Troll – Michael Hvorecky

Tropen 2018 | 213  Seiten.

>>Trolle verbreiten als virtuelle Medienidentitäten unter vorgetäuschten Profilen Falschmeldungen im Netz, um gezielt öffentliche Stimmungen zu manipulieren. Trolle arbeiten vereinzelt oder organisiert – auch als regimegesteuerte Machtinstrumente. Der Schauplatz des Romans darf in einem diktatorisch geführten Ostblockland verortet werden, in dem Falschnachrichten und Wahrheiten untrennbar miteinander verschmolzen werden. Vielleicht ist es die Zukunft der slowakischen Heimat des Autors. Technisch ist es jedoch die staatenlose Gegenwart. Im Mittelpunkt steht der Ich-Erzähler, dessen Ambition es ist, die manipulativen Lügenmaschinen des Internets zu entlarven. Das politisch anmutende Ziel trägt auch Vergeltungszüge und wird ebenso aus persönlichen Verlustmotiven der beiden Hauptfiguren gespeist.
Der Erzähler ist Sohn einer wohlhabenden Familie, die zu den wenigen Gewinnern des Regimes nach einem Hybridkrieg in der Post-EU-Phase gehört. Die Eltern entfremden sich. Der Vater flüchtet mit dem älteren Bruder des Ich-Erzählers in den europäischen Westen, worauf Ehefrau und zurückgelassener Sohn in eine anhaltende Krise stürzen. Eine fehlende Masernimpfung lässt den übergewichtigen, hässlichen Jungen schwer erkranken und fünf Jahre in maroden Krankenhäusern dahinvegetieren. Das politische System hat die Gesundheitsversorgung zusammenbrechen lassen. Während dieser Zeit lernt er die drogenabhängige Johanna kennen, der mit Willensstärke ein Selbstentzug gelingt. Beide Schicksalsverlierer schließen sich zusammen und planen, die Lügen des Systems und seine Manipulationsmaschinerie ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Johanna ist die versierte Treiberin. Zutiefst renitent und intelligent entwickelt sie Strategien, verteilt die Rollen und wird zur einzigen Freundin im isolierten Leben des Jungen. Es ist eine Symbiose, in der beide Aussätzige sich gegenseitig Halt in einer haltlosen Situation geben.
Das erste der beiden Buchkapitel zeichnet die Persönlichkeitsbilder der beiden Hauptfiguren in den erbärmlichen Niederungen einer in sich zusammengebrochenen Gesellschaft. Willkür und Gewalt, Armut und Chaos bestimmen das Dasein. Auch der aufgedunsene Junge entwickelt niederträchtige Züge begleitet von einer Fresssucht, zu deren Befriedigung er den anderen Heimgenossen die letzten Krumen stiehlt. Bizarre Sanatoriumsrituale absurder Patientengruppen vermitteln den Eindruck eines bösen Märchens. Es ist ein Milieu, in dem die beiden Protagonisten nur mühsam zu Helden der Moderne reifen.

Das zweite Kapitel beschreibt den Widerstandskampf in der De-Informationszentrale des Internetagitators Valys. Die geläuterte Johanna und der inzwischen 20-jährige Junge haben sich nicht nur intensiv fortgebildet und ausgefeilte IT-Kenntnisse angeeignet, sie beherrschen auch Fremdsprachen und verfügen über umfangreiche Sachkenntnisse, um in gesellschaftlichen Debatten Paroli bieten zu können. Mit diesen Kompetenzen gelingt es ihnen eine Anstellung in Valys berüchtigter Troll-Fabrik  zu erhalten.
Täglich werden Scheinkonflikte definiert wie die vermeintliche gemeinschädliche Ausbeutung des nationalen Gesundheitssystems durch angeblich parasitäre Roma-Horden. Die öffentliche Diskussion beginnt typischerweise mit einer schlichten Sachdebatte, die zunehmend mit tendenziösen Stellungnahmen fortgesetzt wird, um dann in persönliche Angriffe gegen beteiligte Blog-Diskutanten überzuleiten bis schließlich ein von Hass bestimmter Erregungszustand erreicht wird, in dem sich ohne weiteres Zutun die wachsende Zahl der Blog-Follower gegenseitig zerfleischen. Das immer wieder zelebrierte Chaos liefert letztlich Vorschub für den Ruf nach einer autoritär ordnenden Führung. Um den anfänglichen Diskurs unauffällig zu gestalten, werden in der Troll-Fabrik Pro- und Contra-Rollen verschiedenen Mitarbeitern zugeordnet bis schließlich externe Webteilnehmer auf die Kontroverse aufmerksam werden und die Auseinandersetzung selbstständig verschärfen. Die Aktivitäten der Troll-Fabrik wirken umso glaubwürdiger, da die Troll-Diskutanten mit nachvollziehbaren Profilen auftreten. Zu diesem Zweck gibt sich ein Troll-Mitarbeiter je nach Kompetenz ein bis 30 Identitäten von der einsamen Witwe, die in ihrem Leben nach Gewissheit sucht oder dem älteren Herren, der mit versöhnlicher Nonchalance die Welt beurteilt bis hin zum nassforschen BWL-Studenten, gestählt im eigenen Reihenhaus-Fitnesskeller, mit authentischem Fremdenhass und tätowierter Freundin. Alles über Monate im Netz sorgsam vorbereitet und auf öffentlichen Servern mit umfassendem Bildmaterial hinterlegt.

Der Ich-Troll entwickelt sich zum Vorzeigeaggressor, der sich durch eine besonders große Zahl und Vielfalt von Pseudoprofilen eine unumstößliche Spitzenposition in der Fabrik erarbeitet. In der naiven Öffentlichkeit wird er zum Blogger mit den meisten Hates. Die legendären Hasstiraden treiben schließlich aufgebrachte Menschenmassen auf die Straßen. Puppen mit seinem allseits bekannten Erscheinungsbild werden verbrannt. Hysterische Rufe ihn zu lynchen schallen durch die Häuserschluchten. Es gibt die aufgeklärte Öffentlichkeit also doch, auch wenn sie gefährdet ist. Verbunden mit einer Empörungskultur scheint sie für wahre wie für unwahre Nachrichten gleichermaßen empfänglich. Unbeirrt entwickelt er immer einflussreichere Kampagnen, die am Ende noch nicht einmal das offene Auftreten der Agitatoren in der Öffentlichkeit scheuen. Eine legendäre Roadshow soll die Überzeugungsarbeit der Agitatoren vertiefen.

Als verfeindete Gruppen auch die Troll-Fabrik ins Visier nehmen, verdächtigt der Ich-Erzähler Johanna als Urheberin, worauf sie verhaftet wird. Er hingegen wird als unumstößlich loyal gefeiert. Das Geschwür des Trolling hat seinen Organismus überwuchert. Johanna hatte dies als Notwendigkeit vorausgesagt, auch wenn unklar blieb, wie dadurch das Lügensystem entlarvt werden sollte. Die Lawine der Denunzierungen und öffentlichen Anfeindungen lässt schließlich die Troll-Fabrik kollabieren. Die Wirkung ist deshalb so umfassend, weil Johanna in weiser Voraussicht Verleumdungsnachrichten über ihre Person mit einem Fälschungshinweis im Auto-Publishing-Modus selbst ins Netz gestellt hatte. Als die Troll-Beschuldigungen über ihren Verrat erscheinen, ist die Blog-Gemeinde bereits gewarnt. Der öffentliche Zorn kehrt sich um und richtet sich fortan gegen den wahren Troll-Apparat.

Entsetzt von der eigenen Niedertracht und um der schuldbeladenen Vergangenheit zu entkommen, lässt der Ich-Erzähler an sich einen körperlichen Gestaltwandel vollziehen. Chirurgische Eingriffe entstellen ihn bis zur Unkenntlichkeit, verfremden seine Stimme und verfälschen seine Fingerabdrücke. Die konsequente Verstümmelung ist auch ein Schuldbekenntnis. Er kehrt das ursprünglich innere in ein äußeres Monster. Währenddessen kommt es zum Systemumsturz. Zu guter Letzt führt der Autor das Monster und die befreite Johanna wieder zusammen. Ihre neue, selbst gestellte Aufgabe lautet: Valys Desinformationsfabrik in eine Anti-Troll-Einrichtung umzugestalten. Das aufklärerische Happyend mit moralisierender Deklaration samt eingestreutem Vaclav Havel-Zitat wirkt jedoch etwas bemüht.

In jedem Fall erhellend bleiben die Systembeschreibungen der demagogischen Fake News- Produktion, die trotz der literarischen Ausmalung überzeugend realistisch sind. Erhellend auch die Darstellung des Suchtpotentials für die individuellen Trolle, das vom Machterleben suggestiver Meinungsmanipulation ausgeht. Ein mittelprächtiger schriftstellerischer Wurf im Duktus eines gut-gemeinten Gegenwartmärchens.
Note: 2/3 (ur) <<


>>Das Buch beginnt mit dem Ende. Das Tableau – eine Welt ohne Fakten „Echte Anarchy in the UK. In Europa, in den USA“ –Desinformationskrieg in Osteuropa unter der Herrschaft eines „Systems“. Der Protagonist der Geschichte ist nach der vermeintlich heldenhaften Zerschlagung des „Systems“ zur öffentlichen Hinrichtung ausgeschrieben. Alles bleibt diffus aber man vermutet das „System“ hat überlebt. Einzig Rekonstruktionsmedizin und die Künste der Dysphonie scheinen den Maskenmann vor einem grotesken Lynchprozessionszug zu retten. Da fährt der Autor alles auf, was diese Gesellschaft zu bieten hat und was ihm nicht passt: Vereint sind Linke und Rechte, Reichsbürger, Priester in Kutten, Naturheiler, Homöopathen, Veteranen des vergangenen Krieges, natürlich zusammengerufen durch Google und Facebook begleitet von der Melodie eines widerlichen Killerraps gegen den Troll. Es taucht ein Name auf Johanna, nebulös, der Kontext bleibt verborgen. Es folgt bis zum Ende des 1.Teils die Entwicklungsgeschichte der beiden Hauptfiguren und der Nebel  des Beginns lichtet sich zunehmend. Der Ich-Erzähler ohne Namen.. Opfer der elterlichen Verblendung sich der Alternativmedizin zu verschreiben statt der Masernimpfung der Pharmaindustrie zu vertrauen. Die Folge 5jähriger Krankenhausaufenthalt als Fettwanst und Jungfrau unter 3.Weltbedingungen bei gleichzeitig gut funktionierendem Internet. Die 2.Hauptfigur – Johanna, Drogenkarriere aber schon in frühen Jahren belesen in russ. Literatur, Eltern gutbürgerliches Milieu (Drogenkarriere der Tochter scheinbar entgangen) dann Drogenentzug und Klinikaufenthalt, der die beiden Loser zusammenführt um schließlich nach nachgeholtem Schulabschluss, IT Kursen und Studium die durch  den Informationskrieg völlig manipulierte Welt zu retten. Der Kampf gegen die Trolle wird zur Mission, nicht weniger als eine „unsichtbare Heldin“ werden, heißt das bei Johanna, um „ein wenig das wiedergutzumachen, was sie im Leben vermasselt hatte“ (– was hatte sie eigentlich vermasselt??) Nein, der Einstieg der beiden zunächst Gescheiterten nach dem Modell David gg Goliath will wenig überzeugen und ist nicht frei vom Superman-Klischeel. Eine Nachricht im Netz, sie betrifft das, womit man die Massen am besten manipulieren kann – das Flüchtlingsthema „Schock in der Apotheke. An ALLE weiterleiten“ bringt die Wende vom Plan zur Tat. In diesem 2. Teil des Romans wird die Horrorwelt eines Systems beschrieben, geleitet von einer zwielichtigen Figur namens Valys, einst Zögling eines einflussreichen Oligarchen, Geheimdienstler, „Gründer der gefürchteten Prague Trolling Factory“, der über sämtliche perfiden und niederträchtigen Techniken der Kommunikationstechnologien verfügt. Wie es den beiden jungen „Helden“ gelingt, sich in dieses System einzuschleichen, sich seiner Methoden zu bedienen, ja sie sogar zu perfektionieren, bis an die Grenze des Verlust der eigenen Identität, die Konstruktion immer neuer Netzidentitäten, das ist die Stärke des Romans. Hier wird eine Apokalypse vorgeführt, die durch zahlreiche Gegenwartsbezüge deutlich macht, wie nahe wir schon in der Zukunft angekommen sind. Ob es allerdings der Komplexität eines global agierenden Netzwerks von Hate-Posters, Troll-Mafiosis, Digital-Faschisten gerecht wird, von „Chef“, „Büro“, „Abteilungsleiter-Meetings“, „Beförderung“ des Ich-Erzählers zum „Chef des Trolling-Teams“ zu sprechen, kann bezweifelt werden. Das entspricht doch eher den Dimensionen eines hierarchisch geführten Einzelunternehmens. Aber vielleicht erfordert die Konzeption des Romans von zwei guten Helden dann doch den personalisierten Bösewicht Valys als Gegenspieler. Am wenigsten überzeugt der Schluss des Romans. War mit  Romanbeginn eher der Sieg des „Systems“ über seine beiden Widersacher zu vermuten, so liefert das Romanende eine andere Lesart. Valys ist „angeblich im Nachbarland“ mit seinem komplett neu erfundenen System unterwegs, Johanna macht auf Medienerziehung, um „im Land das kritische Denken zu entwickeln“ und unser Ich-Erzähler legt auf einer „alten mechanischen Schreibmaschine Zeugnis ab über die Trolle“. Soviel Romantik nach so viel Internethorror, das muss man erst mal aushalten können. Note: 4 ( ai)<<


>>Der Auftakt furios: Der namenlose, maskierte Ich-Erzähler gerät in einen Mob von tausenden hasserfüllten Menschen, die ihn lnychen wollen. Eine alptraumhafte Szenerie, die an ein Endzeitmovie wie Mad Max erinnert. Er wurde als Troll enttarnt, als gefakter Keanu Reaves und 80 weiterer Profile. Er wurde im Netz daraufhin als „chasarischer Zionist, als Nazijude, Vaterlandsverräter, Faschist, Schande für die Welt, Russenfreund, Amifreund, Israeli, Gutmensch, Fettsack“, usw. beschimpft. Die Mechanismen des Netzes, die er selbst jahrelang mitbetrieben hat, wenden sich nun brutal gegen ihn. Wahrheit oder Logik der Post spielen nicht die geringste Rolle. Höhepunkt: Der Rap der Motorradgang Vaterland vor der grölenden Menge:
„Der Troll geht über Leichen für Petroshekel,
Hau weg den Scheiß, uns packt der Ekel,
nicht liken, sondern blocken, dissen!
Die Homobitch soll sich verpissen“,…

Das ist großartig gemacht und man erfährt nun im Rückblick, wie es dazu kam. Der historische Zeitrahmen bleibt unklar, aber es scheint sich in einer nicht allzunahen Zukunft in einem Land in Osteuropa abzuspielen. Das Land gehörte einst zur Europäischen Union, bis diese zerfiel. Das „Reich“, das einen Informationskrieg und auch einen Hybridkrieg angezettelt hat, ist unschwer als Russland zu identifizieren.
Der Ich-Erzähler lernt in seinem jahrelangen Krankenhausaufenthalt die drogenabhängige Johanna kennen. Auf dem Höhepunkt des Informationskrieges, in dem mit tausenden von fake news  Hass verbreitet wird, entschließt sich Johanna, gegen die Trolle anzukämpfen und er schließt sich Johanna an. Sie lassen sich in eine Trollfabrik einschleusen und werden dort erst einmal Teil der Maschinerie. „Eine Weile werden wir sein wie sie, um zu zeigen, dass wir nicht so sind wie sie“.
Hvorecky gelingt es in diesem dystopischen Roman sehr eindringlich und sehr kenntnisreich, zu zeigen, wie eine moderne Gesellschaft durch Desinformation und Leichtgläubigkeit in seinen Grundfesten erschüttert werden kann. Sehr lesenswert. Note 2 (ün)<<


>>„Trolle trinken Trollinger“ gehört zu den missrateneren Slogans der bayrischen Kalauerakademie Pullach. Trolle trinken Bier wie wir, wenn überhaupt. Was ein Troll so ganz genau ist, ist mir auch nach der Lektüre von „Troll“ nicht hundertprozentig klar geworden.

Der Roman kommt erst nach einer langwierigen Eröffnungsphase mit grusligen Einblick in einen eher fiktiven Klinikalltag zum Thema Troll. Der Ich-Erzähler und seine Freundin sind beide beeindruckende Loser, wenn auch auf unterschiedliche Art. Beide steigen sie in eine „Troll-Agentur“ ein, die mit einschlägigen Methoden im Auftrag des „Reiches“, womit wohl Russland gemeint sein dürfte, einen Informationskrieg führt, Menschen diffamiert, pusht und mobbt. Johanna versucht die Agentur von innen heraus lahmzulegen. Am Ende „sprengen“ die beiden das Troll-Institut, werden aber dadurch das Ziel von Lynchattacken.
Der Roman  wirft Zeitebenen durcheinander, Realität und Sciencefiction  wechseln sich ab oder vermischen sich, insgesamt eine Herausforderung für den Leser. Schrille Farbigkeit dominiert. Ist die Situation in Osteuropa auf uns übertragbar? Wir bräuchten eigentlich keine Troll-Agenturen.

Zu Beginn des Jahres beschäftigten Hackerangriffe auf 994 Politiker/innen und Prominente die bundesrepublikanische Öffentlichkeit. Steinmeiers private Handynummer, ja so was. Man mutmaßte über Spuren nach Moskau oder gar Peking. Dann stellte sich aber heraus, dass die Attacke aus dem Kinderzimmer von Johannes S. (Alsfeld) kamen.
Die russischen Twitter-Agitatoren spielen in einer anderen Liga. Die ZEIT  vom 16. Mai 2019 beschreibt die Aktivitäten einer Troll-Fabrik in St. Petersburg.Von daher ist der Roman wohl doch näher an der Realität als uns lieb sein kann.

Der Roman des erfolgreichsten slowakischen Schriftstellers endet optimistisch. Johanna unterrichtet Medienerziehung an Gymnasien. Darum, Ende gut, alles gut. Note: 2/3 (ax)<<