Der Reaktor-Elisabeth Filhol

K640_Der_ReaktorNautilus 2011,  122 Seiten.

>>Filhols Ich-Erzähler Yann gibt uns gleichermaßen einen Einblick ins Innere eines AKWs wie in die innere Befindlichkeit von Leiharbeitern in französischen AKWs. Arbeiten und Leben unter dem Diktat des Dosimeters, das „geringe Kapital an Millisievert“, das sind die Rahmenbedingungen. „Wie in der ersten Reihe am Schützengraben, wer fällt, wird sofort ersetzt.“  Der DSEA-Arbeiter  (jährliche Strahlenexposition 20 Millisievert „aufgebraucht“) ist bis zur „nächsten Saison aus dem Spiel.“ Nüchtern bilanzierend werden Menschen auf „Neutronenfutter“ und „Remfleich“ reduziert und es will sich wenig einstellen von der Faszination der Technik, von der Bläue des Tscherenkow-Effekts, von dem Gefahrenkitzel, der sich neben der Lohntüte als Motivationsquelle dieser modernen Nuklearnomaden. Dem Wartungstakt der Meiler an der Loire oder der Gironde folgend ersetzen sie vielfach vor allem bei gefährlichsten Reparaturarbeiten  die  „Sesshaften“, die Festangestellten oder leisten die „Drecksarbeit“ beim Entkalken der Kühltürme. Männerbündisches (ohne jedes Heldengebaren) ersetzt die Familie, der Wohnwagen wird Lebensraum, Intimität Fehlanzeige. Freundschaften erweisen sich als Zweckgemeinschaften, unter Hochrisikobedingungen gilt punktgenaues Funktionieren und Verlässlichkeit. Wer aus welchen Gründen die nächste Leitersprosse hinab in „das klaffende Loch eines Betonsarkophags“ verweigert, wer kneift, der ist out, noch bevor er den Campingplatz erreicht, wissen alle Bescheid. Der Selbstmord von Yanns Freund Luc zeigt am deutlichsten, welch psychischen Druck diese Arbeitsbedingungen erzeugen können. Verlässt einer im Dreierteam „mitten im Einsatz das Boot“, dann wird „die kollektive Dosis“ nicht mehr „gerecht“ verteilt, Luc scheint an diesem seinem „Versagen“ zerbrochen zu sein. Es hätte nicht der Tschernobyl-Kapitel bedurft, um zu zeigen, dass die Atomtechnologie verantwortungslos ist.
Filhols Stärke ist, dass sie keine Anti-AKW-Kampfschrift verfasst hat, sondern eine sensible Bestandsaufnahme der Psyche von Leiharbeitern. Dass ihr Ich-Erzähler Yann nach diesem Roman den Dienst nicht quittiert, bleibt unverständlich. Note: 2 (ai)<<

>> Sachlich, nüchtern, lapidar schildert Ich-Erzähler Yann seine Arbeit als Leiharbeiter in verschiedenen französischen Atomkraftwerken. Man nimmt es Yann ab, dass unter den „Nuklearnomaden“ , wenn auch zaghaft, doch  so etwas wie Freundschaft und Solidarität entstehen kann. Auch vor allem die Ängste und Sorgen um die Gesundheit einerseits und den Arbeitsplatz andererseits werden eindringlich dargestellt. Alle Passagen jedoch, die die Faszination der Technik bis in alle atomphysikalischen Einzelheiten darstellen, wirken bei Yann irgendwie deplatziert und künstlich arrangiert. Insofern halte ich die Konstruktion des Buches für misslungen. Aller Ehren wert ist jedoch das Anliegen einer französischen Autorin, in ihrem erschreckend atomunkritischen Land den Versuch einer literarischen Annäherung an diese Thematik zu unternehmen. Note: 2/3 (ün)<<

>>Das atomare Frankreich ist überspannt von dünnen Netzen sozialer Geflechte. Es sind die vagen Beziehungsfäden der nuklearen Wanderarbeiter untereinander, die als Leiharbeiter von Kraftwerk zu Kraftwerk ziehen. Im Rhythmus der Revisionszyklen dringen sie in die intimsten Eingeweide der Primärkreisläufe ein, verrichten dort im Minutentakt ihre schlichten Reinigungsarbeiten und kämpfen gegen die Radioaktivität-zählenden Dosimeter auf ihrer Brust. 20 Millirem Strahlenbelastung ist das Kapital jedes Einzelnen im Laufe eines Jahres. Wird dieser Wert überschritten, folgt unwiderruflich die Freisetzung, das zwölfmonatige Einsatzverbot, der Einkommensverlust und die noch bedrohlichere Leere. Es ist eine Gemeinde selbstversunkener Männer, eine Glaubensgemeinschaft, die sich der schwankenden Gnade der Atommeiler ergeben hat. Diese Männer sind nicht nur Nomaden des Arbeitsmarktes, sondern auch des Ichs. Und trotzdem leben sie angesichts des die Unversehrtheit bedrohenden Alltags miteinander eine unspektakuläre Wahrhaftigkeit. Yann, die Hauptperson des Romans, ist einer von ihnen, der mal mit Jean-Yerves, mal mit Luc, mal mit anderen wochenlang ein Wohnwagenquartier teilt, bis die Cowboys des Industriezeitalters sich wieder verlieren.
Der Roman kleidet sich in das Gewand einer literarischen Sozialstudie; mitunter feinsinnig, unaufdringlich, gelegentlich poetisch. Bemerkenswert ist, dass es der Autorin gelingt, über diese Seelenansichten den kritischen Zugang zur Nuklearmaschinerie zu vollziehen, ohne dafür Anklagen oder faktenverliebte Technologiebetrachtungen bemühen zu müssen. Untergründig wirkt der Roman suggestiv politisch, obwohl oder gerade weil (?) er die Kernkraft als Naturgesetzmäßigkeit erscheinen lässt.
Im Imposanten der kraftvollen Verdampfer, Kreislaufröhren und Kühlturmbauten verbirgt sich das prinzipiell Bedrohliche. Das paradiesische Kühlwasser-Blau ist betörend und doch letal. Ebenso widersprüchlich die Wahrnehmung amtlicher Direktiven: die Halbierung der zulässigen Grenzwerte dient dem Arbeitsschutz und ist gleichzeitig eine Bedrohung des Arbeitsplatzes. Letztlich ist die seelische Anspannung zwischen den Reißzähnen des nuklearen Monsters so erdrückend, dass mehrere Männer wie auch Yanns Freund  sich das Leben nehmen. Spätestens hier wird der Leser emotional von der zurückhaltenden Sachlichkeit des Buches erfasst. Spätestens hier beginnt die hintergründige Technologiekritik zu wirken. Ein Erstlingswerk, das noch mehr erwarten lässt. Lesenswert, wenn auch noch nicht fluoreszierend. Note: 2– (ur)<<

>>Die sogenannte zivile Nutzung der Kernenergie hat erst in jüngster Zeit Eingang in die Belletristik gefunden, wenn man einmal von Gudrun Pausewang absieht. Die epochale Publikation des Klett-Verlags zu Tschernobyl gehört eher in den Bereich der Sachliteratur. Der erste erfolgreiche Roman zu dieser Thematik erschien erstaunlicherweise in Frankreich. Der Originaltitel „La Centrale“ kann in seiner Mehrdeutigkeit nicht mit Zentrale übersetzt werden. „Der Reaktor“ klingt viel technischer, eindimensionaler. Im Mittelpunkt des Romans stehen die Arbeitsbedingungen des Atom-Prekariats, die detailliert und überraschend lakonisch geschildert werden. Ausschließlich Männer, junge Männer in Zeitarbeit, warten die Reaktoren im Schichtdienst und bestücken sie mit neuem Brennstoff. Die EDF (Electricité de France) hat diese Tätigkeit „outgesourct“ und hält sich fein raus. Die Wanderarbeiter, moderne Nomaden, leben in Wohnwagen auf Campingplätzen. Selbstironisch bezeichnen sie sich selbst als „Neutronenfutter“. Ihre Arbeitsbedingungen sind mehr als stressig. In den letzten fünfzehn Jahren wurde die Dauer der Revision halbiert… Ihr größtes Problem: unter keinen Umständen die maximal erlaubte Strahlendosis von zwanzig Millisievert im Zeitraum von zwölf Monaten überschreiten. Yann, der Hauptfigur des Romans, ist dies nicht gelungen, weil er ein Metallscheibchen berührt hat. Nun ist er „freigesetzt“, ohne Entschädigungszahlung. Das Dosimeter, das ihn schützen soll, ist sein „Feind“ geworden. Trotz ihrer Arbeitsbedingungen sind die jungen Männer von der Atomtechnologie fasziniert.  Das leuchtende Blau des Abklingbeckens wird lyrisch beschrieben, fast als blaue Blume der Kernenergie. Alle wissen sie um die Risiken der Atomenergie, aber für ein Leben ohne sie scheint ihre Vorstellungskraft nicht auszureichen.
Der Erfolg des Romans überrascht. (ax)<<