Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins – Milan Kundera

Buchtitel Carl Hanser Verlag, 1984  |    301 Seiten

>>Ja,  Kunderas Roman  „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ hat seinen Zauber verloren, den er bei meiner ersten Begegnung in den 80ern noch ausgeübt hat. Vielleicht war es dem Zeitgeist geschuldet:  Prager Frühling, russische Okkupation, Liebe und freie Sexualität unter politischen Wirren, Widerstand und Unterwerfung, dazu eine bedeutungsschwangere Metaebene philosophischer, psychologischer, sprachkritischer Reflexionen, ein postmoderner Autor -der Buchmarkt euphorisch.  Heute liest es sich schlichter: ein Prager Chirurg und Erotomane  von der Serviererin Teresa (Kurzkarriere als Starfotografin in Sachen russ. Okkupation) trotz Dauerseitensprünge bedingungslos geliebt, ein  durch „20 Jahre verdummende Monogamie“ geschädigter Genfer Professor, der sich zunächst durch die Künstlerin Sabrina, später durch die Studentin mit großer Brille von seinem Mutterkomplex abarbeitet.  Das Vierer-Beziehungsgefüge ist selbstverständlich eingebettet ins Politische. Eine Leserbriefkritik an der russ. Besetzung besiegelt Tomas Absturz vom Chefarzttraum zum Fensterputzer , libidinös etwas entschädigt durch fast 200 weibliche Kunden (die Kernseife immer im Handgepäck). Franz politisches Engagement zielt eher auf die Befreiung der Völker der Welt und findet in einem Friedensmarsch von berühmten Wissenschaftlern und Künstlern nach Kambodscha bei Kundera einen doppelten realsatirischen Höhepunkt. Wird der Demonstrationszug selbst schon zur Posse über alle großen Märsche, endet der Frieden für Franz vor einem Bangkoker Hotel ernüchternd. Niedergestreckt durch „etwas Schweres“ (s. Parmenides ‚das Leichte und das Schwere‘) stirbt Franz in einem Genfer Krankenhaus. Die Grenzen des Kitsches, dem Kundera manch vermeintlich Tiefsinniges widmet, deutlich sprengend, verabschieden sich die beiden Männerfiguren aus dem Roman  mit ihrem fast gleichzeitigen Tod  mit  der Botschaft zweier  pathetischer Grabinschriften, deren eine „Er wollte das Reich Gottes auf Erden“ weder Tomas, noch deren andere „Rückkehr nach langem Irrweg“ Franz gerecht wird. Sind es hier eher religiöse Überhöhungen so wartet Kundera mit ganz anderen Höhenflügen von Beginn an auf.  . Nichts bleibt dem Leser  ob der Wissensmacht des Autors Kundera erspart. Der „Mythos der ewigen Wiederkehr“, Parmenides Gegensatz-Lehre, der Ödipus-Komplex, Dualität von Körfper und Seele, Beethovens “es muss sein“, Platons Gastmahl, Sophokles Tragödien,  Nietzsche und Descartes, Pseudopsychologisches und dubiose Kategorienlehren (der epische und der lyrische Frauenheld), Genesis- Exegese fast alles aus der abendländischen Geistesgeschichte wird bemüht um der Handlung Tiefgang zu geben, ja selbst der Hund Teresas tuts nicht unter „Karenin“ , das dressierte Schwein des Genossenschaftsvorsitzenden nicht unter „Mephisto“.
Was mich als heutigen Leser aber vor allem stört, ist Kunderas wiederkehrender Vereinnahmungsduktus: „Für uns besteht die Größe des Menschen darin..“- „Wir würden sagen…“ „Wir alle wissen…“ etc.
Nein – bitte lass mich als Leser aus dem Spiel, denken will ich selbst.
Note: 4 (ai) <<

>>„Über eine Million Exemplare“, das macht schon mal neugierig. Plus Verfilmung. Plus ein Titel mit  bedeutungsschweren Begriffen wie „Leichtigkeit“ und „Sein“. Ein Roman in sieben Teilen. Der erste und auch der fünfte Teil lauten: „Das Leichte und das Schwere“.
Die verschlungene Liebesgeschichte zwischen Tomas und Teresa wird bei Wikipedia ordentlich nacherzählt. Da kann ich es mir leichtmachen.
Der sowjetische Einmarsch in die Tschechoslowakei liegt lange zurück, aber bei der Lektüre werden die bewegenden Bilder von damals wieder wach. Tschechen, die auf sowjetische Panzer gestiegen sind, der Protest in den Straßen Prags.
Im letzten Teil („Das Lächeln Karenins“) beschreibt Kundera das Sterben des Hundes Karenin. Sehr berührend. Weniger berührten mich die zahlreichen Schilderungen erotischer und sexueller Begegnungen, da sie oft etwas bemüht wirken. Die Freude am Lesen wird auch durch die Überfrachtung mit philosophischen Einschüben (ich sag nur Nietzsche) getrübt. Nun ja, ich weiß jetzt wenigstens wer Parmenides ist.
Manche der Sätze kann man sich langsam auf der Zunge zergehen lassen und versteht sie dann immer noch nicht. Zum Beispiel: „Die Quelle des Kitsches ist das kategorische Einverständnis mit dem Sein.“ (Seite 245). Die Phrasendreschmaschine wurde doch erst nach 1984 erfunden. Auch die Parodie auf den Aktionismus naiver Linker bei einem Protestmarsch in Kambodscha („Der Große Marsch“) kann nicht überzeugen. Der Zeitredakteur Thomas E.Schmidt las das Buch nach 28 Jahren wieder und konnte sich nicht mehr erklären, warum das Buch damals so erfolgreich war  (DIE ZEIT vom 9.August 2012). Es muss 1984 die Leser/innen-Erwartungen in einer Weise erfüllt haben, die heute nicht mehr nachvollziehbar ist.

2017 wirkt es eher wie die „Seichtigkeit des unerträglichen Seins“ (Zitat eines reputierten lokalen Literaturkritikers, der anonym bleiben möchte).
Note: 3/4 (ax)<<

>> Kunderas Roman vereint beliebtes Treibgut zeitgenössicher Strömungen: genitaler Freiraum und unumstößliche Liebe, ungebändigte Eifersucht, Ich-Findung und –Verlust, gesellschaftliche Utopie und politische Unterdrückung, Prager Frühling und sowjetischer Herbst, Exil und Heimatlosigkeit, urbane Bohème und ländliche Monotonie. Für den Zeitgeist der Achtzigerjahre wird eine respektable Vielfalt geboten. Dies gilt insbesondere, da nicht nur die Vorwärtsentwicklungen in der sexuellen und sozialistischen Befreiung aufgegriffen werden, sondern auch Rückwärtswellen durch das Romanbild fluten, wenn allzu menschliche Abgründe hehre Absichten zu Fall bringen. Leichtigkeit und Schwere des Seins und Nicht-Seins verdichten sich zur Unerträglichkeit.

            Über große Strecken des Romanweges folgt das Scheinwerferlicht dem talentierten Chirurgen Tomas und seiner Lebensgefährtin Teresa. Teresa tritt unvermittelt in Tomas´ sexuell ambitioniertes Leben. Der erklärte Junggeselle fühlt sich magisch an die schlichte Teresa gebunden, deren aufrichtige Zuwendung schwersten Angriffen ihrer eigenen Eifersucht ausgesetzt ist. Gründe für Eifersucht liefert der hypersexuelle Chirurg Nacht für Nacht, wenn er auf Teresas Kopfkissen den Schoß-Duft einer anderen verbreitet. Verzweifelt versucht sie ihre Eifersucht zu bändigen. Nicht-enden wollende Todesvisionen als Strafen ihrer vermeintlichen Unbelehrbarkeit sind die Folge. Wenn sie in Albträumen nicht die Kraft aufbringt sich erschießen zu lassen, erstickt sie in Selbstvorwürfen, weil sie Tomas gegenüber versagt habe. Es folgt ein qualvolles Tag- und Nachtleben. Obwohl Tomas der libidinösen Sucht verfallen bleibt, belastet ihn Teresas Leid zutiefst. Aus Rührung ehelicht er sie und versucht mit dem Geschenk des Hundes Karenin ein emotionales Ersatzobjekt zu schaffen.

            Die Unterdrückungen, die der Prager Frühling nach sich zieht, treibt beide schon bald ins Schweizer Exil. Weil auch dort die emotionale Folter anhält, kehrt Teresa unvermittelt in die Heimat zurück. Tomas folgt ihr, wohlwissend, dass er politischer Verfolgung ausgesetzt sein wird. Er verliert seine Klinikanstellung, wird mit Berufsverbot belegt und verdient fortan seinen Lebensunterhalt als Fensterputzer. Der Eintritt in fremde Haushalte beschert ihm vor allem bedürftige Hausfrauen, die er mit hochfrequenter Emsigkeit befriedigt. 200 dürften es sein. Währenddessen flieht Teresa in sexuelle Gegen-Übungen mit einem anonymen Ingenieur. Der therapeutische Erfolg bleibt aus. Ruhe vor dem sexuellen Notstand und politischer Verfolgung kehrt für beide erst in der selbstgewählten ländlichen Verbannung ein. Kundera suggeriert, dass Teresa letztlich die sexuelle Domestizierung von Tomas gelingt.

            Bis zu ihrem gemeinsamen Verkehrstod im Kolchose-Laster verdingen sich Teresa und Tomas als bäuerliche Hilfsarbeiter. Wie auch bei anderen Protagonisten des Romans bleibt das reale Sterben eine Nebensächlichkeit und droht literarisch fast übersehen zu werden. Einzig dem durchdachten Gnadentod des krebskranken Hundes Karenin wird ein humanes Gewicht gegeben. Das tatsächliche Ableben der Hauptdarsteller dagegen ist dem Zufall geschuldet, folgt also keinem Konzept und trägt nicht zum Sein-Verständnis bei.

            Im Beziehungskosmos entwirft Kundera eine weitere Galaxie mit zwei Fixsternen: Franz und Sabina. Als komentenschweifartige Verbindung zum Zentralgestirn des Romans wählt der Autor eine pulsierende Liaison zwischen Sabina und Tomas. Sabina stellt den Gegenentwurf zu Teresa dar. Während Teresa der geordneten Monogamie anhängt, lebt Sabina die Unruhe ihres Künstlerdaseins auch in Betten aus. Auf ihrem Laken wird neben Tomas auch der Universitätsdozent Franz liegen, der seinerseits als Kontrapunkt angelegt ist. Im Gegensatz zu Tomas verkörpert er den beziehungsfesten, geradezu romantisierenden Partner, der sich von seiner aus Verlegenheit geheirateten Frau nur deshalb trennt, um sich ganz Sabina verschreiben zu können. Dass genau diese Stetigkeit ein absolutes No-go im Lebensverständnis von Sabina ist, bleibt ihm fatalerweise verborgen, bis sie sich ihm wortlos entzieht. Sie wird ein Leben lang unerfüllt durch Exilstationen irren. Exilstationen, die nicht nur geographischer, sondern auch seelischer Natur sind.

            Kundera begeht wiederholt Tabubrüche, indem er die Rolle des übergeordneten Erzählers verlässt und detaillierte Interpretationen einzelner Romanmomente einstreut. Auch wenn diesen Unterbrechungen lehrmeisterhafte Überheblichkeit innewohnt, so überrascht es andererseits, dass dem Leser dennoch Assoziationsspielraum bleibt, ohne den der Roman zum Sachbuch mutieren würde.

            Gelungen ist die blasphemische Kambodscha-Episode mit filmreifer Inszenierung politischer Eitelkeiten, als französische und amerikanische Aktivisten um die Erstautorenschaft einer Friedenskampagne keifen, und ein deutscher Liedermacher mit verhaltenem Stolz die Friedensfahne schwingt, nachdem sie durch Blutspritzer eines von Minen zerfetzten Reporters enorm an Authentizität gewonnen hat. Franz schließt sich mit großer Geste dem Marsch im Kriegsgebiet an, der jedoch ohne jede Bedeutung bleibt. Kundera persifliert gekonnt die Tragweite des Geschehens. Franz stirbt wenig später einen belanglosen Tod – nicht als engagierter Aktivist am Rande des Vietnamkriegs, sondern schlicht durch die Gemeinheit zweier Straßenräuber. So banal kann das Ende eines Lebens im Angesicht großer Weltpolitik sein.

            Gelungen sind auch die Innenansichten in das real-sozialistische System, in dem Denunziation, Machtmissbrauch und Destruktion sich gegenseitig befeuern. Bemüht wirken dagegen Kunderas Ausflüge auf philosophisches Terrain wie die Abschweifungen über Nietzsches Prinzip der ewigen Wiederkehr. Fast unvorbereitet wird man vom Schluss getroffen, der inhaltlich irgendwo im Laufe der Geschichte angesiedelt ist. Entsprechend verunsichert verlässt der geneigte Leser das literarische Sein auf der Suche nach Leichtigkeit.

Note: 3   (ur)<<

>> Es ist immer spannend, ein Werk im Abstand von 30 Jahren wieder zu lesen. Wie wird sich der Zuwachs an Erfahrung und Weltverständnis auf die Rezeption des Werkes auswirken? Tut sich ein neues Kosmos auf, der beim ersten Lesen noch verborgen war oder kann man sich nur noch wundern über die vormalige Begeisterung? Das überschwängliche Lob bei der Kritik, die Kundera mit der „ unerträglichen Leichtigkeit des Seins“ 1984 erfuhr, lässt sich aus dem Abstand von über 30 Jahren nur schwerlich nachvollziehen. Der kommerzielle Erfolg schon eher. Zu sehr passte die Figur des erotomanen Arztes Thomas in den Zeitgeist der 80-er Jahre. Er unterhält ein ausgeklügeltes System der freien Liebe (Stichwort „ 3 er Regel“) mit hunderten von Frauen, lebt aber in einer von wiederholten schmerzlichen Trennungen geprägten Beziehung mit der Krankenschwester Theresa, die er mal als Klotz am Bein, mal als emotionale Stütze empfindet. Und dann wird er auch noch zum stillen Helden, als er sich den Zumutungen des stalinistischen Systems seines Heimatlandes entzieht, und lieber als Fensterputzer in der Provinz arbeitet, als einen politischen Aufruf zu wiederrufen. Und die tapferen Tschechen hatten seit der Niederschlagung des Prager Frühlings sowieso einen satten Bonus unter den Intellektuellen des Westens.

Auf mich wirkt das jedoch heute reichlich eitel erzählt, aufdringlich und oberlehrerhaft. Die pseudophilosophischen Abhandlungen sind plump und verallgemeinernd. („Glück ist der Wunsch nach Wiederholung“) Der Vergleich mit dem Oberschwurbler Coelho kam mir manchmal in den Sinn, ist aber dann vielleicht doch zu hart. Dabei schreckt Kundera auch vor Banalitäten nicht zurück. Kostprobe: „Wer in der Fremde lebt, schreitet in einem leeren Raum hoch über dem Boden, ohne das Rettungsnetz, das einem das eigene Land bietet…“ Wer hätte das gedacht. Sein Schluss von Nietzsches „Ewiger Wiederkehr“, die jener als „Schwerstes Gewicht“ bezeichnet hat,  auf die herrliche Leichtigkeit des Lebens ist schlicht nicht nachvollziehbar.

Erzähltechnisch reizvoll sind die verschobenen Zeitachsen. Schon nach einem Drittel des Romans sterben die beiden Hauptfiguren Thomas und Theresa zum ersten Mal, und doch geht Ihre Geschichte in zahlreichen Rückblenden munter weiter. Auch die Passagen rund um regimekritische Leserbriefe, Auf- und Widerrufe und die raffinerten Versuche des Regimes, den Widerstand zu unterdrücken, sind gut gelungen.

Note: 3/4 (ün)