Rückkehr nach Reims – Didier Eribon

edition suhrkamp 2016 | 238 Seiten.

>> Der Soziologe Eribon kehrt in dem autobiographischen Werk in seine Heimat Reims im Nordosten Frankreichs zurück. Die Rückkehr zu seiner Jahrzehnte gemiedenen Familie ist auch die erneute Begegnung mit ihrem Arbeitermilieu, welches vom kommunistischen zum rechtspopulistischen Phänotyp mutierte. Dem Leser erlaubt der Autor dabei nicht nur Einblicke in bedrückende gesellschaftliche Randzonen der französischen Republik, sondern auch in das untrennbare Geflecht seines eigenen Seelenlebens, seiner schwulen Disposition und politischen Positionierung. Gleichzeitig verortet Eribon die verantwortlichen Kräfte für das Sein und den Wandel allein im System, in der Gesellschaft. Das Individuum der Unterschicht ist nicht handlungsfreies Subjekt, sondern bleibt auch nach der Jahrtausendwende ausgeliefertes Objekt. Psychologische Erklärungsversuche z.B. für seinen gewalttätigen Vater sind wertlos. Damit bleibt das Private politisch. Die Verantwortung liegt nicht beim Individuum. Auch der Rechtsruck seiner Verwandtschaft wird allein durch gesellschaftliche Missstände erklärt.

Weitgehend chronologisch führt uns Eribon durch seine Vita und ihre Ursprünge. Die Großmutter entzog sich durch erotische Ausschweifungen ihrer familiären Verantwortung und entsorgte ihre Tochter, Eribons Mutter, in eine Pflegefamilie. Seine Mutter war von sexuellen Übergriffen ihrer Dienstherren bedroht, versuchte durch Fortbildung ihrem hoffnungslosen Lebenslauf zu entrinnen, scheiterte jedoch am aufflammenden Weltkrieg. Als Ausweg blieb nur die Heirat mit einem Mann ihrer Klasse: Trinker, Schläger, Hilfsarbeiter. Quasi eine soziale Endogamie. Das war sein Vater, mit dem Eribon nie ein Gespräch führen würde. Eingepfercht in deprimierende Wohnverhältnisse wächst er mit seinen drei ungeliebten Brüdern auf. Eribons beeindruckender intellektueller Ausnahmezustand (genetisch oder gesellschaftlich bedingt?) verbunden mit der aufkeimenden Homosexualität entfremden den Pubertierenden rapide von seiner Familie. Die Brüder ignorant, der Vater streng homophob, die Mutter verzweifelt und ähnlich aggressiv. Irgendwie entkommt er den vernichtenden familiären Einflüssen, für die keiner persönlich verantwortlich gemacht wird.

Zum Motor von Eribons Transformation wird die sexuelle Andersartigkeit, da er als Schwuler unter den familiären Bedingungen zu verenden droht. Er muss raus, getrieben von einem unbändigen Willen. Eribon entwirft bereits als Gymnasiast ein neues Persönlichkeitsbild von sich selbst. Er weiß genau was er nicht und was er stattdessen sein will. Er will nicht der maskuline, körperzentrierte Typus seiner Brüder und Mitschüler sein. Er will der kopfbetonte, intellektuelle Feindenker werden, dem klassische Musik und philosophische Abhandlungen Identität geben. Er will nicht Praktikant des Heterosexismus werden. Er will Männer lieben. Er will nicht im gesellschaftlichen Schmutz seiner Verwandtschaft verwahrlosen. Er will mit Intellektualität zu den politisch bewussten Führungseliten aufschließen. Bereits als Schüler wird er Trotzkist. Und er ist erfolgreich: Professor, internationaler Preisträger, Fernsehredner, nationaler Vordenker als undogmatischer Linker, sendungsbewusster Schwuler, robuster Kämpfer mit Anspruch auf Meinungshoheit.

Mit einer verstörenden Selbstwahrnehmung baut Eribon seine Denkmäler. Schon als Student justiert er seinen Mehrwert. Zitat: „Meine Professoren hingegen? Talentfreie Repetitoren… Mein intellektueller Horizont unterschied sich gewaltig von dem meiner Professoren“ (S.178/79). Auch im vorliegenden Werk strapaziert er die Leselust mit ermüdendem name dropping um seine Intellektualität zu untermauern. Mit diesem Bewusstsein kehrt er jetzt in seine Heimat zurück. 30 Jahre hat er die verachtete Familie konsequent gemieden, das Sterben von Vater und Bruder ignoriert, auch die anderen beiden Brüder will er nie wieder sehen. Nur mit der Mutter geht er jetzt den Pappkarton voller Erinnerungsfotos noch einmal durch – als Grundlage des geplanten Buchprojektes. Auch wenn es um den politischen Gesinnungswandel der ehemals glorifizierten Arbeiterklasse geht, drängt sich die selbst gestellte Frage auf: Ist nicht nur die Homosexualität sondern auch der soziologische Leidensdruck Triebfeder seiner Entwicklung gewesen? Desozialisation als Befreiung, als Möglichkeit der individuellen Verwirklichung? Gibt Eribon eigentlich in seinem Werk eine ursächliche Antwort? Oder beschreibt er nur rein phänomenologisch das Wahrgenommene? Verstehen wir jetzt den Mechanismus seines Wandels und des Seitenwechsels seiner Familie?

Im Vergleich seiner Entwicklung und der seiner Verwandtschaft, gibt es eine grundlegende Übereinstimmung. Beide wechseln die Seiten. Die Verwandtschaft wechselt horizontal von links nach rechts, von der kommunistischen Partei zum Front National. Damit wechselt auch ihr politischer Gegner vom kapitalistischen Klassenfeind zum ethnischen Fremden. Eribon andererseits wechselt vertikal von unten nach oben, vom Arbeitermilieu in die Intelligenzija. Ein postmoderner Klassenwechsel. Beide tun dies offensichtlich mit einem vollständigen Bruch. Bemerkenswerterweise behält der inzwischen etablierte Professor das antikapitalistische Wertesystem bei, auch wenn er selbst sein angestammtes Arbeitermilieu verabscheut.

Warum wechselt die Familie die politischen Fronten? Der Autor skizziert kurz drei Gründe: die wirtschaftliche Situation, die soziale Beziehung und der politische Diskurs. Beim letzten Punkt seien die Parteien im besonderen Maße gefordert, die „negativen Leidenschaften …der populären Klassen auszumerzen … oder zumindest zu neutralisieren“ (S. 146). Eribons Mutter beantwortet die Frage mit dem Alltag. Nach dem Ende des Algerienkrieges strömen Araber nach Frankreich und siedeln am unteren Gesellschaftsende. Also ihrem gefühlten Territorium. Sie fürchtet sich vor den arabischen Jugendbanden, die das Viertel terrorisieren. Sie kann die Todesschreie des geschächteten Schafes in der maghrebinischen Nachbarwohnung nicht länger ertragen. Sie ekelt der Fäkaliengeruch der Nachbarkinder im Treppenhaus, die dort ihre Hinterlassenschaft breittreten. Deshalb flüchtet sie mit ihrem Mann in einen anderen Stadtteil. Und wählt fortan rechts außen. Als Denkzettel gegen die etablierten Entscheidungsträger, die den Wandel initiiert haben, und als Frontalangriff gegen die dunkelhäutigen »crouilles« (feigen Säcke).

Diese Autobiographie ist das, was eine Autobiographie ist: ein Mensch rückt sich selbst in den Mittelpunkt, weil er sein Sein für mitteilungswürdig hält. In der Tat macht uns Eribon mit überraschenden und erhellenden Details seines Lebens, seiner wechselnden Milieus und des französischen Unterschichtsdasein vertraut. Hier wird viel Exemplarisches und damit Grundsätzliches vereint. Die Selbstdarstellung an die Adresse einer anonymen Öffentlichkeit hat aber auch etwas Exhibitionistisches. Grenzen werden verletzt, Erniedrigungen werden begangen, etwa wenn es um sehr private Einzeleinheiten aus dem Leben seiner Großeltern, Eltern und Brüder geht. Muss das sein?

Ermutigend bleibt jedoch Eribons Lebensmotto, ein Zitat von Jean-Paul Sartre: „Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat“, was vielleicht auch zur Symbiose von Gesellschaft und Individuum beitragen könnte.  Note: 3 (ur) <<

 

 

>>Eine schonungslos ehrliche Autobiographie und zugleich eine vernichtende Analyse des französischen Gesellschaftssystems und seiner Elitenrekrutierung. Der Prozess der Identitätsfindung Eribons aus dem Beziehungschaos elterlichen Arbeitermilieus ist geprägt durch soziale und sexuelle Scham. Zugleich sind aber auch Klassenzugehörigkeit und Homosexualität die Faktoren die die Metamorphose des Erzählers zum Bürgerlichen prägen. Der Bruch mit dem Elternhaus, den Brüdern, der Herkunft, der Provinz, ist unausweichlich. Eine vorübergehende  „Rückkehr“ nach Reims ist nur aus dem Abstand von mehr als 30 Jahren aus Recherchegründen möglich, ein wesentlicher Teil der Autobiographie speist sich aus Gesprächen mit der dort lebenden  Mutter über Kindheit und Jugend. Die Schilderungen des Herkunftsmilieus der Eltern und Großeltern (Zigeunerfabel/Episode der Geschorenen) , der Ehewahnsinn vor den Augen der Kinder, der Anpassungsprozess des Erzählers durch ein von bürgerlichem Habitus und ständischen Privilegien geprägtes Bildungs- und Universitätssystem, das Bekenntnis zur sexuellen Identität und die damit verbundenen Irritationen nicht nur im kleinbürgerlich-provinziellen Raum, all dies ist eindrucksvoll und überzeugend. Diskutabel ist,  dass der Focus der Selbstinterpretation der Erzählerbiographie – angereichert durch einen mich überfordernden Sartre-Foucault-Bourdieu Parforceritt, ausschließlich auf dem soziologischen Erklärungsmodell liegt und psychologische Verhaltensmuster  fast gänzlich ausschließt. Diskutabel ist auch, dass die Analyse der Veränderung der kommunistischen Partei und ihrer Wählerschaft hinsichtlich der Bedeutung der Front National am Beispiel der Elterngeneration (Klassenantagonismus wird durch nationale und ethische Komponente ersetzt, Alltagsrassismus, Aufkündigung der Solidarität, Migrationspolitik schon als Folge des Algerienkriegs etc.)  zu kurz greift.

Mich fasziniert an diesem Buch, dass ein inzwischen wichtiger französischer Intellektueller beispielhaft zeigt, wie bedrückend Lebensentwürfe jenseits von Normalität und Normativität gerade in der französischen Ègalité- Gesellschaft verlaufen können.  Professor Eribon schlussendlich aber doch ein „Gelinger“, sein Schlusssatz gegenüber der Mutter allerdings misslungen.   Note:  2+ (ai) <<

 

>> Didier Eribon stellt sich in Rückkehr nach  Reims einer dreifacher Herausforderung. Einmal eine schonungslose Analyse seiner schwierigen Kindheit in einem Arbeitermilieu, verstärkt durch seine Homosexualität, die er natürlich dort nicht ausleben kann und seine Versuche durch Bildung in bessere Kreise aufzusteigen. Dann eine mit unzähligen Verweisen auf Baldwin, Foucault, Bourdieu, Wideman, Sarte, u.a. allzu wissenschaftlich aufgeladene , aber sehr kluge soziologische Abhandlung über Sein und Bewusstsein und schwuler Identität in der  französischen Gesellschaft und nicht zuletzt noch der Versuch, der politisch äußerst aktuellen Frage nachzugehen, warum sich die französische linke Wählerschaft der KP und den Sozialisten  ab- und dem Front National zugewandt hat.

Sein Vater, vom Klassenbewusstsein her Kommunist, ist ihm völlig fremd: „Mein ganzes Leben lang hatte ich kein einziges Gespräch mit ihm geführt“. Er schämt sich seiner Herkunft, erschütternd die Schilderung einer zufälligen Begegnung mit seiner Großmutter in Paris. Sein Dilemma: Er hat die gesellschaftliche Hierarchie verinnerlicht, die er politisch zu bekämpfen vorgibt. Er steht an der Seite des Volkes, aber nicht an der Seite seiner eigenen Familie, die eben aus diesem Volke kommt. Seine Mutter heiratet 1950, arbeitet als Putzfrau und ist überzeugt, dass sie eine gebildete Frau hätte werden können, wenn sie nur den richtigen Mann geheiratet hätte. Aber die Gesetze der „sozialen Endogamie“ sind starr.  Als 13 Jähriger verliebt er sich in einen Mitschüler aus der Oberschicht und hat damit zum ersten Mal Kontakt mit einer für ihn fremden Welt, die ihm aber sehr imponiert. Seine Jugend ist im Großen und Ganzen aber geprägt von Beleidigungen als Schwuler. („Ich bin ein Produkt von Beschimpfungen“). Seine Selbsterschaffung als Intellektueller schafft die Distanz zum Herkunftsmilieu. Um sich „distinguieren“ zu können, verwendet Eribon als Heranwachsender zunehmend ein feines Vokabular und raffinierte grammatische Wendungen. Als 17 Jähriger wird er Teil der schwulen Welt und erhält seine informelle, kulturelle Prägung. Er bekennt sich zu seiner sexuellen Identität und reißt sich endgültig aus seiner sozialen Herkunft. Sein Bruder wurde Metzger, er studiert Philosophie. „Indem er mir ein Gegenbeispiel lieferte, wurde mein Bruder mein Maßstab“.
Eindringlich auch seine Bestandsaufnahme des französischen Bildungssystems, in dem sich die Eliten fast ausschließlich aus sich selbst rekrutieren. Er merkt erst viel zu spät, dass er mit seinem Uniabschluss letztlich nicht viel anfangen kann und dass der Wert von der sozialen Position abhängt.

Dass sein Vater sich als Kommunist dem Front National zuwendet, sieht er als eine Art Notwehr der unteren Schichten, die versuchen ihre kollektive Identität zu verteidigen. Der Wandel begann schon 1981, als sich nach dem Sieg Mitterands Enttäuschung und Ernüchterung breit machten. Der Wesenskern der Linken wurde entleert. Nicht mehr von Ausbeutung und Widerstand war nun die Rede, sondern von „notwenigen Reformen“. Statt von Klassen war nun von Individuen die Rede. Große Teile der Unterprivilegierten wenden sich nun einer Partei zu, die sich um sie zu kümmern schienen. Wenn die, denen man sein Vertrauen einmal gegeben hat, dieses nicht mehr verdienen, überträgt man es an andere. Die Stimme für den FN ist Ausdruck einer gewissen negativen Selbstaffirmation. Die Wähler nehmen hin, dass ihre Stimme instrumentalisiert wird, um ihrer Stimme Gehör zu verschaffen.

Ob Sarah Wagenknecht dieses Buch gelesen hat, ist nicht bekannt. Erkenntnisse lassen sich aber daraus durchaus auch für die europäische Linke ableiten.
Note: 2+ (ün) <<