Die Vegetarierin – Han Kan

Aufbau Verlag 2016  |  190 Seiten.

>> Ein  Romaneinstieg mit Sog-und zugleich Schockwirkung. Auf 4 Seiten die Bilanz einer 5 jährigen Ehe aus der  Perspektive des erzählenden Ehemanns: „Abgesehen von der Kleinigkeit“, dass die Ehefrau keinen BH trug, „lief die Ehe gut“. Dabei wurde der Leser gerade Zeuge einer an Desillusion und Pragmatismus kaum noch zu überbietenden Beziehung. Die vermeintliche „Beschaulichkeit“ erweist sich  nach traumatischen Fleischhorrortrips der Ehefrau Yong-Hye als sich beschleunigender psychopathologischer Absturzprozess. Alle Hilfsangebote vergebens, Verweigerung nicht nur von Nahrung (zunächst  tierische Produkteam Ende als Baummetamorphose genügt Wasser), auch zunehmend von Sprache, Selbstisolation, scheinbar unausweichlich der Weg in die Psychiatrie.  Dann – es war schon zu vermuten – liefert die Autorin erste Erklärungsansätze: familiäre Sozialisation, der Schlag des Vaters ins Gesicht der Tochter ( von Lieblosigkeit und Gewalt , Saufgelage etc. erfahren wir erst gegen Romanende )Zunächst muss wieder ein Traum herhalten: Hundesbiss der 9jährigen Yong-Hye, brutale Bestrafung des Hundes durch den Vater  (am Motorrad festgebunden). Wiederum sind Traumdeuter gefragt, Spekulatives, wenig Faktisches. Hinweise auf Mentalitäten, Traditionen, Kontext Südkorea – leider Fehlanzeige. Mit dem „Mongolenfleck“  der Einstieg in die Welt der Begierde. Statt Prüderie, formalisiertem Eheleben, Eintönigkeit  kommt jetzt im wahrsten Sinne Farbe ins  Spiel, nur leider sehr platt und sprachlich Softpornoniveau.  Statt Fleischverzicht etwas Fleischeslust. Da  trifft es sich gut, dass der Schwager ein Künstler ist, zumal ein Videokünstler mit ausgefallenen erotischen Phantasien. Das Objekt der Begierde: Yong-Hye, ihr Mongolenfleck der Schlüsselreiz. Es kommt nun die Stunde der „Pinselführung“ (ist sich der Übersetzer der Plattitüde bewusst?):  Location Atelier , Body-Painting, viel Blumiges, Inszenierungsfirlefanz (zunächst muss J. ran, dann versteckt die ehemalige Geliebte des Schwagers  P. nicht nur dessen Bauchansatz im Blumenmeer) und nachdem sich  Yong-Hye nicht nur sprachlich zunehmend öffnet: „Ich bin ganz feucht….“, kommt es zum vom Filmapparat präzise festgehaltenen finalen Liebesakt, der Yong-Hye und damit dem Leser die Augen öffnet für das, was ihm bisher verborgen geblieben ist. Nicht das Fleisch bedingt die Träume und damit muss auch Fleischverzicht folgenlos bleiben,  es sind die „Gesichter im Bauch“. Für mich mehr Nebel als Selbsterkenntnis. Dass In-Hye Schwester und Schwager in flgranti  beim Ehebruch ertappt und dies die Zwangseinweisung Yong-Hye in die geschlossene Psychiatrie zur Folge hat und auch In-Hyes Ehemann zunächst psychiatrisiert , dann von „Ärzten für zurechnungsfähig“  und wegen Ehebruch „verhaftet“ wird (monatelanger Gerichtsprozess, nach zahlreichen Bittgesuchen Freilassung), ist eines der wenigen Einsichten in rigide südkoreanische Moralvorstellungen (gleichzeitig aber Industrie 4.0).  Das abschließende Geschwisterkapitel – die Männer-Täter haben sich alle auf ihre Weise verabschiedet- hätte psychologisch das Interessanteste  werden können. Einerseits ist In-Hye für die Anstaltsverwahrung letztlich verantwortlich, andererseits setzt erst die Selbstaufgabe der jüngeren Schwester  In-Hye jene Erinnerungen frei, die zur Aufarbeitung der Familientragödie führen. Ja man gewinnt bei aller Zurückweisung und Verweigerung schwesterlicher Hilfe fast den Eindruck, dass Yong-Hyes zunehmendes    Ver-rück-t und Ent-rückt-Sein  bei In-Hye letzten Endes doch Verständnis für die Baummetamorphose der jüngeren Schwester auslöst. Im deutlichen Kontrast zu dieser inneren Handlung steht das äußere Geschehen. Hier dominiert die Kälte medizinischer Notwendigkeit. Die Allgemeinmedizin greift zu  Nasensonde und Zwangsernährung. Die Psychiatrie ist scheinbar am Ende des Lateins . Sterben in Würde unmöglich – stattdessen die letzte Fahrt zur Notaufnahme nach Seoul  – von der Autorin pathetisch überhöht durch  schwarzen Vogelflug und flammenlodernde Baummetaphorik.
Note: 4/5 (ai) <<

>> Die ersten vier Seiten genial. Sie zogen mich rein. Kommt selten vor. Vergleichbares noch nie gelesen. Die nüchterne und lobende Beschreibung einer Beziehung, die im Grunde keine ist. Fünf Jahre geht alles gut. Aber dann wird die Protagonistin Vegetarierin und zur „Fallgrube ohne Boden“ für ihren Mann. Psychiatrie. Mit Schlauch im Hals für die Reissuppe. Mich würgts beim Lesen. Aber es wird ja eh keiner lesen, soll ja keiner lesen. Und sonst? Kann mich an kein Buch erinnern, in dem so oft die Abkürzung BH verwendet wurde. Note: 4/5 (ax)<<

>> Morgens um vier wird Yong-Hye zur Salzsäule erstarrt in der bitterkalten Küche vor dem Gefrierschrank gefunden. Sie hatte einen Traum von der Hässlichkeit des Fleisches. Die auf dem Küchenboden ausgeschütteten tiefgefrorenen Fleischvorräte wird sie vernichten. Drei Jahre später entspricht das Lebendgewicht der hungernden Frau noch dem eines Kindes. Sie hofft vom fleischlichen Mensch zur fleischlosen Pflanze zu mutieren. Sie glaubt ein Baum zu werden. Vermutlich wird sie in der geschlossenen Psychiatrie nicht überleben.

Die Schriftstellerin beschreibt in diesem Szenenverlauf das Krankheitsbild eines Individuums – medizinisch gesehen ein besonders schwerwiegendes Syndrom aus Magersucht und Schizophrenie. Als Leser wird man verleitet, ganz unmittelbar das Patientenbild als bizarres Einzelschicksal zu deuten. Tiefgründiger scheint jedoch die mittelbare Interpretation im Kontext der asiatischen Gesellschaft – eine Gesellschaft mit einem krankhaften Kodex? Zugegeben, der Text enthält keinen direkten Verweis auf gesellschaftliche Normen, keine Anklage familiärer Unterdrückungsprinzipien, keine offenen Wertungen der Geschlechterrollen. Dennoch liefert der Plot zahlreiche Hinweise, die psychotische Metamorphose von Yong Hye als finale Abwendung vom Rollen-Alltag zu verstehen. In dem Sinne entpuppt sich das Konvertieren zur Vegetarierin als Metapher, als verzweifelte Loslösung von der Normalität eines hochgradig regulierten Daseins hin zu einer illusionären botanischen Selbstversunkenheit. Es ist die völlige, selbst bestrafende Entmenschlichung, die Verordnung Baum zu sein, nur von Wasser und Sonnenlicht erhalten zu werden und damit eben nicht mehr Mensch zu sein. Nach der körperlichen wie seelischen Nahrungsverweigerung bleibt nur das selbst verordnete Ableben. Es ist eine ernste und höchst befremdliche Vision – auch deshalb, weil die Konsequenz des Widerspruchs nicht den Widerspruch löst, sondern das Opfer sich selbst opfert. Bemerkenswert ist an dieser Stelle der Kunstgriff der Autorin mit dem harmlosesten aller Dinge, einem Baum, ein so überaus erschütterndes Bild zu malen.

Han Kang lässt einen Ich-Erzähler nur im ersten Kapitel zu: den Ehemann von Yong-Hye. Er skizziert nicht nur seine Wahrnehmung über die Veränderungen seiner Frau, sondern liefert auch einen bemerkenswerten Einblick in das familiäre Normengerüst und sein ungewöhnliches Selbstverständnis. Als absoluter Durchschnittstypus baut er sein Leben gezielt auf völlig farblose Eckpfeiler: sein beliebiger Alltag, seine bewusst anspruchslose Arbeit, die Wahl seiner gesichtslosen Frau. Liebe war nie ein Ziel. Wenn man keine Liebe hat, kann man auch keine verlieren. Ein Funktionieren durch eine perfekte Anpassung an Grau.

Er ist zunächst erbost über die vegetarischen Extravaganzen seiner Gattin, die damit verbundene Normenverletzung im Betriebskreis und die befürchteten Arbeitsplatzsanktionen. Nicht überraschend gibt er bald seinen Widerstand auf. Parallel zum voranschreitenden Verstummen und der Weigerung seiner Gattin, ihn regelkonform zu bedienen, nimmt die Entfremdung der Ehepartner ihren Lauf. Der ritualisierten Trunkenheit mit den Arbeitskollegen folgt im Rauschzustand die Vergewaltigung seiner in sich gekehrten Frau. Ehepflichten. Auf einer Familienfeier entsagt Yong-Hye erneut dem Fleisch. Der autoritäre Vater züchtigt sie vor den Augen der Verwandtschaft und stopft Fleisch in sie hinein. Sie erbricht sich, greift zum Messer und schlitzt sich die Pulsader auf. Ein langer Krankenhausaufenthalt folgt. Die Ehe bricht auseinander. Die alten Eltern quittieren die Ereignisse mit kompromissloser Ablehnung.

Verschlüsselt erscheint in diesem mit „Die Vegetarierin“ betitelten Kapitel eine zweite Ich-Erzählerin. In Form von Traumdarstellungen erfahren wir von Yong-Hyes zunehmend gewalttätigen Fleisch-, Tier und Mordvisionen. Am Ende dieser Sequenz erscheint schließlich die Metapherdeutung: „Ich habe geglaubt, das Fleisch sei daran schuld. Ich dachte, ich bräuchte nur auf Fleisch zu verzichten und hätte diese Träume nicht mehr. Erst jetzt … habe ich verstanden. Diese Gesichter leben in meinem Bauch“ (S. 121). Tatsächlich ist es nicht das Fleisch und der damit vorangegangene gewalttätige Tod. Es sind die Fratzen ihrer Familie und deren Ansprüche, die Gesichter der ehelichen Konventionen und ihre Unterdrückungsselbstverständlichkeiten, die sich in ihrem Magen festgebissen haben. Der Magen ist verschlossen. Der Mensch muss äußerlich und innerlich verhungern. Der letzte verzweifelte Versuch, sich aus der menschlichen in eine Baum-Gesellschaft zu transformieren, muss selbstverständlich scheitern. Wenn das letzte Kapitel dann heißt „Bäume in Flammen“, ist auch diese Welt verbrannt.

Im zweiten Kapitel stellt die Autorin mit dem Schwager und Ehemann von Yong-Hyes Schwester ein zweites Normenopfer/einen zweiten Normentäter in den Mittelpunkt. Beide werden literarisch verflochten, beide scheitern. Er ist erfolgloser Videokünstler, der mit nekrotischen Konzentraten von Weltuntergang, Krieg und menschlicher Niederträchtigkeit wenig Aufmerksamkeit und keinen Unterhalt für die Familie erreicht. Wie Yong-Hye, aber eben anders, entspricht auch er nicht den gesellschaftlichen Erwartungen. Auch er erlebt eine quasi botanische Wandlung, indem er eine künstlerische Obsession entwickelt: auf nackte Körper gemalte Blumenmeere. Mit dem Zurücklassen deprimierender Katastrophenfixierung erfolgt eine Hinwendung zu farbenfroher Körperlichkeit. Ausgangspunkt dieser neuen Faszination ist die Fetischierung einer Anomalie: Mongolenflecke, die auch koreanische Kinder als Hautpigmentierung entwickeln. Erwachsene verlieren typischerweise den Mongolenfleck, Yong-Hye nicht.

Nachdem Yong-Hye sich über mehrere Monate bei ihm und seiner Frau vom Krankenhausaufenthalt erholt hatte, blüht seine Begierde fokussiert auf den Mongolenfleck von Yong-Hye auf. Sie ist inzwischen geschieden. Ihr Körper wird es sein, den er in stundenlagen Videoprotokollen mit Ihrer Zustimmung verziert. Nach der Weigerung eines ebenso bemalten Künstlerkollegen, sich zu einem schlingpflanzenartigen Gewächs mit ihr sexuell zu vereinen, übernimmt er selbst die Rolle. Yong-Hye wirkt zurückgenommen, letztlich jedoch stimuliert, nachdem er pflanzlich verfremdet ist. Die ekstatische Vereinigung wird zur Katastrophe, da Yong-Hyes Schwester zufällig in die pornographische Szene gerät. Mit den detaillierten Videobeweisen wird der Schwager juristisch belangt und Yong-Hye der geschlossenen Psychiatrie übergeben. Diese wird sie nie wieder verlassen. Er wird untertauchen und wie zuvor schon Frau und Kind vernachlässigen.

Im Schlusskapitel richtet Han Kang den Lichtkegel auf die Schwägerin. Sie ist die einzige, die den Kontakt zur Schwester in der Psychiatrie hält, obwohl diese sie mit ihrem Mann betrog. Die Eltern brechen bezeichnenderweise auch mit der betrogenen Tochter, da durch die Tat ihres Gatten auch sie befleckt sei. Die Einsamkeit und der Verrat an ihrer Seele werden zunehmend infektiös und breiten sich rasant in ihr aus. Die wöchentliche Teilhabe am beschleunigten Verfall Yong-Hyes konfrontiert sie zunehmend mit sich selbst. Todesgedanken drängen sich auf, ein Sprung vor die einfahrende U-Bahn wäre so einfach, die blutenden Gebärmutterpolypen kündigen vielleicht vom nahenden Ende, der Lebensrückblick ist niederschmetternd. Die dahinsiechende Yong-Hye wird zu ihrem Spiegelbild.

Schon als Kind war Yong-Hye vom cholerischen Vater gedemütigt worden. Der betrunkene Vater schlug die stille Yong-Hye – nicht die ältere Schwester. Sie entging der Gewalt, weil sie die Versorgung des Vaters anstelle der erschöpften Mutter übernommen hatte. Und was danach kam, war eine lieblose Ehe mit einem egomanischen Videokünstler. Doch so fern der eigene Gatte und ihre Schwester ihr sind, so nahe rücken sie paradoxerweise in das Hier und Jetzt, das vielleicht kein morgen kennt. „Wenn nicht ihr Mann und Yong-Hye die Ersten gewesen wären, die Grenzen überschritten und damit ihre heile Welt zerstört hatten, dann wäre es wahrscheinlich sie selbst gewesen, die sich aufgelöst hätte…“ (S.188). Der Buch Text endet mit einem Fragezeichen. Wird auch sie ihre vermeintlich heile Welt hinter sich lassen?

Ist das Werk auch eine kritische Geschlechterbilanz? Dass die Autorin in der Tat eine Rollenkritik impliziert, kann schon aus der Personalbeschreibung abgeleitet werden. Han Kang lässt alle Männerfiguren des Romans befleckt erscheinen: der inhaltlose Gatte Yong-Hyes, der gewalttätige Vater, der ich-besessene Schwager. Frauen dagegen sind Opfer genau dieser Männer und damit auch der patriarchalischen Gesellschaft: die unterdrückte Yong-Hye, die betrogene Schwester, die ausgelaugte Mutter.

Han Kang schafft es mit einer schlichten Sprachgebung einen beklemmend-fesselnden Plot zu inszenieren. Im Rahmen der Dialoge entsteht jedoch gelegentlich der Eindruck beschädigter Übersetzungen ins Deutsche. Ebenso begegnet man im Verlauf der Geschichte gewissen literarischen Verwerfungen wie bei den erstaunlich prompten Konsequenzen auf das floristische Pornomotiv. Auch wenn die Geschichte in Korea angesiedelt ist, sind viele dargestellte Elemente zwischenmenschlicher Repressionen sicher unabhängig vom Kulturkreis. Note: 2 – (ur)<<

>> „Verstörend“ ist eine Beschreibung, die in den Rezensionen zu diesem Werk der koreanischen Schriftstellerin Han Kann häufig vorkommt. Ich kann mich dem nicht anschließen. Dazu ist eine tiefe, emotionale Berührung unabdingbar, die sich bei mir nicht eingestellt hat. Note 4/5 (ün) <<