lebst du eigentlich?“ hätten sie geantwortet: „Das kommt nicht dran, das müssen wir nicht wissen“, großartige Nebenfiguren wie den Zentralverriegelungsaxel oder die Musterungssatire – all das für mich ein Beleg für sehr gute Literatur, vor allem auch weil das Ende der Geschichte nicht zu verhindern war. Note: 1 (ai)<<

 

>> In einer modernen Ausgestaltung belebt Bjerg in Auerhaus die Bremer Stadtmusikanten wieder. Der Roman inszeniert das Märchen als anrührige Episode auf einer persönlichkeits- und sozialpsychologischen Bühne. Bei den Grimmschen Brüdern waren es abgehalfterte Senioren in Gestalt von Vierbeinern und einem dem Kochtoch geweihten Hahn. Sie waren an Leib und Leben bedroht. Zufällig trafen sie aufeinander, zufällig fanden sie ein gemeinsames Projekt. Das Haus im Wald – durch List von moralisch Gesichtslosen erkämpft – wurde zu ihrem neuen Lebensinhalt. Bjerg folgt dem Grundmuster mit ganz eigenen Nuancen.

Bjergs Senioren sind Junioren: angeschlagene Abiturienten, Auszubildende, und Entgleiste. Mit von der Partie sind die Schüler Höppner Hühnerknecht, Vera, Cäcilia und Frieder, der Elektrolehrling Harry, sowie die Psychopathin Pauline. Bjerg verhüllt seine jugendlichen Protagonisten mit unterschiedlichen Grauschleiern. Der sanfte Ich-Erzähler Höppner leidet unter F2M2, dem „Fiesen Freund Meiner Mutter“, der in sein Kinderzimmer einzieht und sein Privatleben nicht nur durch das Tieferhängen der Zimmerdecken einengt. Sein hochintelligenter Freund Frieder unternimmt erfolglose und schließlich einen erfolgreichen Selbstmordversuch. Die Mädels Vera und Cäcilia fühlen sich bei der Ich-Werdung im familiären Gravitationsfeld erdrückt. Die wunderschöne Pauline wechselt am Ende von der Psychiatrie in die Haft, nachdem ihre wiederholte Brandstiftung Menschenleben kostet. Harry wird von Prügeln gezeichnet nicht nur wegen seines homosexuellen Coming-out, sondern auch wegen misslungener Drogengeschäfte. Sechs statt vier Leidende, die bedingt zufällig in einem Haus mit einem gedeckten Tisch das Leben neu entdecken.

Der Zündfunke für das gemeinsame Feuer ist der erste, unverstandene Selbstmordversuch von Frieder. Mit Betroffenheit und in stiller Kameradschaft gruppieren sich die Freunde um den Lebensmüden. Auch er kann seinen Suizidwunsch nicht wirklich begründen. Weil das heruntergekommene Haus seines verstorbenen Großvaters leer steht, und weil eine therapeutische Wohngemeinschaft ein Ausweg aus Frieders belastendem Familienalltag sein könnte, ziehen die Schüler gemeinsam um und ein. Das Haus, für das es weder real noch symbolisch einen Schlüssel gibt, wird der Rahmen für die schönste Zeit im kurzen Leben von Frieder sein. Durch die offene Tür wird ein Sturmwind symphatischer Empathie und vitalisierender Ideen vom Hier und Heute wehen.

            Die Nachbarn reagieren überrascht. Missverständnisse wirken identitätsstiftend. Der Bauer von nebenan wiederholt den im Kassettenrecorder gurgelnden Song Our House: Auerhaus wie Auerochse, womit das Projekt seinen Namen erhält. Auerhaus wird zum Symbol. Höppners Mutter überrascht immer wieder mit Paletten von Lebensmitteln, deren Haltbarkeit unwesentlich überschritten ist. Lehrer gewähren den Therapiebedürftigen nicht gekannte Freiräume. Der Dorfpolizist erteilt Frieder wegen Diebstahls Hausverbot im ortseigenen Supermarkt, sieht aber von einer Anzeige ab. Silvester scheint sich die halbe Welt im Auerhaus einzufinden. Transvestiten tanzen mit den Ehefrauen der Nachbarschaft auf der Straße, Junkies rasen mit den Kindern über den Kirchplatz.

            Das Leben ist stark, auch wenn es immer wieder schwach macht. Zum Beispiel in der Liebe. Höppner versucht Lebensweisheiten zu verinnerlichen als sich seine Vera mit der Jumbopackung Kondome und dem schwulen Harry in intimer Zweisamkeit einschließt. Zur Beruhigung seiner Eifersucht proklamiert sie: Liebe ist kein Kuchen, der kleiner wird, wenn man ihn teilt. Doch das Herz fällt über den Kopf her. Höppner ist bereit für den Kältetod und zieht sich mit einer Flasche Wodka in den Winterwald zurück. Diesmal ist es Frieder, der den Freund rettet und in die beheizte Küche zurückführt. Auerhaus ist Ourlife und stiftet Leben. Mal hin und mal zurück.

            Überhaupt durchdringt Frieder das Auerhaus-Dasein mit starkem Leben. Mit unglaublicher Lebensfreude sägt er den dörflichen Weihnachtsbaum ab, was ihm von den städtischen Mitarbeitern bis über seinen Tod hinaus nicht verziehen wird. Mit kühner Gelassenheit perfektioniert er das Stehlen als günstigere Variante des Einkaufens. Seine amüsanten Küchen-Lehrstunden machen die Mitkommunarden zu Gelehrten der Kostenlosigkeit. Frieder wird zum Thomas Gottschalk der Silvestershow. Frieder kennt jeden, Frieder ist für jeden da.

            Doch die Höhenflüge entziehen ihm auch den Boden unter den Füßen. Als sie nachts mit dem Wagen unterwegs sind, hält er Polizisten unvermittelt eine Pistolenattrappe ins Gesicht. Fast wären sie erschossen worden. Plötzlich hängt auch Höppner Hühnerknecht ganz unvermittelt am Leben und fällt über den Leben gefährdenden Freund her. Frieder bleibt von einer unbändigen Todessehnsucht durchdrungen. Doch auch als er Monate später tot in seinem Lehrlingszimmer gefunden wird, bleibt das Geheimnis seines Antriebs unverstanden.

            Es überrascht, wie der Autor trotz des fast durchgängigen Scheiterns seiner Protagonisten ein ebenso heiteres wie ergreifendes Leseerlebnis schafft. Großartig die Abiturerörterung: Höppners Geschwafel, dass ein Flugsimulator für Goethes Werther durchaus eine angstfreie Möglichkeit darstellen könne, den Selbstmord aus Liebeskummer erst einmal unverbindlich zu simulieren. Grandios die Polizeirazzia im Auerhaus. Neben versteckten Drogen wird ihr Küchenposter zum Anstoß des gesetzlichen Regelwerkes. Es war einmal das offizielle Amtsplakat aus dem Rathaus. Die Terroristenfotos sind inzwischen überklebt mit dem durchgestrichenen Konterfei toter Politiker und Wohngemeinschaftsfotos von denen, die den Abwasch vernachlässigen. Der anwesende Staatsanwalt addiert knochentrocken die vermeintlichen Straftaten: Diebstahl nach §242, §90a Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole, §267 Urkundenfälschung, §189 Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, §129a Werbung für eine terroristische Vereinigung. Später wird das höchstrichterliche Strafmaß auf tagelanges Kartoffelschälen im Keller des ortsansässigen Altenheims festgesetzt. Rührend auch der spektakuläre Diebstahl von Höppners Musterungsakte durch Frieder, um ihm den verhassten Wehrdienst zu ersparen. Leider wird die Akte in ihrem Tiefkühlfach bei der Razzia gefunden. Es sollte ein Beitrag sein, den Kalten Krieg zu entschärfen.

Auch wenn am Ende des Romans das Scheitern die Oberhand behält, ist der empfundene Lesezustand märchenhaft. Untergründig meint man, es mit dem guten Hier und Heute der Bremer Stadtmusikanten zu tun zu haben.  Note: 2+ (ur)<<