Was dann nachher so schön fliegt – Hilmar Klute

Galiani Berlin 2018 |  365 Seiten

>> Ich stelle mir vor, Hilmar Klute zu Gast bei der Gruppe 47. Er liest ein Kapitel seines Romans. Keiner raucht, keiner trinkt Pils. Bevor H.W. Richter die Kritik freigibt, ergreift Rühmkorf das Wort:  Klutes Roman ist deshalb  so gut gelungen, weil Volker Winterberg lyrisch gescheitert ist. Ein 20jähriger zwischen Einmal-Einlagen, dem bundesrepublika-nischen Literaturbetrieb und einer Beziehung gleichermaßen zerrieben, findet am Ende seinen Anfang. Alles gesagt. Sprachlich grandios!
Note: 1 ( ai) <<


>>  „Und was dann nachher so schön fliegt, wie lange ist darauf rumgebrütet worden.“ Worte werden ewig gewendet, ihre verströmende Wärme geprüft, ihr inneres Pochen abgehorcht, bis Prosa oder Lyrik ausschlüpfen darf. Das hat Peter Rühmkorf unwissentlich Klutes Protagonisten Volker ins Pflichtenheft geschrieben – zumindest meint dies Volker, der wie sein großes Leitbild ebenso ein Schwerstarbeiter der Literatur werden will. Doch noch ist Volker nur ein zwanzigjähriger Ersatzdienstleistender, der in den Tiefen des Ruhrpotts desorientierten Alten den Hintern pflegt.

Der Alltag im Altenheim ist erschöpfend, die Senioren in einem Kokon der Sprachlosigkeit gefangen und für Lyrik nicht empfänglich. Die Kollegen halten Abstand zum Nachwuchsdichter, während Volker auf dem Pfad bis zur ersten eigenen Gedenktafel irrt, begleitet von vorgetäuschten Entrückungen – imaginierten Begegnungen mit zeitgenössischen Führungskräften: Günther Grass, Heinrich Böll, Marcel Reich-Ranicki, Erich Fried, Walter Jens. Alle sind sie da. In seinen Fantasien organisiert Volker ein Treffen der Gruppe 47 mal im gesichtslosen Ruhrpott, mal auf der Dachterrasse des Berliner Karstadtgebäudes. Herrlich ausschweifende Ideen eines jungen Menschen. Dazwischen flimmert eine verschwommene Liebe mit einer Berliner Katja. Vielleicht hätte es auch eine Bremer Katrin sein können. Ein bisschen Gefühl, vor allem aber eine austauschbare Spiegelfläche für das ambitionierte Literaten-Ego. Eben wie im richtigen Dichterdasein. Mit dieser Romanarchitektur schafft Klute eine Projektionsfläche des deutschen Literaturbetriebs. Keine schlechte Idee.

Klute baut auf eine durchgängig erfrischende Respektlosigkeit. Er legt einem pubertierenden Tagträumer beißende Wahrheiten über anerkannte Literatur-zeitgenossen in den Mund. Ein Schriftsteller Klute, der flächendeckend über seine Berufskollegen herfällt – das ist mutig. Für die positive Rezeption seines Romanhintergrunds bedient sich Klute deshalb einer weiteren beschwichtigenden Konstruktion. Schon im ersten Moment persifliert er Volker, indem er ihn genauso sein lässt wie die von ihm verrissenen Großpäpste der dichtenden Kunst. Volker ist kenntnisreich und überheblich, belesen und lehrmeisterhaft, intuitiv und abrechnend, manchmal mit dem nuancenarmen Schwarz-Weiß jugendlicher Gedankenwelten verhaftet, oft aber auch frühreif elaboriert in seinen Monologen über die Psychologie der kleinbürgerlichen Fussballseele oder den schwulen Aidsalltag Berliner Gegenwelten. Also ein talentierter Nachwuchskandidat für die deutsche Kulturarena.

Klute gelingen dabei amüsante Sequenzen wie etwa Volkers Vorstellung von Uwe Johnson. So ersinnt Volker für Johnson die Einschätzung: „Mein Schreiben ist derart imprägniert und versiegelt, dass es spontane Kritik nicht mehr zu erreichen … vermag. Ich halte mich weiterhin an das beredte Schweigen“ (S. 232). Also würde Johnson nichts sagen, worauf Volker sich Johnson stramm und stumm wie einen Stock bei einer Literatentagung in den USA vorstellt. Volker würde ihm dennoch hoch anrechnen, dass er den weiten Weg aus Europa auf sich genommen habe, um auch einmal in Übersee zu schweigen. Eine bissige Wertschätzung.

So wie Volker in seinen Vorstellungen in der Gruppe 47 hinterhältige Scharmützel von Richter und Reich-Ranicki ausmacht, so sind auch in seiner Gegenwartswelt bei einem Berliner Wettbewerb von Nachwuchslyrikern Opfer zu beklagen. Mit Blick auf seine Mitbewerber schwankt Volker zwischen mentaler Gewaltanwendung und empathischer Fürsorge. Seelen zerbrechen, verkannte und überstrapazierte JungdichterInnen brechen in hysterische Schreikrämpfe aus, nachdem sie von der Jury vernichtend beurteilt wurden. Jahrgangskonkurrenten sind zum Äußersten bereit. Volkers Altenheimkollege Dirk, dem kein rechter intellektueller Wurf wie Volker gelingen will, lässt erst einen Senior an einem zu trockenen Brötchen ersticken und versucht sich dann selbst das Leben zu nehmen – erklärtermaßen nur, weil er es seinem Idol Volker nicht gleichtun kann. So nachhaltig kann literarischer Nahkampf sein.

Klute gelingt es durch eine Vielzahl anekdotischer Einschübe amüsante Querschläger zu platzieren – dies umso mehr als er dabei einen quirligen Sprachduktus pflegt.
Note: 2 (ur)<<


>> Was der  Nachwuchsschriftsteller Volker Winterberg zwischen Zivildienst im Altersheim im Ruhrgebiet, auf diversen Lyrikwettbewerben im aufregenden  Berlin der 80 er Jahre und Ruhrgebiet ( „Lyrik-im-Pott-Preis“) sowie getrampten Fluchten nach Paris erlebt,  ist ein glänzend geschriebener Roman des „Süddeutschen“ Redakteurs Hilmar Klute (Streiflicht), der in Winterbergs Tagträumen den ganzen Literaturbetrieb mit derartiger Raffinesse auf die Schippe nimmt, dass man manchmal wirklich lauthals loslachen muss. Aber auch einfühlsame Beobachtungen, wie schwierig und zerbrechlich Annäherungen an das andere Geschlecht sich in jungen Jahren gelegentlich entwickeln, gelingen ihm mühelos und mit großer Sprachschöpfungskraft.
Note: 1 (ün)<<


>> Hätte Hilmar Klute nicht Ersatzdienst statt Wehrdienst geleistet, hätte er vermutlich über Siechtum und Sterben im Seniorenheim nicht so eindrücklich schreiben können. So  hat alles sein Gutes. Dieser erste Teil des Romans hat mich am nachhaltigsten beeindruckt. Der Junglyriker Volker Winterberg fantasiert sich in eine Begegnung mit der verflossenen Gruppe 47 hinein. Dabei kommt es zu seltsamen Dialogen. Zu Günther Eich sagt er:“Ich bin nicht genial genug für so etwas.“ (Seite 45) Was für eine Antwort erhofft sich Volker W.?  Vermutlich nicht: „Ganz genau.“ Geht’s noch schräger? Insgesamt weiß der  Autor beeindruckend viel über die Literatur der Nachkriegszeit. Die Namen dropen. Man merkt, dass Hilmar Klute Streiflichter in der Süddeutschen schreibt. Deren  ironischer Grundton wird fast konsequent durchgehalten. Jochen Overbeck fragt in seiner Rezension (Spiegel online), was der schönste Satz in diesem Buch sei und meint dann, dass es schwer sei, dies zu sagen. So schwer ist das doch gar nicht. Es ist eindeutig der Satz: „Schmeißen Sie alles weg“ auf Seite 104. Wer will, kann sich während der Lektüre über einen hemmungslos romantischen und weltfremden Jungidealisten anhaltend  und köstlich amüsieren. Etiam si omnes, ego non.
Preisfrage: Wie viele Zigaretten (selbstgedrehte und andere) werden in diesem Roman geraucht? Jede richtige Einsendung wird mit einem Büchergutschein in Höhe von 20 € (für Nichtleser/innen auch Zigarren) belohnt!
Note: 2+ (ax)<<