Über Grenzen denken – Julian Nida-Rümelin

  edition Körber-Stiftung  2017  | 241 Seiten.

>> Die ersten drei der zehn Kapitel des Buches eignen sich mit ihren allgemeingültigen philosophischen Aussagen ideal für eine Mehrfachnutzung. Anspruchsvolles Nachdenken über ethische Pflichten, Verantwortung und über Kommunitarismus versus Kosmopolitismus. Erst ab Seite 83 nähert sich der Autor dem Thema Migration an. Dabei werden Probleme erwähnt, die in der aktuellen Diskussion immer wieder ausgeblendet werden. So zum Beispiel die negativen Auswirkungen der Migration für die „Zurückbleibenden“, vor allem auch dann, wenn es sich bei den „Migrierenden“ um gut ausgebildete Menschen handelt. In Deutschland wirkt sich die Migration völlig unterschiedlich auf Unter-, Mittel- und Oberschicht aus. Probleme entstehen nur für die Unterschicht (Konkurrenz Wohnraum, Arbeitsplatz), die anderen können eher gewinnen (Beschäftigung von billigen Arbeitskräften).
Seine Kernthese lautet: “Die Aufnahme von Armutsflüchtlingen aus dem globalen Süden in den reichen Ländern des globalen Nordens, also in Nordamerika und Europa, ist kein vernünftiger Beitrag zur Bekämpfung von Weltarmut und Elend.“ (Seite 24). Die Integration von Kriegsflüchtlingen hält Nida-Rümelin nicht für sinnvoll, da die Schutzgewährung nur vorübergehend sei. Das Elend von über zwei Milliarden Menschen sei auch bei großzügigster Willkommenskultur und offenen Grenzen nicht lösbar.

Bei der Frage nach den Ursachen spart der Autor die Mitverantwortung des Westens für das Chaos im Nahen Osten und in Nordafrika nicht aus (Interventionismus, Irakkrieg). Dazu kommt die mangelnde Solidarität gegenüber den Anrainerstaaten und auch gegenüber Italien, Griechenland oder Spanien. Die Lösungsvorschläge sind nicht ganz neu: eine gerechte Weltwirtschaftsordnung, Armutsbekämpfung vor Ort, keine subventionierten Exporte von Nahrungsmitteln in den Süden, keine Spekulation im globalen Lebensmittelhandel.

Die Verteidigung der Schröderschen Agenda ist nicht nachvollziehbar und erklärt sich höchstens aus der Biographie des Autors.Etwas sybillinisch die Schlusssätze:“Urteilskraft hat ihren Preis. Ohne Zivilcourage bleibt sie wirkungslos.“ Lohnende Lektüre.
Note 2/3 (ax) <<

>> Über Grenzen denken ist der doppeldeutige Versuch über nationale Grenzen nach- und hinauszudenken. Im Jahr 2017 geht es – nicht überraschend – um die Migrations- und insbesondere um die Flüchtlingsproblematik. Nida-Rümelin nähert sich diesen Aspekten aus einer politisch-philosophischen Richtung und verbindet abstrakte Überlegungen mit realpolitischen Lösungen. Ausgehend von grundsätzlichen Fragen der Ethik und ausgewiesenen philosophischen Strömungen im ersten Buchabschnitt versucht der Autor in der zweiten Hälfte des Buches sieben Postulate zu begründen, die in Zukunft konkretes Handeln bestimmen sollten. Ist das geglückt?

Nida-Rümelin präsentiert sich als ethischer Realist, dem wenige Verbündete zur Seite stünden. Kohärentistisches Ethikverständnis, Kommunitarismus versus Universalismus, Präskriptivismus und utilitaristische Theorie, kontraktualistische Versuche und Locke´sche Individualrechte lassen die wissenschaftlichen Grundlagen des Philosophen für den ungeübten Leser eher bedrohlich erscheinen. Fairerweise warnt der Autor philosophische Flachschwimmer vor den bevorstehenden stürmischen Gewässern. Beruhigend dann aber die Tatsache, dass in der Buchmitte die intellektuelle See ruhiger wird.

Nida-Rümelin versucht eine kosmopolitische Verantwortung für die Weltbevölkerung als Ganzes mit nationalen Interessen jeder Region organisch zu verbinden. Dazu gehört auch die Notwendigkeit von Grenzen und das Selbstbestimmungs- und Abgrenzungsrecht von Nationen. Andererseits verweist er auf eine globale Verantwortung. Obwohl die weltweite Nahrungsmittelproduktion für die globalen Ernährungsbedürfnisse ausreicht, hungern Millionen von Menschen. Die Ursachen sind vielfältig und beruhen vor allem auf Kriegen und Bürgerkriegen, zynischer Politik lokaler Eliten und globalen Marktprinzipien mit einigen Gewinnern und vielen Verlierern. Armut – gemessen an Bildungszugang, Gesundheitsversorgung, Ernährung, Unterkunft und menschenwürdigem Leben – trifft ein Drittel der Weltbevölkerung.

Eine theoretische Lösung, diese sogenannte „bottom billion“ zu versorgen, könnte in der Migration in wohlhabende Weltregionen liegen. Aus kosmopolitischer Sicht jedoch hält Nida-Rümelin die Armutsmigration für die schlechteste Form der globalen Armutsbekämpfung. Gründe für die Negativbewertung sind die sozialen, kulturellen und psychischen Überforderungen der Aufnahmeregionen sowie der Flüchtlinge selbst, wozu er Studien aus verschiedenen Weltregionen zitiert. Zuletzt würden nicht nur die Sozialsysteme unterminiert. Im Vorfeld würden bereits die politischen Systeme durch populistische Gegenbewegungen (Front National, AfD etc.) kollabieren. Eine Entschärfung der Systemspannungen über die zügige Integration in den Arbeitsmarkt sei ebenfalls unrealistisch, da die hochtechnisierten Wirtschafts- und Produktionssysteme des globalen Nordens die nicht- oder unterqualifizierten zugewanderten Menschen kaum eingliedern können.

Eine Verantwortungsethik stößt zudem auf weitere Probleme. Im Deutschland der letzten zwei Jahre waren zwei Drittel der Geflüchteten Männer – mehrheitlich im Alter zwischen 14 und 34 Jahren. Dieser ausgeprägte Gender-bias suggeriert eine sozioökonomisch motivierte Migration und nicht nur eine Flucht vor Bürgerkriegen. Die Schwächsten jedoch, Frauen, Kinder und Alte, bleiben in den Krisenregionen zurück. Die praktizierte Hilfe erreicht damit die Robustesten (also junge Männer) und nicht die Hilfsbedürftigsten. Gleichzeitig wäre die Verweigerung von Hilfe gegenüber den in Deutschland/der EU gestrandeten Flüchtlingen unethisch, selbst wenn die eingesparten/den hiesigen Flüchtlingen verweigerten Mitteln den Bedürftigsten in den Fluchtländern zukommen würden. Damit ergibt sich ein ethisches Dilemma, da in jedem Falle eine Pflichtverletzung begangen wird. Der Mensch muss akzeptieren, dass er schuldig wird, egal was er Gutes tut.

Der Autor verweist auf die Genfer Flüchtlingskonvention, die eine gestaffelte Antwort vorsieht. Demnach sind Flüchtlinge zunächst ortsnah zum Konfliktherd (im eigenen oder Nachbarland) unterzubringen, wobei die Weltgemeinschaft die Kosten zu tragen habe. Die Unterbringung zielt ausschließlich auf den vorübergehenden Schutz und nicht auf die Integration im Gastland. Das Ziel muss die Rückkehr und der Wiederaufbau des eigenen Landes durch die vertriebenen Menschen sein. Problematisch wird es allerdings, wenn der Konflikt zu lange anhält. (Anmerkung: Das gegenwärtige, deutsche Vorgehen, setzt diesen Gedankengang quasi außer Kraft, in dem es für alle Flüchtlinge Integrationsverpflichtungen vorschreibt und für die Mehrheit von Anfang an die Nicht-Rückkehr als gegeben annimmt.)

Als einen wesentlichen Faktor zur nachhaltigen Überwindung von Armut macht Nida-Rümelin die Wechselbeziehung zwischen Kultur und Wirtschaft aus. Eine prosperierende, umverteilende Wirtschaft ermöglicht Wohlstand. Wohlstand ist nur durch eine Kultur des gegenseitigen Vertrauens möglich. Denn nur dieses Vertrauen erlaubt langzeitstabile Kooperationsstrukturen als Grundlage einer erfolgreichen Volkswirtschaft. Zwingend ist zudem der sozialstaatliche Ausgleich, um die flächendeckende Bildung einer Mittelschicht zu garantieren.

Der entfesselte wie auch der korrupte Markt führt zu politischer Instabilität. „Die Reformen der Agenda Gerhard Schröders haben zwar auch den deutschen Arbeitsmarkt teilweise dereguliert, aber in Verbindung mit sozialstaatlichen Fördermaßnahmen (Fordern und Fördern) einen bis heute anhaltenden drastischen Rückgang der Arbeitslosigkeit bewirkt und die Voraussetzungen für die (stabile) Erholung der deutschen Volkswirtschaft von den schlecht gemanagten Vereinigungsfolgen ermöglicht.“ (S.131f.) Weiter folgert er, dass es keine grenzenlosen Migrationsbewegungen ohne Grenzen geben darf, will man nicht die hoch entwickelten Sozialsysteme zerstören. Die gewachsenen Solidaritätsstrukturen würden im Migrationsgeschiebe eines ent-grenzten Arbeitsmarktes zusammenbrechen, da es zu einer fatalen Standortkonkurrenz kommen würde (S.133).

Die Attraktivität Deutschlands und der daraus resultierenden Arbeitslosenquote unter Migranten aus nicht-europäischen Ländern von über 50% (im Gegensatz zu ca. 6% bei deutschen Staatsbürgern in 2016) wird entsprechend auf einen Sogeffekt der hiesigen Sozialleistungen zurückgeführt. Falsch ist die Annahme, dass sich die jüngste Immigration nach Deutschland in absehbarer Zeit positiv auf die demographische Problematik auswirkt. Eine zu große Zahl zugewanderter Menschen bleibt auf absehbare Zeit ohne Arbeit oder in jenem Arbeitsmarktsegment, in dem keine wesentlichen Beiträge in die Rentenkassen erfolgen können. Im Gegenteil muss diese Population selbst alimentiert werden und entspannt damit weder den Arbeits- noch den Rentenmarkt. Ferner würde die Migration in den Herkunftsländern ein Ausbluten verursachen, dass auch durch Rückzahlungen der Migranten nicht kompensiert wird.

Von diesen Überlegungen ausgehend formuliert der Philosoph Nida-Rümelin sieben Postulate. 1) Migrationspolitik muss darauf abzielen die Welt gerechter zu machen. 2) Migration muss so gestaltet sein, dass sie in den Gastländern nicht als bedrohlich wahrgenommen wird. Durch Teilhabe aller müsse dabei die republikanische Identifikation mit dem Gastgeberland gefördert werden. 3) Das Selbstbestimmungsrecht der jeweiligen Bürgerschaft muss unberührt bleiben. 4) Migration darf die sozialen Unterschiede im Gastgeberland nicht verschärfen. Erfahrungsgemäß konkurrieren die Migranten mit den unteren Gesellschaftsschichten auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt und um Sozialleistungen. 5) Nachteile, die sich durch Migration in den Herkunftsländern ergeben wie der brain drain müssen von den Gastgeberländern voll kompensiert werden. 6) Migrationsursachen sollen durch eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung aufgehoben werden. 7) Verlange von der Politik nichts, was Du nicht auch im Privatleben bereit bist umzusetzen.

Verschwommen bleiben die Wege hin zu diesen Zielen. Unbeantwortet lässt Nida-Rümelin grundsätzliche Fragen und Widersprüche. Der Anspruch auf nationale Selbstbestimmung und damit Grenzen und Abgrenzung scheint unvereinbar mit seiner Forderung nach einer globalen Weltsozial- und Innenpolitik. Zu diesem Zweck sollen globale Institutionen eingerichtet werden. (Erfolglose) Vereinbarungen zwischen Nationen würden sich damit erübrigen. Als Negativbeispiel zitiert er das Weltklimaabkommen. Diese Änderungen sollten von einem zweiten Paradigmenwechsel begleitet werden: statt Transferpolitik (Kompensationsleistungen des globalen Nordens an den globalen Süden) soll es eine Ordnungspolitik globaler Gerechtigkeit geben. Der Wandel soll nicht durch Demokratieexporte erfolgen, da der jeweilige regionale Wandel aus den betroffenen Gesellschaften selbst kommen muss. Das Scheitern des arabischen Frühlings habe dies eindrücklich verdeutlicht. Direkter Handel mit kleinen Kooperativen statt mit den Oligarchen der Regionen soll die politische Mobilisierung fördern. Transferpolitik einerseits aufzugeben und andererseits umfangreiche Transferkompensationen für einen brain drain in den Fluchtländern zu fordern (Postulat 5) ist ein weiterer Widerspruch im Gedankengebäude des Philosophen.

Etliche Visionen klingen so ermutigend wie illusionär. Wenn schon ein homogener Kulturkreis wie die EU zu keiner gemeinsamen Migrationspolitik findet, kann dann eine heterogene Weltgemeinschaft erfolgreicher sein? Wohl kaum. Über Grenzen denken liefert Denkanstöße – und übrigens einen informativen, detailreichen Anhang. An einigen grundlegenden Stellen wäre es jedoch nötig gewesen, prinzipielle Grenzen als gegeben anzuerkennen, um der Wirklichkeit näher zu kommen.
Note: 3- (ur)<<

>> Die „Ethik der Migration“ ist gut gemeint, in den ersten drei  Kapiteln mit einem breiten Exkurs in die Philosophiegeschichte sehr theorielastig vorbereitet, bleibt aber als praktische Handlungsanweisung mehr als vage. Gut ist Nida-Rümelins klare Differenzierung von Armutsmigration, politischem Asyl und Kriegsflüchtlingen . Diskutabel ist seine provokante These, dass die Aufnahme von Armutsflüchtlingen ethisch und politisch nicht verantwortbar ist (Lebensgefahr der Migrierenden, kulturelle Verluste der Migrierenden, sozioökonomische Verluste der Elendsregionen, Integrationskosten  und nationalstaatliche Identität), seine Forderung von Kompensationszahlungen des reichen Norden an den Süden könnte angesichts korrupter Eliten braindrain eher befördern als verhindern. Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen nur temporären Schutz zu bieten (Rückkehrpflicht nach Kriegsende) und damit Integrationsangebote zu hinterfragen, bleibt angesichts von Dauerkonflikten (Syrien, Afghanistan, Irak) fragwürdig. Fragwürdig ist aber ebenso, wenn demographische Prozesse  in Industriestaaten (Schrumpfung, Fachkräftemangel) Migration legitimieren (s. Einwanderungsgesetze), das ist das Gegenteil von win-win.

Was Nida Rümeiin „Auf dem Weg zu einer gerechten Gesellschaft“ anbietet (Kap.X) , Ende der Transferpolitik (nebulös  die Kategorie „Ordnungspolitik globaler Gerechtigkeit“, Aufbrechen oligarchischer Strukturen, politische Mobilsierung der unterentwickelten Länder von innen, Aufbau globaler Institutionen, ja gar eine „institutionalisierte Weltinnenpolitik“ erscheint angesichts realpolitischer Machtpolitik utopisch. Hilfreicher wären Antworten auf Fragen gewesen: Wie lassen sich Fluchtursachen bekämpfen? Gibt es beim Grenzschutz auch ethische Grenzen ? Wie kann Integration gelingen?

Wer die Frage nach der Ethik der Migration stellt, muss auch die Frage stellen: Gibt es eine universelle Ethik? Vor allem Imame in den Moscheen sollten sie beantworten.
Note: 3 (ai) <<

>> Nun also noch ein Debattenbeitrag zur Migrationsproblematik von philosophischer Seite. Niada-Rümelin greift tief in die philosophische Begrifflichkeiten von Moral, Ethik, Kommunitarismus, Kosmopolitismus, Partikularismus und Universalismus. Das ist erkennbar dem wissenschaftlichen Anspruch geschuldet, wie auch die umfangreichen, aber lesenswerte Anmerkungen, die alleine 40 Seiten seines 240 Seiten umfassenden Essays einnehmen, mit dem er politische Fragestellungen mit philosophischen Überlegen verschränken will. Durchaus überraschend ist etwa sein Postulat, dass eine Integration von Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlingen nicht sinnvoll ist und auch die Aufnahme von Armutsflüchtlingen eine extreme Benachteiligung derjenigen ist, für die die Flucht nach Europa aus den verschiedensten Gründen nicht möglich ist. Nach seiner Ansicht gehört es zu den ureigensten Rechten eines Volkes, darüber zu bestimmen, ob und gegebenenfalls wieviel Migration in sein Land es erlauben will. „ Es gibt keine moralischen Gründe, die sie zwingen könnten, dieses Selbstbestimmungsrecht aufzugeben.“ Damit hat jedes Land natürlich das Recht, seine Grenzen zu kontrollieren. Offene Grenzen lindern das Leid in den Herkunftsländern nicht wesentlich, schwächen diese Ländern aber beträchtlich und können in den aufnehmenden Ländern zu beträchtlichen sozialen Verwerfungen führen. Seine „Wege zu einer gerechteren Welt“ bleiben allerdings doch  etwas banal, so etwas der Vorschlag „ globale Institutionen“ aufzubauen oder vage, wie der von „dem Wechsel von einer Transferpolitik“ zu einer „Ordnungspolitik sozialer Gerechtigkeit“. Auch der Vorschlag, dass Bürgerkriegsflüchtlinge von umliegenden Staaten nach einem fairen Verteilungsschlüssel aufgenommen werden, wirkt angesichts der realen Weltlage etwas blauäugig.
Was völlig fehlt, ist ein ganz praktischer Vorschlag, wie die Grenzen wirksam kontrolliert werden sollen. Alles in allem aber,  ein lesenswertes Buch : Note : 2/3 (ün)