Kaffee und Zigaretten- Ferdinand von Schirach

Luchterhand 2019 | 191  Seiten.

>>Warum ist dieses Büchlein so erfolgreich? Diese Frage stand am Anfang und machte neugierig. Schirach ist einer der erfolgreichsten Schriftsteller dieser Tage. Der SPIEGEL urteilt: „Ferdinand von Schirach ist ein großartiger Erzähler“. Er ist ein gerngesehener Interviewgast, ein Meister der Anekdote, ein Antimacho, mit nachdenklichem, sanftem und abwägendem Auftritt. Inhaltlich allerdings häufig nicht weit weg von Plattitüden. „Es gibt ein einziges Kriterium in der Literatur: Berührt es mich oder nicht“. 
Angeblich zum ersten Mal erzählt von Schirach in Kaffee und Zigaretten von sich selbst. „Man muss wahrhaftig sein, sonst ist das nichts“ begründet er den Schritt zum Autobiographischen. Die erste und die letzte von insgesamt 48 Szenen – Geschichten kann man diese kaum nennen – fungieren quasi als Klammer und beleuchten jeweils eine sehr schwierige Phase in seinem Leben, beides Mal mit Selbstmordgedanken und in erzählerischer „er“ Perspektive. Einmal ganz explizit als 15-jähriger nach dem Tod seines Vaters und dann nochmals sehr viel später, als er einen Oldtimer in Süddeutschland kauft und vorhat, eine lange Reise durch das gerade zerfallende Europa zu machen. Die düsteren Gedanken, die ihn begleiten werden angedeutet durch Literaturzitate wie „Geh nicht gelassen durch die gute Nacht. Im Sterbebett sei doppelt zornentfacht“ oder durch Zeilen wie: „Er ist sich sicher, sein Leben vertan zu haben“ oder „Es gibt keine Pflicht zu leben, jeder scheitert auf seine eigene Weise.“. Nur eine Momentaufnahme von beobachtetem Glück rettet ihn. Diese beiden Szenen sind die besten des Buches. Sein schriftstellerisches Talent, in einfacher Prosa mit etwas distanzierter Beobachtungsgabe einfühlsam und sehr berührend zu schreiben, wird sichtbar.

Der Rest ist leider sehr enttäuschend und zum Teil auch etwas ärgerlich, oder „unangenehm“, um es mit einer Lieblingsvokabel Schirachs zu sagen. In einem Interview mit der Augsburger Allgemeinen sagte er, das erste und das letzte Kapitel müsse sein, um die anderen zu verstehen. Für mich erschließt sich das nicht, außer man liest einen etwas depressiven oder morbiden Grundton heraus. Ansonsten sind es kurze Skizzen, Anekdoten, Meldungen, Erinnerungen an Begegnungen, die allzu durchschaubar und häufig nach gleichem Muster gestrickt sind und manchmal allzu frisiert daherkommen. Nach der dritten unverhofften Begegnung mit einem alten Weggefährten nach 30 Jahren weiß man schon was kommt: Nichts Gutes. Note: 4 (ün)<<


>>Ein Strickmuster wird sichtbar. Ausgangspunkt zuweilen eine Zeitungsnotiz oder Nachricht, bevorzugt aber Begegnungen mit Mandanten oder ehemaligen Bekannten. „Ich“ weist auf authentisch, aber Verdacht auf einen Schuss Münchhausen. Thematik von banal bis letzte Fragen der Menschheit Schuld, Tod , warum sind wir wie wir sind. Auch Skurriles. Die Botschaft aller Beobachtungen : „Es ist immer der gleiche Mensch, dieser strahlende, verzweifelte, geschundene Mensch“. Meist eine „Überhöhung“, eine Sentenz, von Epiktet über Marc Aurel bis zum Haiku und Ringelnatz. Der Autor belesen, der Verlag ein guter Vermarkter. Was bleibt, ist der Reiz eines Lesers zur 49. Notiz von „Kaffee und Zigaretten“. Ein Read(y)made, also nach dem Lesen gemacht. Die Auflage ist klein, nur hier: ein-malig.

Neunundvierzig

Seit über 250 Wochen stehen sie da. Jeden Samstag, immer zwischen 11 und 12 Uhr. 8 Stufen hat die Stiftskirchentreppe. Die Kirche neugotisch unter dem Grafen Eberhard im Bart 1470 erbaut. Das Grab Mechthilds von der Pfalz im Chorraum beeindruckend. Eine ortbekannte Buchhandlung ein Gemüsestand, ein Optikergeschäft, in einem der Häuser ging Hermann Hesse zur Lehre,  Publikumsverkehr. Ein schlichtes Transparent, weißes Leintuch, handgeschrieben „Free Raif Badawi“. Männer und Frauen, stumm,  einige mit Plakaten. Ein saudi-arabischer Blogger vor 5 Jahren zu 1000 Peitschenhieben, 1o Jahren Haft und einer hohen Geldstrafe verurteilt. Sein Vergehen: Er forderte Meinungsfreiheit. Die Frau, erfahre ich, während ich auf Klaus einen alten Studienfreund warte, lebe in Canada, zunächst Asyl, jetzt mit den Kindern als Staatsbürgerin. Ich unterschreibe eine Unterschriftenliste. Was man inzwischen erreicht habe, frage ich. Man spricht davon, man lasse nicht locker, steter Tropfen höhle den Stein, stille Diplomatie,  Politik heiße mache Geschäfte vor Menschenrechten, der Mord an Kashoggi, auch dieses Verbrechen trage einen Namen Kronprinz Mohammed bin Salman.
Der Spaziergang mit Klaus führt hinaus in einen Biergarten in Halbhöhenlage, zwei Pfauenräder empfangen uns, unterhalb ein Erdbeerfeld, die Speisekarte deftig, am Nachbartisch  Disput über den fehlenden Salat. Der Abend wird lang man hat sich Jahre nicht gesehen und zurück zum Hotel ist die  Stiftskirchentreppe eine kleine Partymeile, mediterranes Flair, an der Ecke ein mittelmäßiger Saxophonist. Noch bevor ich im Hotelzimmer wie immer meine Emails lese, ich erwarte dringend nähere Informationen zu meiner nächsten Lesung in München, lässt mich die Vormittagsbegegnung mit dem Begriff Peitschenhieb nicht mehr los und nach Worterklärung und Etymologie bietet mein Handy folgende Seite. „Die besten Peitschen-Apps für iPhone und Android. Mit einer Peitschen-App macht ihr euer iOS- oder Android-Smartphone zu einer waschechten Peitsche – natürlich auch mit dem passenden Sound. Inzwischen gibt es einige der witzigen Apps, die einen Peitschenhieb simulieren. Welche soll man da nehmen? Wir haben uns den Appstore und den Google Play Store einmal genauer angeschaut und stellen euch hier die besten Peitschen-Apps vor.“
Raif Badawi erhielt am 21. Januar 2015 während einer öffentlichen Auspeitschung die ersten 50 Peitschenhiebe. Danach brach er zusammen. 950 Peitschenhiebe warten noch. Iphone und Android waren dabei. Die Handys des umstehenden Publikums hielten die Szene fest.

Schon Schahrasad benötigte tausendundeine Nacht um am Leben zu bleiben und um den König mit ihren Geschichten zu besänftigen.

Note: 4 (ai)<<


>> Achtundvierzig Sentenzen, Episoden, Augenblicke. Menschen am Rande, Momente der Besonderheit, Alben der Widersprüche. Sinnsuche, juristische Ausflüge, Kuriositäten. Temperierte Lektüre für Minuten – einen Kaffee lang. Wieder eine Schirach-Sammlung, wenn auch anders: rauchiger, manchmal anrührend, vermutlich auch Liegengebliebenes. Viele Geschichten folgen einem Muster: die hingestreuten Detailimpressionen, die belesenen Zitatfunken, der geschlossene Mittelteil, und schließlich die Rückkehr zum Anfang mit überraschender Nachdenklichkeit. Seien wir ehrlich: auch wenn es durchschaubar ist, eingängig bleibt es trotz alledem. Etliche Abschnitte haben keinen Ich-Erzähler. Wenn er dann doch auftritt, darf vermutet werden, dass Schirach Autobiografisches verewigt. In diesen Passagen entblättern sich nominierte Nobelpreisträger, Massenmörder, Multimilliardäre und Zeitzeugen aller Zeiten um literarisches Material zu liefern. Frau/man möchte dem Autor dann doch dosiertes Kokettieren mit der Macht und seiner Bedeutsamkeit unterstellen. Nichtsdestotrotz bleibt es lesenswert.

Da sind Anekdoten wie der Kinoabend des „ich“ als Sprachschüler in London. Im Publikum auch Mick Jagger, der lauthals die Wiederholung des Nachtfilms verlangt. Oder ein Hausmeister, der Kunstwerke wie Beuys Fettecke entsorgt. Oder die Kassiererin der Krankenhauskantine, die dem Pantoffel-tragenden Arzt den Rabatt verweigert, weil sie ihn für einen Psychiatriepatienten hält. Oder der Extremkünstler, der in einem Plexiglaskasten drei Wochen lang Hühnereier ausbrütet.

Daneben gibt es Notizen, die Ungleichheiten ausleuchten. Als der Tochter aus mittelloser Familie endlich der Karrieredurchbruch als Opernsängerin glückt, möchte der Vater die Premiere auf einen anderen Wochentag verschieben lassen, weil dann weniger Parkprobleme zu befürchten sind. Manchmal führt das Akzeptieren von Absonderlichkeiten sogar zur Normalität: der Ehemann konnte seine Frau nur begehren, wenn sie Perücken trug. Die ersten fünf Ehejahre waren von 72 Perücken und zwei erfolgreich gezeugten Kindern geprägt.

In anderen Kapiteln werden Charakterdenkmäler freigelegt wie das arrogante Ausatmen des qualmenden Kanzlers Helmut Schmidt, die grenzenlose Eitelkeit eines Donald Trump, der bei Paraden einen Schritt vor Queen Elisabeth laufen will, die kultivierte Greisin, die mit bedingungsloser Hingabe einem  imposanten Boxer verfallen war. Verzeihen konnte sie ihm allerdings nie, dass er an einem banalen Wespenstich beim Picknick starb. Oder der Bankmagnat, der seine nackte Gattin Kirschkerne in einen Bottich spucken lässt. Mit dem ständig wiederholten Beifall „Sehr brav, meine kleine Mrs. Margaret Thatcher“ zelebriert er vermutlich seine erfolgreiche Lobbyarbeit in höchsten Regierungskreisen.

Zahlreiche Schriften lassen den Widerhall von weiser, betont banaler oder tragisch verfehlten Verknüpfung erkennen. Auf die törichte Tat des Internatsschüler Schirach, ein junges Reh in einer Eisenfalle schwer verletzt zu fangen, reagiert der Internatspater mit Besonnenheit: ein Mann muss mutig vorangehen, aber auch tapfer das Scheitern ertragen. Bei Erinnerungen an Bilder führt Schirach aus, dass wir nur unsere Erinnerungen sind. Das Vergangene sei nicht tot, es sei nicht einmal vergangen wie William Faulkner schrieb. Oder dies: Epiktets griechische Weisheiten könne man nur leben, wenn gerade nichts passiert. Dazu gehört auch, das zu ändern, was zu ändern ist und das andere schlicht zu akzeptieren. Tiefsinniger sind dann schon die Überlegungen zur Menschwerdung, deren markantes Merkmal, die Ausbildung einer wenn auch labilen Ethik ist. Teil dieser Ethik ist die Anerkennung der menschlichen Würde. Dieser Sieg über die Natur wird jedoch immer wieder herausgefordert. Schirachs eigener Großvater selbst war es, der als Reichsgauleiter die Vernichtung Wiener Juden organisierte. Mit dem Verweis auf die japanische Gedichtform Haiku versucht Schirach die unumstößliche Ambivalenz des Menschen zu beschreiben: er ist wie er ist. Es sei sinnlos danach zu fragen, ob der Mensch gut oder böse ist. Er ist es einfach. Er trägt das Gute wie das Hässliche in sich. Gerade deshalb ist es unverzichtbar, dass er sich eine Ordnung gibt. Ein juristisches System ist die gesellschaftliche Norm dieser Ordnung. Interessant bleibt dann für den Leser die ganz persönliche Frage, warum Schirach lange Jahre die selbst gestellte Aufgabe des Strafverteidigers ganz besonders faszinierte, wenn es doch nicht um das Begreifen der Taten ging.

Wie in früheren Werken, greift Schirach auch in diesem Buch juristische Fälle auf, die eine humanitäre Luft atmen. Alle Menschen haben eine Würde, egal ob Täter oder Opfer. Entsprechend zitiert er einen Schweizer Richter, der prinzipiell die Todesstrafe ablehnt, auch weil Fehlurteile gefällt werden. Einem dieser Fehlurteile konnte ein Häftling durch Flucht im letzten Moment entkommen und am Ende sogar sämtliche Geschworenen um vier Tage überleben. Beklemmend dagegen die Selbstaufgabe der Landespolitikerin, die nach endlosen Anfeindungen zusammenbrach, nur weil sie forderte, auch Kinderschänder eine Chance zur Rehabilitation zu geben. Schirach nimmt hier die Position ein, dass vor dem Gesetz alle gleich sind. Überraschend bleibt allerdings, wenn er in einem Interview die Verteidigung ausgewählter Fälle von Pädophilen ablehnt. Vielleicht wirft seine Zeit im Jesuiteninternat im Schwarzwälder St. Blasien späte Schatten?

Ein sehr persönlicher Bezug darf in mehreren Geschichten vermutet werden, die sich mit der Verbundensein zum Leben bzw. der Bereitschaft zum Tod befassen. Als Jugendlicher stand Schirach selbst dem Suizid nahe. Die Aussage, dass es auch ohne die Begabung glücklich zu sein, die Pflicht gäbe, zu leben, vermittelt in beide Richtungen etwas sehr Trauriges. Auch der Autor dürfte dies in sich tragen. Der KZ-Überlebende Imre Kertész hatte mehrere Tode überlebt. Nicht überlebt hatte seine Liebe zu sich selbst. Halt bietet dann nur noch die Form. Und so deckt er jeden Abend gesittet den Tisch und nimmt in seiner Einsamkeit seit Jahren Platz.  Note: 2– (ur)<<


>>Eine bunte Geschichtenmelange. Mal geht es um Schuld und Moral, mal wird eher locker abgeplaudert.  Aber was heißt da ab, es sollte eher hoch heißen. Hochgeplappert auf Platz 1 Spiegel Besten-Liste.  Nicht immer weiß man, wo  Authentisches endet und  dichterische Ummantelung beginnt.

Um es gleich zu sagen, kalten Kaffee serviert uns Ferdinand von Schirach nur in einigen seiner Stories,  aber Instant ist eine Menge mit dabei. Ein positiver Höhepunkt die autobiographische Nummer eins. Dann geht es auf und ab. Beliebigkeit dominiert.

Der Stil fast durchgängig  lakonisch melancholisch. Tod und Trauer mit Einschränkungen leitmotivisch. Dazu eine gewisse Bildungsbeflissenheit bis hin zur Selbstbeweihräucherung. Manchmal Pseudotiefgang. Der Verdacht, es könne sich bei dem Buch um eine Restverwertung handeln, scheint nicht ganz abwegig.

Das Thema Rauchen taucht relativ oft auf. Noch mehr in seinen Fernsehauftritten. Ich habe Herrn von Schirach gefragt, ob er sich schon mal mit Passivrauchen beschäftigt habe. Falls er wider Erwarten antworten sollte, Aktuelles dazu an dieser Stelle.
Note: 4+(ax)<<