Wer die Nachtigall stört – Harper Lee

Wer die Nachtigall stört

Rowohlt 2016 (1960, 1962, 2015) | 446 Seiten.

>> Mag sein, dass der Mikrokosmos im Örtchen Maycomb (Alabama) genau das Amerika widerspiegelt, das in den 30er Jahre hinter der Fassade (klein)bürgerlicher, scheinbar vertrauter Nachbarschaft den alltäglichen Rassismus offenbart. Mag sein, dass der Menschenrechtsanwalt und pädagogische Übervater Atticus Finch das literarische Hoffnungsmodell ist, nachdem sich diese Gesellschaft sehnt.. Auf mich wirkt die Geschichte, die auf den ersten 250 Seiten im Wesentlichen um sich wiederholende Alltagsabenteuer der beiden Geschwister Jem und seiner Schwester Jean Louise kreist, langatmig und vor allem unter dem Aspekt erzieherischer Erbauung von 9 – 13 Jährigen bieder. Selbst das Rätsel um Bob Radley tritt auf der Stelle. Dynamik gewinnt die Handlung mit Tom Robinsons Gerichtsverhandlung und dem rhetorischen Gefecht des Geschworenengerichts. Dass der für Robinsons Aburteilung letztlich verantwortliche Bösewicht Bob Ewell nach einer Mordattacke auf Atticus Kinder durch den plötzlich als deus ex machina erscheinenden  Bob Radley gerichtet wird, folgt der  Verwandlung einer Outcast-Figur zur Heldenfigur, die ich im amerikanischen Kino schon öfters ertragen musste. Vom Zauber und der Poesie, der vom symbolträchtigen Titel des Romans ausgeht, hat sich mir leider wenig erschlossen.  Note: 4 ( ai) <<

 

>> In ihrem ersten (und für die folgenden 30 Jahre zunächst einzigen) Roman aus dem Jahre 1960 inszeniert die Amerikanerin Harper Lee ein anti-/rassistisches Moraldrama. In dem kleinen Ort Maycomb, Alabama spiegelt sie das von einem starken Machtgefälle geprägte, kleinstbürgerliche Milieu der Südsaaten der 1930er Jahre wider. Unumstößliche Vorurteile der weißen Nachbarschaft und die eiserne, kollektive Überzeugung von der Minderwertigkeit Schwarzer prägen diesen Mikrokosmos. Lee platziert in diesem Umfeld einen Justizskandal, in dessen Verlauf eine Weiße eine Vergewaltigung vortäuscht, ein Schwarzer als schuldig Gesprochener zu Tode kommt und zu guter Letzt ein Weißer als Initiator des Skandals vermutlich von einem anderen Weißen ermordet wird. Das widersprüchliche Bindeglied dieser Pole ist die Justiz als Grundsäule des vermeintlich Gerechtigkeit garantierenden demokratischen Gesellschaftssystems. Lee konstruiert die Justiz selbst als polarisiert: auf die eine Seite stellt sie einen aufgeklärten, allein der objektiven Gerechtigkeit verpflichteten Rechtsanwalt. Auf der anderen Seite steht die rassistische Gruppe weißer Geschworener. Im Gerichtssaal treffen diese Pole aufeinander. Es ist dem historischen Zeitpunkt geschuldet, dass die vernichtende Bewertung der Geschworenen dem Unrecht des geltenden Wertesystems Vorschub leistet. Die offensichtliche Intention der Autorin ist es, die darin gelebte Grausamkeit lesbar zu machen.

Dem Guten wie dem Bösen gibt Lee Namen und zeichnet dabei ein schlichtes Kontrastbild. Der Rechtswalt Atticus Finch tritt – für seine Epoche unzeitgemäß – als Inbegriff des Guten auf, indem er dem schwarzen Angeklagten Tom gegenüber stets unvoreingenommen bleibt. Auch im Privaten profiliert die Schriftstellerin Atticus Finch als neuzeitlich emanzipierten Vorzeigevater: alleinerziehend, rundum fürsorglich, unbegrenzt respektvoll und seinen beiden Kindern auf Augenhöhe begegnend.

Für das Böse in Reinform wählt die Autorin den weißen Vater des angeblichen Vergewaltigungsopfers. Er, Vater Ewell, zeichnet verantwortlich für die Lügengeschichte, nachdem seine postpubertäre Tochter Mayella den zurückhaltenden Tom vergeblich in ein erotisches Abenteuer zu locken versuchte. Der Vater schlägt darauf die Tochter nieder. Gewaltanwendung, Verletzungen der Tochter und angeblich vollzogene Vergewaltigung werden später Tom angelastet. Im Gerichtsverfahren problematisiert Finch diesen Sachverhalt und löst Empörung bei den Weißen und stille Anerkennung bei den Schwarzen aus.

Die Tochter wird literarisch teilentlastet, da sie selbst im Kraftfeld zweier Vektoren gefangen ist, die sie in die gleiche rassistische Richtung zwingen: zum einen die Gewalt des Vaters, zum anderen die Macht des herrschenden Wertekanons. Die gesellschaftlich unverzeihliche Tat, sich als Weiße mit einem Nigger einlassen zu wollen, wird ausgelagert und auf das Objekt der Begierde selbst übertragen. Der Schwarze als Objekt wird ganz einfach zum Subjekt der Schuld gemacht. Entsprechend löscht sein völliges Verschwinden, sein Tod, quasi das gesellschaftliche Vergehen. In diesem Sinne basteln Vater und Tochter konsequent an ihrem Lügengebäude.

Harper Lee bemüht für die intendierte Moralvermittlung ein probates Stilmittel. Um die pädagogische Wirkung ihres Romans effektvoller zu gestalten, legt sie die gesamte Darstellung in den Mund eines schuldfreien Kindes, nämlich der neunjährigen Rechtsanwaltstochter Scout. Als Ich-Erzählerin zeichnet diese nicht nur den Handlungsstrang nach, sondern etikettiert einzelne Szenen mit Bewertungen. Vor allem diese Wertungen sollen sich zu einem moralischen Gesamtpanorama der Autorin verdichten.

Hier liegt bereits eine der großen Schwächen dieses Romans. Harper Lee gelingt es nicht, die Rollenverteilung stimmig zu gestalten. Vielfach lässt sie das kleine Mädchen Scout eine Lebensweisheit verbreiten, die kaum einem Erwachsenen zuzutrauen ist. Dialoge und Gedanken werden verklärt und bekommen etwas Absurdes. Das moralisch Richtige wird literarisch degradiert: „Ich verstehe nicht, warum christliche Richter und Rechtsanwälte nicht wiedergutmachen können, was heidnische Geschworene getan haben. Wenn ich erst erwachsen bin…“ (S.343) … oder der Dialog, in dem Scout nahegelegt wird, den zurückgezogenen Nachbarn zu schützen. Dieser hatte offensichtlich Mr. Ewell erstochen. Scout fasst ihre Zustimmung mit der Metapher zusammen, denn sonst „wäre es doch ungefähr so, als würde man eine Nachtigall stören, nicht wahr?“ (S. 438). So sprach das Kind – wohl wissend, dass die Leiche mit dem Messer im Bauch noch vor der Tür lag.

Für die Rezeption interessant ist die moralische Extraschleife, die sich Harper Lee an dieser Stelle gönnt. Mr. Ewell ist das Böse. Als solches gehört es bestraft. Wenn nicht auf juristischem Weg, dann eben unkonventionell und final. Dies sei umso dringender geboten, da Mr. Ewell Scout und ihren Bruder aus Rache dem Vater gegenüber zuvor angriff, vielleicht sogar umbringen wollte. Der Mörder von Mr. Ewell mutiert entsprechend zum Gutmenschen. In diesem Sinne lässt Harper Lee den Sheriff Tate sagen: „In meinen Augen, Mr. Finch, ist es eine Sünde, wenn man den menschenscheuen Mann (i.e. den mordenden Nachbarn), der ihnen und der Stadt einen großen Dienst erwiesen hat, ins Rampenlicht zerrt.“ (S. 438). Man soll ihn laufen lassen. Atticus Finch nickt und gibt im Angesicht dieser moralischen Beweislage seine Gerechtigkeitsprinzipien auf. Fortan erstrahlt die Aura des gesinnungsethischen Atticus Finch durch ein verantwortungsethisches Flämmchen noch heller.

            Eine weitere Schwäche des Romans ist die anhaltende Langatmigkeit. Frühere Kurzgeschichten der Autorin wurden offensichtlich in der ersten Hälfte des Romans recycelt. Entsprechend wird in dieser Hälfte der zentrale Justizfall mit keinem Wort berührt. Dieser Teil wäre für die Entwicklung des Plots verzichtbar, da die vielen Kindheitsepisoden den späteren Handlungsstrang nicht vorbereiten. Einzig Momentaufnahmen des Dorflebens und seiner teils bizarren Charaktere bereiten einen eigenständigen Lesegenuss. Ein Höhepunkt des Buches bleibt die sich über mehrere Kapitel erstreckende Gerichtsverhandlung.

Die Einordnung des Romans muss natürlich den historischen Kontext würdigen. Entsprechend darf die Veröffentlichung in Zeiten anhaltender Rassenkonfrontationen in den USA als literaturpolitischer Meilenstein aufgefasst werden. Romantechnisch ist es kein überzeugender Wurf. Bezogen auf den Sprachduktus und den inflationären Gebrauch direkter Rede erwartet den Leser eher ein gymnasiales Niveau, was vielleicht auch zur unverstandenen Verbreitung des Buches im Schulbereich verschiedener Nationen beigetragen haben mag.

            Summa summarum ein Werk von weitgehender political correctness, dessen Halbwertszeit im Schul-Lesekanon jedoch nicht nur wegen seiner Überlänge abgelaufen ist. Note: 3 – ( ur) <<

>> Wer die Spottdrossel killt wird zu Wer die Nachtigall stört, eine Erklärung für die seltsame Titelübersetzung konnte ich nirgends finden. Im ersten Teil des Romans wird die überwiegend sorglos-glückliche Kindheit von Jean Louise, genannt Scout und ihrem Bruder Jem in der fiktiven Stadt Maycomb (Alabama) in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts beschrieben. Dieser sehr lang geratene Teil erinnert streckenweise an einen Heimatroman, fast wähnt man sich in Heidi-Land. Das einzige Problem ist ein rätselhafter Nachbar, der nie sein Haus verlässt. Mit der für Kinder typischen Angstlust betreten sie immer mal wieder sein Grundstück.

Der frühe Tod der Mutter hat Atticus Fink zum vorbildlichen Alleinerzieher gemacht. Alles ändert sich, als er die Pflichtverteidigung des schwarzen Arbeiters Tom Robinson übernimmt. Jetzt werden seine Kinder mit Intoleranz, Rassismus und brutaler Gewalt konfrontiert. Alle Indizien sprechen gegen die Schuld des Angeklagten. Trotzdem wird er verurteilt; er stirbt bei einem Fluchtversuch.

Das Buch erschien in den fünfziger Jahren und provozierte damals das konservative Amerika. Heute wirkt es streckenweise etwas plakativ. Scouts profunde Reflexionen passen schwerlich zu einer Neunjährigen.

2019 wird der Roman Abiturthema in Hessen. Vom Raabe-Verlag gibt es bereits eine Unterrichtshilfe, die den Roman mit folgendem Satz schmackhaft macht: “Klatsch und Tratsch, Diskriminierung und Zivilcourage, Erwachsenwerden und Kindsein – die Inhalte des Roman-Klassikers „To kill a Mockingbird“ sind zeitlos“. Das ist doch schön gesagt. An diesem Satz wird deutlich, dass die Verfasser von Unterrichtshilfen die wahren Literaten unserer Zeit sind.

Obwohl noch viel zu sagen wäre, mache ich jetzt Schluß, damit den jungen Abiturienten/innen im kommenden Jahr noch genügend Raum für eigene Interpretationen bleibt.  Note: 3 ( ax) <<

 

>> Der Inhalt ist bekannt: Alabama in den 30 er Jahren, geschildert aus der Sicht der anfangs 6 jährigen, später 9 jährigen Scout, Tochter des Anwalts Atticus. Höhepunkt : der Prozess gegen den Schwarzen Tom Robinson, der zu Unrecht der Vergewaltigung einer Weißen beschuldigt und zum Tode verurteilt wird, verteidigt von Anwalt Atticus.

Es stimmt:  Ich Erzählerin Scout spricht in wörtlicher Rede nicht wie ein Kind, auch die geschildeten Reflexionen können nicht die eines Kindes sein. Aber gerade diese Brüche haben auch einen gewissen Reiz. So ist der alleinerziehende Vater Atticus in den Augen der Kinder natürlich ein Ideal, der ihnen Richtschnur ist, sich aber sonst weitgehend raushält. Die Kinder wachsen in einer Huckelberry Finn ähnlichen Idylle auf, die sich spätestens dann als trügerisch erweist, als der „Nigger“ Tom Robinson der Vergewaltigung einer Weißen beschuldigt und von Atticus verteidigt wird, der sich deshalb ebenso wie seine Kinder gegen erhebliche Anfeindungen wehren muss.  Die Anklage steht auf grotesk dünnen Beinen und selbst das ganze Dorf weiß im Grunde, dass Robinson unschuldig ist. Selbst der Richter, der mit Bedacht Atticus zum Pflichtverteidiger bestimmt hat, glaubt wohl kaum an seine Schuld. Die ausführlich geschilderte Gerichtsverhandlung stellt den dramaturgischen Höhepunkt des Buches dar. Dass die Geschworenen den „Nigger“ trotzdem schuldig sprechen, ist ein bewegendes literarisches Dokument des Rassismus in den USA der 30-iger Jahre, der bis heute nachhallt. Trotz einiger Längen, einem heute etwas zu pädagogisch anmutenden Ansatz und erzählerischen Sackgassen ein berührendes Buch. Note 2/3. (ün) <<